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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Antike Weißheit (449 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 26.08.2021 um 12:56 Uhr (Zitieren)
An der Universitätz Cambridge werden im archäologischen Museum der Fakultät für das klassische Altertum demnächst Schilder angebracht, um zu erklären, dass die "Weißheit" der Sammlung von Gispabgüssen antiker Skulpturen einen falschen Eindruck vermittle von der mangelnden Vielfalt der griechischen und römischen Welt.

Die Initiative ist Teil einer Anti-Rassismus-Strategie, welche die Fakultät in Antwort auf einen offiziellen Beschwerdebrief über den systemischen Rassismus in dem Fach ergreift. Das Studium griechischer und lateinischer Texte habe seit der Renaissance eine privilegierte Stellung in der europäischen Eliteausbildung genossen, heißt es in einer Erklärung der Fakultät.

Die Idealisierung Griechenlands und Roms und die Verankerung dieser Idealisierung in der Ausbildung habe entscheidend zur Entwicklung des modernen westlichen Rassismus geführt. Die Diskriminierungen und Mikroaggressionen, von denen Farbige in der Hochschulausbildung berichten, seien ein klarer Beweis für die tiefe und nachhaltige Wirkung dieses Rassismus, den es zu bekämpfen gelte.

(FAZ vom 26.8.2021, Feuilleton)

Die Moralisierung der Forschung ...
Re: Antike Weißheit
Bukolos schrieb am 26.08.2021 um 13:37 Uhr (Zitieren)
Wenn eine Moral durch eine andere ersetzt wird, ist das noch keine Moralisierung.
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 26.08.2021 um 14:00 Uhr (Zitieren)
Von einer Moralisierung #1 könnte ja nur die Rede sein, wenn das, was in diesem Artikel über die klassische klassische Altertumswissenschaft gesagt wird, wahr wäre: sie habe "entscheidend zur Entwicklung des modernen westlichen Rassismus geführt" und Berichte über "Diskriminierungen und Mikroaggressionen ... seien ein klarer Beweis für die tiefe und nachhaltige Wirkung dieses Rassismus".

Da habe zumindest ich andere Vorstellungen von 'entscheidender Ursache' und 'klarem Beweis'.
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 26.08.2021 um 14:11 Uhr (Zitieren)
Selbst die "Idealisierung Griechenlands und Roms" habe ich in meinem Studium nicht mehr kennengelernt. Im 19. Jahrhundert mag sie häufiger vorgekommen sein, und wenn man will, kann man das als Moral bezeichnen - aber den behaupteten "entscheidenden" Zusammenhang mit dem Rassismus sehe ich nicht. Wären ohne sie Gobineau, H. St. Chamberlain und Hitler keine Rassisten geworden?
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 26.08.2021 um 16:39 Uhr (Zitieren)
Wo sich die Europäer anderen Kulturen überlegen gefühlt haben, da haben sie dies getan:
- durch ihre (christliche!) Religion,
- ihre Technik und
- (seit Darwins Rassismus, den es ja gibt) als Erfolgsprodukte einer biologischen Auslese.

Aber doch nicht wegen Homer und Sophokles! Kann man auf der Basis von Sophokles überhaupt Rassist sein?
Re: Antike Weißheit
Bukolos schrieb am 26.08.2021 um 23:32 Uhr (Zitieren)
Der infrage stehende Konnex zwischen Rassismus und Classical Studies kann ja in zwei Richtungen wirkend gesehen werden: zum einen in Form einer Ideengeschichte, die auf eine Denktradition zurückgreifen kann, deren Ursprünge sich in die griechisch-römische Antike zurückverfolgen lassen (Benjamin Isaac hat mit The Invention of Racism in Classical Antiquity eine inzwischen selbst fast klassische Studie dazu vorgelegt*), zum anderen in der Form einer Rückprojektion, die neuzeitliche, rassistische Vorstellungen in das Bild von Griechen und Römern hineinträgt, das sich das 19. und 20. Jahrhundert gemacht haben (hierzu z. B. Johann Chapoutot, Der Nationalsozialismus und die Antike, v. a. das Kap. "Zwischen Ostsee und Mittelmeer: Rassenkunde der Griechen und Römer"). Isaacs Belege aus Herodot, Aristoteles, Platon, Cicero usw. können gerne nachgeliefert werden.
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 26.08.2021 um 23:49 Uhr (Zitieren)
Oja, an Isaacs Belegstellen (die Fundstellen reichen mir in der Regel) für Rassismus in der Antike bin ich interessiert.

