Meinst Du, für einen Menschen persönlich oder für einen größeren Kontext von Gesellschaft, Kunst, Politik etc.?
In jedem Fall bietet die christliche Religion noch ein paar Dinge mehr.
Der Mensch wird bspw. herausgenommen aus dem Leistungsdenken. Er wird neben alle anderen gestellt und gleichzeitig ernst genommen.
Über die Frage nach dem Tod hinaus, hat er - NICHT, weil er "vor Gott bestehen muss" - ethische Grundsätze für das Jetzt, weil das Reich Gottes eben nicht auf danach verschoben, sondern bereits angebrochen ist.
Bevor wir uns aber weiter unterhalten sollten, bitte ich darum, wirklich von christlichen Glaubensinhalten zu sprechen und nicht von Auswüchsen in der Geschichte. Auch ich weiß, dass viele Kriege im Namen Christi geführt worden sind und (der späte) Luther ein großer Judenfeind war. Ich kenne Legenden und Wahres zur "Kriminalgeschichte des Christentums".
Wir unterhalten uns nämlich, wenn wir (in letzter Zeit häufiger) über Nietzsche sprechen, auch nicht über die Missbräuche des Übermenschen im 3. Reich.

Christliche Ethik ist Liebesethik - so oder so.

nicht von Auswüchsen in der Geschichte

Nein, davon spreche ich überhaupt nicht, sondern ausschließlich von meinen Eindrücken bei der Lektüre der Evangelien, bei welcher ich mich natürlich frage: Worum geht es hier eigentlich?
Die christliche Liebesethik kenne ich natürlich auch von dieser Lektüre - aber sie erscheint mir, z.B. in der Bergpredigt, durchsetzt vom Gedanken der Sünde. Und diesen Gedanken verstehe ich ebensowenig wie Odysseus und Diomedes ihn in Dantes "Divina Commedia" verstehen: Sie begreifen nicht, warum sie in der Hölle sind.

Ich habe die Commedia vor mir liegen, 26. Gesang, Hölle, oder? Kommt da so eindeutig heraus, dass sie es nicht verstehen?
In jedem Fall eine wichtige Frage: Wir hatten diese Diskussion schon mal, Γραικίσκε. Schuld scheint ein altes Thema zu sein, dem man sich eigentlich nur nähern kann, wenn man von einer richtenden, nicht-staatlichen Instanz ausgeht, welche Regeln erstellt, denen man als Person wiederum unterworfen ist. Wenn ein Attribut Gottes seine richterliche Funktion einschließt, hat man das. Ist man Atheist, natürlich nicht.
Meine Überzeugung ist aber folgende: Verstößt man über längere Zeit gegen Regeln, die man sich zumindest selbst gesetzt hat - die eigenen Maxime etc. -, wird man nicht mehr gut mit sich selbst zurecht kommen. Kennst Du den Film "Fluch der Karibik"? Da gibt es eine Szene, in der Jack Sparrow mit Cpt. Teague spricht.

Capt. Jack Sparrow: Was? Du hast alles gesehen, alles erlebt, du hast überlebt... das ist der Trick, oder nicht... zu überleben?
Capt. Teague: Es geht nicht nur darum, ewig zu leben, Jackie. Der Trick ist, ewig mit sich selbst Leben zu können...

Wenn man das nicht mehr kann, nenne ich es Schuld. Also nicht nur eine duale Richter-Angeklagter-Situation, sondern auch anthropologischer Bytecode.

Passenderweise wird der uralte Teague von Keith Richards gespielt...

Das

Verstößt man über längere Zeit gegen Regeln, die man sich zumindest selbst gesetzt hat - die eigenen Maxime etc. -, wird man nicht mehr gut mit sich selbst zurecht kommen.

verstehe ich sehr gut! Darin bin ich völlig einer Meinung mit Dir. Mögen wir uns auch darin unterscheiden, ob diese Maximen etwas mit Gott zu tun haben oder nicht.

Die Regeln sicher nicht, das stimmt, nur die Frage, wer einem vergeben kann.
Sich selbst um Entschuldigung bitten? Das ist eine Frage, die mich beschäftigt. Geht das? Aber vielleicht ist das Griechischforum aus mehreren Gründen kein guter "Ort", um darüber zu diskutieren. Ich merke, dass wir manchmal von sehr persönlichen Dingen sprechen.
Eins passt vielleicht trotzdem: Bei griechischen Grabinschriften kommen doch - wir hatten das Thema Pessimismus - sehr oft Sätze vor, die mich an Schopenhauer erinnert haben. Sinngemäß etwa: Wir kommen aus dem Nichts und wir gehen ins Nichts. Wenn du wissen willst, wie es nach dem Tod ist, frag dich, wie es vor deiner Geburt war.

