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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Der Lemnische Frevel (908 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 09.02.2021 um 18:50 Uhr (Zitieren)
Im Bericht des Apollonios von Rhodos (Argonautika I 605-638):
[...] Als sich aber mit den <letzten> Strahlen der Sonne auch der Wind legte, gelangten sie [sc. die Argonauten] rudernd zur felsigen Insel der Sintier.

Dort war im vergangenen Jahr die gesamt <männliche> Bevölkerung auf einen Schlag durch das Verbrechen der Frauen [ὑπερβασίῃσι γυναικῶν] grausam ausgerottet worden. Denn die Männer hatten ihre rechtmäßigen Frauen voller Haß verschmäht und ein heftiges Verlangen nach den erbeuteten Mädchen entwickelt, die sie nach einem Überfall auf das gegenüberliegende Thrakien verschleppt hatten: <Die Frauen> hatte nämlich der furchtbare Zorn der Kypris verfolgt, weil sie sie lange nicht mehr mit Opfer geehrt hatten.

Ach, diese Unseligen und in ihrer elenden Eifersucht Unersättlichen [ἐπισμυγερῶς ἀκόρητοι]! Denn sie erschlugen nicht nur ihre eigenen Gatten samt deren Geliebten im Bett, sondern zugleich alles Männliche, damit sie später nicht irgendeine Vergeltung für diesen schrecklichen Mord träfe.

Als einzige von allen Frauen hatte Hypsipyle ihren alten Vater Thoas verschont, der dort über das Volk herrschte: In einer hohlen Kiste hatte sie ihn zur Fahrt über das Meer ausgesetzt, ob er vielleicht entkäme. Den hatten Fischer ans Ufer der Insel Oinoia gezogen – so hieß sie früher, später aber wurde sie Sikinos genannt, nach Sikinos, den die Quellnymphe Oinoia nach ihrer Verbindung mit Thoas geboren hatte.

Allen <lemnischen> Frauen aber fielen das Hüten von Rindern, das Anlegen eherner Waffen und das Pflügen weizentragender Felder leichter als die Werke Athenes, denen sie sich früher immer gewidmet hatten. Freilich ließen sie dennoch unablässig ihre Blicke über das weite Meer schweifen, in schrecklicher Furcht, die Thraker könnten irgendwann kommen.

Als sie daher die Argo sahen, die in die Nähe der Insel gerudert wurde, strömten sie sogleich in aller Eile aus den Toren Myrines zum Strand und legten ihre Kriegswaffen an – sie glichen fleischfressenden Thyiaden [Θυιάσιν ὠμοβόροις] *) –, denn sie meinten wohl, die Thraker kämen. Zusammen mit ihnen rüstete sich auch Hypsipyle, die Tochter des Thoas, und legte die Waffen ihres Vaters an. Sie wurden von Ratlosigkeit befallen und waren sprachlos: Solche Furcht lastete auf ihnen.
[...]

(Apollonios von Rhodos: Das Argonautenepos. Hrsg. v. Reinhold Glei und Stephanie Natzel-Glei. 2 Bde., Darmstadt 1996; Bd. 1, S. 34-37)

*) Bacchantinnen (warum fleischfressend, ist unerklärlich)
Re: Der Lemnische Frevel
filix schrieb am 10.02.2021 um 01:19 Uhr (Zitieren)
*) Bacchantinnen (warum fleischfressend, ist unerklärlich)


Dionysos führte offenbar den Beinamen „Roh-Esser“ (ὠμηστής oder ὠμάδιος), woraus Rückschlüsse auf sein Gefolge und die Kultpraxis gezogen wurden. In den Bakchen 135 ff.heißt es jedenfalls:

Wonnen bringt er im Waldgebirg,
wenn er nach stürmischem Reigen
zu Boden sinkt, bedeckt mit dem heiligen Hirschkalbfell,
voller Durst nach dem Blut des getöteten Bockes,
voll Gier, sich zu laben an rohem Fleisch
auf der Jagd durch phrygische, lydische Berge,
er, unser Führer, der lärmende Gott, Euhoi!
Re: Der Lemnische Frevel
Marcella schrieb am 10.02.2021 um 08:56 Uhr (Zitieren)
Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche" , Stuttgart 1977, S 255 ff. bietet einiges zu den dunklen und zerstörerischen Aspekten der Riten um Dionysos: "Dionysos hieß auf Tenedos sogar Menschenzerschmetterer´ Anthroporraistes´, in Lesbos ist er der ´Rohesser´; der Mythos schrecht auch vor Kannibalismus nicht zurück." S. 256.
In der Regel geht es demnach um Frauen, die ausbrechen und zu rasenden Mänaden mutieren oder aber, wie die braven Töhter des Minyas, kunstvoll sanktioniert werden, wenn sie es nicht tun.
Hat Nietzsche ausreichend über dieses Phänomen nachgedacht, wenn er Dionysos sein wollte?
Re: Der Lemnische Frevel
Γραικύλος schrieb am 10.02.2021 um 14:25 Uhr (Zitieren)
Hat Nietzsche ausreichend über dieses Phänomen nachgedacht, wenn er Dionysos sein wollte?