Allerdings bin ich ab morgen für ein paar Tage weg.

Bisher ist mir nur die griechische Herablassung gegenüber "Barbaren" eingefallen, die sich aber (1) gegen alles Nicht-Griechische richtete und (2) primär auf die Sprache bezog, also nicht eigentlich rassistisch war.
So denke ich bis jetzt.

Was die Rückprojektion zur Zeit des Nationalsozialismus angeht (bis hin zum "blonden Jesus"), so bin ich davon ausgegangen, daß sie nicht von der Altertumswissenschaft, sondern von kruden Ideologen à la Rosenberg getragen wurde.

Ich lerne gerne dazu.

Es war seinerzeit auch eine Entdeckung für mich, wie rassistisch, wie sozialdarwinistisch Charles Darwin war. Allerdings finde ich weder bei ihm noch bei dem großen Ideologen des britischen Imperialismus, Joseph Chamberlain, einen Bezug auf die Antike.

Ich bin gespannt.

Re: Antike Weißheit
Aurora schrieb am 27.08.2021 um 09:02 Uhr (Zitieren)
Vlt. solltest du eher bei dessen Namensvetter, dem
Rassentheoretiker Houston Stewart Chamberlain, suchen.
(The Foundations of the Nineteenth Century)
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 27.08.2021 um 09:17 Uhr (Zitieren)
Den habe ich weiter oben erwähnt:

Wären ohne sie [sc. die Idealisierung Griechenlands und Roms] Gobineau, H. St. Chamberlain und Hitler keine Rassisten geworden?
Re: Antike Weißheit
Johannes schrieb am 27.08.2021 um 13:42 Uhr (Zitieren)
Idealsierung führt gewöhnlich zur Höherbewertung
des einen und Abwertung des anderen.
Der Weg von der Abwertung einer Kultur zur Abwertung
und Verachtung deren Vertreter ist kurz.
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 29.08.2021 um 21:11 Uhr (Zitieren)
Gewiß fühlten sich "die" Griechen den Barbaren kulturell überlegen (vielleicht mit Ausnahme der Ägypter). Diese Einstellung ist ja auch andernorts, z.B. in China, traditionell.
Wird die Antike dadurch schon zum entscheidenden Faktor für den späteren europäischen Rassismus? Wobei Rassismus ja auch eine spezielle Bedeutung hat, nämlich eine biologische.

Ich bin gespannt auf die Quellenangaben, die Bukolos hoffentlich noch nachreicht.
Re: Antike Weißheit
Aurora schrieb am 30.08.2021 um 08:26 Uhr (Zitieren)
Wird die Antike dadurch schon zum entscheidenden Faktor für den späteren europäischen Rassismus?

Der entscheidende wohl nicht, aber ein verstärkender und ihn begünstigender.
Re: Antike Weißheit
Bukolos schrieb am 30.08.2021 um 12:30 Uhr (Zitieren)
Tut mir leid, dass ich ich erst jetzt melde. Ich war anderweitig gebunden. Es ist kaum möglich, mit überschaubarem Aufwand all die Belege, die Isaac zusammenträgt, aufzulisten. Darum beschränke ich mich auf eine knappe Auswahl.