Aus Fehlern lernen und die Opfer aufrichtig um Entschuldigung bitten, reicht das nicht?

Manchmal ist es nur ziemlich schwer zu sagen, man könne aus Fehlern lernen. Wenn die eigene Kraft zu Ende ist z.B. - Dann wird man jemanden außerhalb von sich selbst brauchen. Andere um Entschuldigung, ja. Sich selbst vergeben bleibt ein Zitat aus psychologischen Sachbüchern.

Andere um Entschuldigung... bitten.

Sich selbst vergeben bleibt ein Zitat aus psychologischen Sachbüchern.

Das sehe auch ich so.
Wenn die eigene Kraft zuende ist - irgendwann wird sie es sein -, dann brauchen wir Hilfe anderer Menschen.

Schon oft habe ich mich gefragt, welche Sorte von Philosoph 1. Nietzsche ist [ich denke: eine Stechfliege], 2. ich selber bin.

Langsam wird es offenkundig.;)

Ich habe die Commedia vor mir liegen, 26. Gesang, Hölle, oder? Kommt da so eindeutig heraus, dass sie es nicht verstehen?

Meiner Erinnerung nach: Alle Insassen der Hölle reden zu Dante über ihre Sünden. Nur Odysseus und Diomedes erzählen ihm von ihren ... Abenteuern.
Da habe ich mir gedacht: Die Jungs kapieren gar nicht, warum sie an diesem Ort sind.

Ich kann leider kein italienisch, deshalb hier die Übersetzung von Hermann Gmelin:

'O Brüder', sprach ich, 'die durch hundertausend
....Gefahren hier im Westen angekommen,
....An diesem eurem kurzen Lebensabend,
Der unsern wachen Sinnen noch verblieben,
....Sollt ihr euch der Erforschung nicht verschließen,
....Der Sonne folgend, unbewohnter Länder.
Bedenkt, aus welchem Samen ihr gekommen.
....Ihr seid nicht da, zu leben wie die Tiere,
....Ihr sollt nach Tugend und nach Wissen streben'.
[...]
'Da ist vor uns ein Berg emporgestiegen
....In dunkler Ferne; der schien so gewaltig,
....Wie ich es nie zuvor gesehen hatte.
Wir freuten uns, doch ward es bald zum Unheil,
....Denn von dem neuen Lande kam ein Strudel
....Und schüttelte des Schiffes Vorderseite.
Dreimal ließ er's mit allen Wassern kreisen,
....Beim vierten Male ging das Heck nach oben,
....Der Bug nach unten, wie's dem Herrn gefallen,
Bis über uns die Wogen sich geschlossen'.

Vorher erzählt Odysseus von seinen Abenteuern, aber er scheint wirklich nicht zu wissen, was los ist. Auffällig ist die Aufforderung an seine Gefährten, nach Wissen zu streben. Was hat das mit dem Zusammenstoß mit dem Läuterungsberg oder seiner "Höllenfahrt" zu tun? Er ist immerhin im 8. Graben des 8. Kreises, kurz vor Judas...

Der Kerngedanke der christlichen Religion ist die Nächstenliebe. Die könnte man auch als Atheist ersnt nehmen (oder als Agnostiker) und nüchtern feststellen, dass dieser Grundsatz funktional gesehen eine gute Wirkung hat. Insofern löst die christl. Religion - inhaltlich richtig verstanden und beherzigt - zumindest irdische Probleme. Falls danach nichts kommt, hat man nicht mehr verloren als jemand , der ohnehin nichts erwartet hat. Man kann sich nicht einmal mehr ärgern oder beschweren. (ist ein wenig wie Pascals Wette, aber mit Höllenqualen kann man heutzutage zum Glück nur noch wenige erschrecken - das war früher übrigens bei nicht wenigen schon so).

Ein Radiopfarrer (Ihr kennt die sicher, die sagen vor den Sechsuhrnachrichten immer Besinnliches) hat einmal eine Woche lang über die Todsünden gesprochen. Seine Deutung war: Bei den Todsünden versündigt man sich am Leben, d.h. man schadet sich selbst mit Völlerei etc.
Auch das ist ein guter Ansatz für Atheisten und Agnostiker.