Ob er ausreichend darüber nachgedacht hat, ist schwer zu sagen, aber jemand, der sich in seinem nicht sehr langen Leben 80 Aufführungen von "Carmen" angeschaut hat (hin und weg war er davon), dürfte sich schon bewußt gewesen sein, daß Frauen bedrohlich werden können.
Nietzsches Sexualität ist ein Thema für sich; die dominante, gefährliche Frau gehörte wohl dazu.
Re: Der Lemnische Frevel
Marcella schrieb am 10.02.2021 um 15:31 Uhr (Zitieren)
Die eindrückliche Sage von den Frauen von Lemnos scheint selbst in China Widerhall gefunden zu haben:
"Für chinesische Autoren des 7. nachchristlichen jahrhunderts bretete sich das Reich der Amazonen im Südwesten von Byzanz aus. Der Chinese Hüan-Tsang bereichert die Sage um eine Variante, die wie ein Motiv seiner eigenen Reisen klingt. Dee Amazonen erweisen sich nicht nur als kriegerisch und männerlos, sonderns auch als Besitzerinnen begehrter Kleinodien. ´Auf einer Insel im Südwesten des köbigsreiches Folin (=Byzanz) findet sich das Reich der Frauen des Westens. Man sieht dort nur Frauen und keinen einzigen Mannn. Dieses Land weist eine große Menge von seltenen und kostbaren Gegegnständen auf, die man im Königreich Folin verkauft. Daher sendet ihnen der König non Folin alljährlich Männer, um sich mit ihnen zu begatten. Wenn sie dann aber Knaben das Leben geben, gestattet ihnen das Gesetz des Landes nicht,sie aufzuziehen.´"
Zit. nach "Starke Frauen", Katalog Staatl.Antikensammlungen München o.J., S. 348
Korrektur: Lemnos liegt in der Nordägäis.
Re: Der Lemnische Frevel
Marcella schrieb am 10.02.2021 um 15:47 Uhr (Zitieren)
Nietzsche..."dürfte sich schon bewußt gewesen sein, daß Frauen bedrohlich werden können."

@Γραικύλος : Das wusste ich nicht, 80-mal "Carmen"?!! Diese außergewöhliche Durchhaltekraft erklärt sich vielleicht wirklich auch daraus, dass Nietzsche gehörig was aufzuarbeiten hatte - natürlich das mit der Lou Salome. Er musste die Figur dämonisieren.Ich zitiere aus einem Brief an die "Geliebte Schwester", 15.11.1885:

Daß mir Malwida ein solches Wesen wie Lou als Jüngerin empfehlen konnte, ist und bleibt unbegreiflich und unverzeihlich. Aber schließlich hatte ich mir aus dieser "Jüngerin" mit ihren üblen, widerlichen Eigenschaften gewissermaßen ein "anatomisches Präparat" zu meinem persönlichen Studium zurecht gemacht, das mir viel nützte, gerade weil diese diese Eigenschaften meiner Natur so fremd sind."
So präpariert man Sexualangst weg! Hat´s geholfen?
Re: Der Lemnische Frevel
Γραικύλος schrieb am 10.02.2021 um 18:21 Uhr (Zitieren)
Ein Freund fragt mich, woher ich das habe mit den 80 Opernbesuchen von "Carmen". Nun, da muß ich nachschauen; es stand in irgendeiner Biographie und geht vermutlich auf eine Äußerung von Nietzsche selbst zurück. Wer sonst sollte sie gezählt haben?

Kennst Du den Roman "Und Nietzsche weinte" des Psychotherapeuten Irvin D. Yalom (auch schon verfilmt)?
Der Plot: Lou Andreas-Salomé empfiehlt ihrem Freund Nietzsche eine Therapie bei dem Wiener Arzt Josef Breuer, dem Lehrer Sigmund Freuds.
Mit ein bißchen Manipulation bewegt sie sowohl Nietzsche als auch Breuer, sich darauf einzulassen.
Damit beginnt eine psychologische Gigantomachie, bei der man nicht mehr recht weiß, wer eigentlich wen therapiert. So wie Breuer Nietzsches Schwachpunkte aufdeckt, so dieser diejenigen Breuers. Am Ende ist es Breuer, der sein Leben zu ändern versucht ... und den Versuch abbricht.
Nietzsche aber geht (so der Schlußsatz:) "einem Stelldichein entgegen - einem ehrbaren Stelldichein mit einem parsischen Propheten namens Zarathrustra."
Re: Der Lemnische Frevel
Γραικύλος schrieb am 10.02.2021 um 18:34 Uhr (Zitieren)
Es hat den Anschein, daß meiner Erinnerung etwas zu hoch multipliziert hat.