Für die environmental theory ("the assumption that the physical environment influences or even determines group characteristics", S. 45), eines der wesentlichen Konzepte antiken (und nachantiken), protorassistischen Denkens, kann man neben der Schrift De aere aquis locis aus dem Corpus Hippocraticum Belege bei Herodot (2, 35; 9, 122), Platon (leg. 747c-e; rep. 435c-436a; Tim. 24c ἡ θεὸς προτέρους ὑμᾶς ...), Aristoteles (Pol. 1327b 23-33), den pseudaristotelischen Problemata physica (909a 13 ff.), Cicero (De lege agraria 2, 95), Livius (38, 17, 9-10), Vitruv (6, 1, 3-11), Lucan (8, 363-366) und einer Reihe weiterer Texte finden. Die antiken Texte haben Jean Bodin beeinflusst, der ein Kapitel seiner République der environmental theory widmet und Passagen aus De aere aquis locis, Aristoteles, Vitruv und Vegetius zitiert. Bodin wiederum beeinflusste u. a. Montesquieu und seinen L’Esprit des Lois.

Tertullian entwickelt in De anima 20, aufbauend auf Seneca und Empedokles, eine eigene Variante der environmental theory, die von Kant in seinen rassistischen Theorien in Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen fast wortgetreu (aber ohne Nennung seiner Quelle) übernommen wird.

Eine Kernidee des modernen Rassismus, die Vorstellung einer rein zu erhaltenden Blutlinie und der damit verbundene Gedanke, dass Vermischung mit Fremden gleichbedeutend mit Degeneration wäre, kann Isaac ebenfalls auf antike Wurzeln zurückführen. Als Beispiel hierfür mag die in Platons Menexenos (245c-d) vertretene Blut-und-Boden-Ideologie athenischer Prägung stehen. (Barbarisch ist im Folgenden wohlgemerkt keine sprachliche Kategorie.):

οὕτω δή τοι τό γε τῆς πόλεως γενναῖον καὶ ἐλεύθερον βέβαιόν τε καὶ ὑγιές ἐστιν καὶ φύσει μισοβάρβαρον, διὰ τὸ εἰλικρινῶς εἶναι Ἕλληνας καὶ ἀμιγεῖς βαρβάρων. οὐ γὰρ Πέλοπες οὐδὲ Κάδμοι οὐδὲ Αἴγυπτοί τε καὶ Δαναοὶ οὐδὲ ἄλλοι πολλοὶ φύσει μὲν βάρβαροι ὄντες, νόμῳ δὲ Ἕλληνες, συνοικοῦσιν ἡμῖν, ἀλλ’ αὐτοὶ Ἕλληνες, οὐ μειξοβάρβαροι οἰκοῦμεν, ὅθεν καθαρὸν τὸ μῖσος ἐντέτηκε τῇ πόλει τῆς ἀλλοτρίας φύσεως.

Der locus classicus für diese Idee, Tacitus, Germania 4, der natürlich auch von H. St. Chamberlain (Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, München 1899, S. 465) zitiert wird, sei ebenfalls noch erwähnt.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Idee von zur Sklaverei geborenen Menschen, die in Aristoteles' Politik entwickelt werden, bspw.:

1254b 39-1255a 2: ὅτι μὲν τοίνυν εἰσὶ φύσει τινὲς οἱ μὲν ἐλεύθεροι οἱ δὲ δοῦλοι, φανερόν, οἷς καὶ συμφέρει τὸ δουλεύειν καὶ δίκαιόν ἐστιν.

1255a 28-35: διόπερ αὐτοὺς οὐ βούλονται λέγειν δούλους, ἀλλὰ τοὺς βαρβάρους. καίτοι ὅταν τοῦτο λέγωσιν, οὐθὲν ἄλλο ζητοῦσιν ἢ τὸ φύσει δοῦλον ὅπερ ἐξ ἀρχῆς εἴπομεν· ἀνάγκη γὰρ εἶναί τινας φάναι τοὺς μὲν πανταχοῦ δούλους τοὺς δ᾿ οὐδαμοῦ. τὸν αὐτὸν δὲ τρόπον καὶ περὶ εὐγενείας· αὑτοὺς μὲν γὰρ οὐ μόνον παρ᾿ αὑτοῖς εὐγενεῖς ἀλλὰ πανταχοῦ νομίζουσιν, τοὺς δὲ βαρβάρους οἴκοι μόνον.

