Eine skeptische Einsicht von Herodot (1125 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 21.10.2009 um 13:14 Uhr (Zitieren)
[quote][...] Gleichzeitig setzt sich Herodot das ehrgeizigste aller Ziele: die Geschichte der Welt aufzuzeichnen. Das hat keiner vor ihm versucht. Er ist als erster auf diese Idee gekommen. Während er ständig Material für sein Werk zusammenträgt und Zeugen, Barden und Priester befragt, wird er mit dem Problem konfrontiert, daß jeder von ihnen etwas anderer erinnert, etwas anderes und auf andere Weise. Dazu entdeckt er viele Jahrhunderte vor uns ein wichtiges, doch perfides und trügerisches Merkmal des Gedächtnisses – die Menschen erinnern sich an das, woran sie sich erinnern wollen, und nicht an das, was tatsächlich geschehen ist. Denn jeder färbt die Wirklichkeit nach eigenem Gutdünken, jeder bereitet daraus in seinem Tiegel eine eigene Mixtur. Daher ist es unmöglich, zur Vergangenheit als solcher, wie sie wirklich war, vorzudringen; uns sind nur verschiedene Varianten zugänglich, mehr oder weniger glaubwürdige, die uns heute mehr oder weniger ansprechen. Die Vergangenheit als solche existiert nicht. Es gibt nur zahllose Versionen davon.
[...]
Herodot ist in ein unauflösbares Dilemma verstrickt: Auf der einen Seite widmet er sein ganzes Leben dem Bemühen, die historische Wahrheit zu ergründen, damit die von Menschen vollbrachten Taten nicht mit der Zeit in Vergessenheit geraten, auf der anderen Seite stellt in seinen Nachforschungen nicht die tatsächliche Geschichte die wichtigste Quelle dar, sondern die Geschichte, wie sie von anderen erzählt wird, wie sie ihnen erschien, eine selektiv erinnerte und später mit Absicht so dargestellte Geschichte. Kurz, dies ist keine objektive Geschichte, sondern eine, wie unsere Gesprächspartner sie haben wollen. Dieser subjektive Faktor und seine deformierende Wirkung sind nicht zu vermeiden. Unser Grieche ist sich dessen bewußt, und daher macht er immer wieder Einschränkungen: „Wie sie mir sagen“, „Wie sie behaupten“, „das stellen sie unterschiedlich dar“ und so weiter. Aus diesem Grund haben wir es nie mit der wirklichen Geschichte im idealen Sinn zu tun, sondern stets mit einer, die erzählt, die dargestellt wird, die so war, wie jemand sagt oder wie jemand glaubt, daß sie gewesen ist. Diese Wahrheit ist vielleicht die schönste Entdeckung Herodots. [Quelle: Ryszard Kapuściński, Meine Reisen mit Herodot. Frankfurt/Main 2005, S. 339 f.; 352 f.]
Re: Eine skeptische Einsicht von Herodot
Γραικίσκος schrieb am 21.10.2009 um 13:22 Uhr (Zitieren)
Als Ergänzung dazu:
Re: Eine skeptische Einsicht von Herodot
Γραικίσκος schrieb am 21.10.2009 um 13:27 Uhr (Zitieren)
Auf diesen Autoren und dieses Buch
möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal hinweisen.
Re: Eine skeptische Einsicht von Herodot
Γραικίσκος schrieb am 21.10.2009 um 14:35 Uhr (Zitieren)
Es ist natürlich nicht nur für Richter, sondern auch für Historiker enorm wichtig, sich nicht in naiver Weise auf Augenzeugen zu verlassen.
(Ich habe mal eine Dokumentation über die Schlacht von Prochorowka - im Rahmen des 'Unternehmens Zitadelle' - gesehen, bei der alle Augenzeugen behaupteten, es sei ein sehr heißer und trockener Tag gewesen, während die Armeetagebücher beider Seiten ganz eindeutig 'kühles und regnerisches Wetter' notierten. Offenbar hatten die Teilnehmer die Hitze der Schlacht mit dem Wetter als solchem vermischt.)
Re: Eine skeptische Einsicht von Herodot
ανδρέας schrieb am 21.10.2009 um 19:32 Uhr (Zitieren)
Vor einigen Jahren war ich Zeuge in einem Prozess wegen Landfriedenbruch usw. . Ca. ein Dutzend junge (Kurden) Leute hatten um 20:15 Uhr eine belebte Straße gesperrt, Reifen aufgehäuft und angesteckt - großes Chaos. Anschließend liefen sie weg. Ich beobachtete, wie einer zur Sparkasse lief und sich im Vorraum bei den Bankautomaten kurz aufhielt (genau dahin wollte meine Frau und ich, um Geld zu holen). Wir gingen hinein, als der jungen Man sich unauffällig wieder davonstehlen wollte. Ich hielt die Uhrzeit fest und wußte, dass der Mann exakt zu diesem Zeitpunkt allein in dem KAMERAÜBERWACHTEN Raum war. Nur so konnte er nach fast 2 Jahren - so lange dauerte es bis zum Prozeßbeginn- überführt werden. Wir hatten uns bei der Politzei gemeldet, die ca. 10 min. nach dem Vorfall eingetroffen war. Zahlreiche Menschen schilderten aufgeregt, was passiert war. Der Polizist war völlig überfordert, weil alle durcheinanderredeten. Meine Frau und ich warteten das Gewimmel ab und sagten dem genervten Poliziten nur einen klaren Satz (sinngemäß): einer der Täter war definitiv um 20:29 Uhr allein in der Sparkasse, die hat eine Kamera. Sein Lächeln war sehr breit. Leider dauerte es Wochen, bis die Filme freigegeben werden durften ....
Fraglich ist, ob bei solchen Zeitabständen (2 Jahre!)überhaupt noch eine Zeugenaussage brauchbar ist.
Re: Eine skeptische Einsicht von Herodot
Γραικίσκος schrieb am 21.10.2009 um 19:42 Uhr (Zitieren)
Aussage plus Kameraaufnahme - das ist natürlich zeugenmäßig optimal. (Das hätte Herodot sicher auch gerne gehabt. Was gäben wir für echte Filmaufnahmen aus der Antike!)
Re: Eine skeptische Einsicht von Herodot
ανδρέας schrieb am 21.10.2009 um 19:51 Uhr (Zitieren)
Auch Herodot hätte seinem Kameramann Anweisungen zur Szene gegeben und anschließend das Material geschnitten - ob da alles drauf gewesen wäre. Die letzten Worte Cäsars oder Jesu am Kreuz oder das Himmelszeichen des Konstantin ... toll. Da wären manche sicher überrascht oder enttäuscht!