Γραικύλος schrieb am 17.05.2020 um 14:44 Uhr (Zitieren)
Anekdoten genießen unter heutigen Historikern kein hohes Ansehen. Zwar erzählen antike Historiker sie gerne, aber oft stehen sie unter dem Verdacht, erfunden zu sein, und bestenfalls geben sie Geschichten wieder, die sich das Volk auf der Grundlage von Gerüchten erzählte.
Bei Zvi Yavetz („Tiberius – Der traurige Kaiser“. München 1999, S. 103) lese ich einen anderen Standpunkt:
Yavetz bezieht dies auf die in Rom umlaufenden Anekdoten über die Arroganz der Gens Claudia.
Manchmal sind solche Anekdoten literarisch unterhaltsam und – vielleicht – schön erfunden. Aber welchen historischen Wert haben sie? Wenn aus der Zeit des Tiberius der Kampfruf „Tiberius in Tiberim!“ überliefert ist, besagt das mehr als „Brandt an die Wand!“ in den frühen 70ern des vergangenen Jahrhunderts oder als „Merkel muß weg!“ in der Gegenwart? Sowas wird geäußert, ja, aber von wem und aus welchen Motiven? Kann man da wirklich behaupten: „Jeder bekommt schließlich die Anekdoten, die er verdient hat“?
Das würde bedeuten, daß „das Volk“ (wer aus dem Volk?), das solche Sprüche prägt, oder der Berichtende, der sie erfindet, stets mit einem feinen Sinn für Verdienst urteilen, statt aus einem, oft bis zu Verschwörungsannahmen reichenden, Haß gegenüber einem politischen Gegner.