1285a 19-22: διὰ γὰρ τὸ δουλικώτεροι εἶναι τὰ ἤθη φύσει οἱ μὲν βάρβαροι τῶν Ἑλλήνων οἱ δὲ περὶ τὴν Ἀσίαν τῶν περὶ τὴν Εὐρώπην, ὑπομένουσι τὴν δεσποτικὴν ἀρχὴν οὐδὲν δυσχεραίνοντες.

Der Gedanke wird aufgegriffen von Cicero (rep. 3, 24, 36 ed. Ziegler, nach Augustinus).

Sehr vieles, u. a. den Abschnitt über die antike Physiognomie und ihre weitreichende Wirkung sowie den ganzen zweiten Teil des Buches, der sich mit der spezifischen Sicht von Griechen und Römern auf einzelne Ethnien befasst, habe ich hier nicht berücksichtigt.
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 30.08.2021 um 13:19 Uhr (Zitieren)
Herzlichen Dank für diese Anregungen, mit denen ich mich näher befassen werde.
Re: Antike Weißheit
Bukolos schrieb am 30.08.2021 um 13:30 Uhr (Zitieren)
Zitat von Γραικύλος am 26.8.21, 23:49Was die Rückprojektion zur Zeit des Nationalsozialismus angeht (bis hin zum "blonden Jesus"), so bin ich davon ausgegangen, daß sie nicht von der Altertumswissenschaft, sondern von kruden Ideologen à la Rosenberg getragen wurde.

Aber die Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts hat zumindest Anregungen gegeben. Zur Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes (1929) des NSDAP-Rassenkundlers Hans Günther bemerkt Chapoutot (S. 64 f.):

Zu Beginn seiner Ausführungen zu den Griechen spielt Günther ein Autoritätsargument aus; er zitiert nämlich die deutschen Althellenisten, die als Erste die These vom nordischen Ursprung der Griechen aufgestellt haben. Zu ihnen zählen Hermann Müller, der 1844 die berühmte zusammenfassende Darstellung Das nordische Griechentum und die urgeschichtliche Bedeutung des nordwestlichen Europas⁵ veröffentlichte, und Karl Julius Beloch, dessen Griechische Geschichte⁶ von 1912 als Standardwerk galt.

Günther konnte sich mit vollem Recht in eine lange Traditionskette einreihen. Die deutsche Geschichtsschreibung in Bezug auf die Antike hat sich in der Tat schon früh, nämlich im 19. Jahrhundert, der These vom nordischen Ursprung der griechischen Völker und ihrer Kultur angeschlossen.⁷ Bereits 1824 veröffentlichte der Historiker des antiken Griechenlands Karl Otfried Müller sein Standardwerk über die Dorier⁸, das Volk, das aus dem Norden kommend den Peloponnes besiedelt und das lakedämonische Gemeinwesen hervorgebracht habe. Gestützt auf das nordische Postulat, hat eine ganze Bibliothek von Werken mit geschichtswissenschaftlichem und anthropologischem An|spruch diese These aufgegriffen und popularisiert,⁹ zum einen in Deutschland, zum anderen aber auch in Frankreich, insbesondere mit Gobineau und dann Vacher de Lapouge.¹⁰
Re: Antike Weißheit
Γραικύλος schrieb am 30.08.2021 um 17:25 Uhr (Zitieren)
Erstes Ergebnis: Sowohl Platon (Athen) als auch Tacitus (Germanen) erwähnen die "Rassenreinheit" in lobender Weise - verstanden als die unterbleibende Vermischung mit "fremdem Blut".

Zweites Ergebnis: Aristoteles zählt die Barbaren, insbesondere die Perser, zu den "Sklaven von Natur aus". Und er wischt das naheliegende Argument beiseite, daß ja auch jeder Grieche, sogar ein Adliger, durch ungünstiges Schicksal jederzeit zu einem Sklaven werden konnte - er ist es dann nicht "von Natur aus".
 
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