Werner Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben. Stuttgart 1980

- S. 595: Nietzsche sieht "Carmen" erstmals in Genua ... und gleich nochmals.
- S. 738 f.: "'Carmen' freilich hat er, wenn man ihm glauben darf, zwanzigmal besucht." Dort steht auch, was ihn an "Carmen" faszinierte. Die Quelle soll ein Brief vom Dezember 1887 sein, den ich noch nachschauen muß. Mit dem damals so unendlich populären Verdi konnte Nietzsche nichts anfangen.
Ross zitiert aus besagtem Brief:
Das afrikanische Glück, die fatalistische Heiterkeit, mit einem Auge, das verführerisch, tief und entsetzlich blickt; die laszive Schwermut des maurischen Tanzes; die Leidenschaft blinkend, scharf und plötzlich wie ein Dolch; und Gerüche aus dem gelben Nachmittage des Meeres heranschwimmend, bei denen das Herz erschrickt, wie als ob es sich an vergessene Inseln erinnerte, wo es einst weilte, wo es ewig hätte weilen sollen ...

Die Epitheta der Gefahr sind unübersehbar.

Nun suche ich nach dem Brief selbst.
Re: Der Lemnische Frevel
Γραικύλος schrieb am 10.02.2021 um 18:50 Uhr (Zitieren)
Das wird schwierig. In Nietzsches Briefen vom Dezember 1887 steht dergleichen nicht ... an anderer Stelle manches über "Carmen", und manches überraschend.
Ich muß noch weiter in anderen Biographien suchen. Das dauert.
Re: Der Lemnische Frevel
filix schrieb am 10.02.2021 um 19:39 Uhr (Zitieren)
Zwanzig Mal Carmen, um sich von zwei (?) Mal Parsifal zu kurieren ... das scheint mir ein Fall von unverhältnismäßiger Selbstmedikation.

Die zitierten Ausführungen zu antideutschen Kostbarkeiten des ästhetischen Genusses stammen aus dem Nachlass (KGW VIII/2: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885-1887 11[49], S. 266)
Re: Der Lemnische Frevel
Marcella schrieb am 10.02.2021 um 20:02 Uhr (Zitieren)
filix findet aber auch die entlegensten Zitate.

Parsifal: Das muss aber auch eine ungesunde Musik sein. Thomas Mann spricht von "frommer Verderbtheit" des Parsifal. Da braucht es ein Gegengift,um sich davon zu kurieren.

Und den "Tristan" findet Wagnerdirigent Thielemann lt. SZ-Magazin-Interview direkt "lebensgefährlich" und hat sich wegen der Bedrohlichkeit vom Pult gemacht. Es seien schon zwei Dirigenten an der Aufführung verstorben.
Re: Der Lemnische Frevel
Marcella schrieb am 10.02.2021 um 20:06 Uhr (Zitieren)
Zu Yalom, Und Nietzsche weinte: Danke für den Tipp, aber 464 Seiten mit schrägen Personen in de Psychoanalyse - das tue ich mir in diesen sowieso düster grundierten Zeiten nicht an.
Re: Der Lemnische Frevel
Γραικύλος schrieb am 10.02.2021 um 23:58 Uhr (Zitieren)
Der Fall Wagner: "Ich hörte gestern - werden Sie es glauben? - zum zwanzigsten Male Bizets Meisterstück [...]"
1. Sämtliche Werke - Kritische Studienausgabe, Bd. 6, Zf. 1 (S. 13)
2. Dort ist überhaupt viel von Bizet die Rede, und auch die oben gemäß Ross zitierte Aussage steht dort.
3. An der von filix genannten Nachlaß-Stelle 11 [49] ist zwar von Bizet die Rede, aber das filix-Zitat finde ich dort nicht.

Das wird mir jetzt zu kompliziert. Aber wir dürfen davon ausgehen, daß Nietzsche die Oper nach eigenem Bekunden 20mal gesehen hat.
Re: Der Lemnische Frevel
filix schrieb am 11.02.2021 um 01:21 Uhr (Zitieren)
Ein Missverständnis, ich dachte, du wolltest wissen, woher das von Ross Zitierte stammt, darauf bezieht sich die Angabe KGW ...
Re: Der Lemnische Frevel
Γραικύλος schrieb am 11.02.2021 um 11:04 Uhr (Zitieren)
Dann haben wir das geklärt: das Ross-Zitat und die Stelle, an der Nietzsche angibt, wie oft er eine Carmen-Aufführung besucht hat. Und daß mein Gedächtnis nicht das zuverlässigste ist.
Re: Der Lemnische Frevel
Marcella schrieb am 12.02.2021 um 11:28 Uhr (Zitieren)
Auch eine Frauensprache? Das Lemnische:
https://en.wikipedia.org/wiki/Lemnian_language
Re: Der Lemnische Frevel
Γραικύλος schrieb am 12.02.2021 um 13:59 Uhr (Zitieren)
Ah, eng verwandt mit dem Etruskischen.

Übrigens im Englischen:
a lemnian deed: the cruel slaughter of someone as revenge
 
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