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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Eine Religion ohne Dogmen und ohne Kirche (353 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 12.09.2021 um 15:43 Uhr (Zitieren)
Als erstes ist festzustellen, daß sich die Religion der Griechen nicht auf irgendeine „positive“ Offenbarung stützt, die den Menschen direkt von der Gottheit vermittelt worden wäre. Sie kennt deshalb, anders als die großen, monotheistischen Religionen des Mittelmeerraumes, auch keinen Propheten als Religionsstifter und besitzt kein heiliges Buch, in dem die offenbarten Wahrheiten festgehalten wären und das die Grundlage eines theologischen Systems bilden könnte.

Das Fehlen eines solchen Buches hat zur Folge, daß es auch keine Gruppe
von Fachleuten gibt, die in besonderer Weise befähigt wären, dieses Buch auszulegen. Es hat in Griechenland nie eine Kaste professioneller Priester gegeben; der Zugang zu den priesterlichen Ämtern war grundsätzlich jedem Bürger offen, und die priesterlichen Funktionen wurden von den Betreffenden in der Regel nur vorübergehend ausgeübt.

Ebensowenig gab es eine umfassende, vereinigte Kirche im Sinne eines hierarchischen und von den übrigen gesellschaftlichen Institutionen unabhängigen Apparats, der berechtigt gewesen wäre, die religiösen Wahrheiten auszulegen und die Ausübung des Kultes zu leiten und zu überwachen. Auch Dogmen, für deren Einhaltung man hätte sorgen müssen, gab es nicht, so daß auch die Figur des Ungläubigen und Ketzers, der die Glaubenssätze nicht beachtete, unbekannt war.

Das Fehlen all dieser Aspekte erklärt einige besondere Charakteristika der mythologischen Überlieferung. In den griechischen Glaubensvorstellungen und Erzählungen von den Göttern nehmen jene über die Erschaffung der Welt und der Menschen keinen zentralen Platz ein, ja sie fehlen [...] im Grunde sogar ganz, wenn man von den Überzeugungen einiger unwesentlicher, sektiererischer Strömungen absieht. Nach der allgemein gültigen Auffassung lebten die Götter und die Menschen in der Welt schon immer zusammen.

Ebenso fehlt (abgesehen von denselben wenigen Ausnahmen) die Vorstellung einer „Erbsünde“, von der die Menschen in irgendeiner Weise gereinigt und erlöst werden müßten: Der griechische Mensch war, sofern er sich nicht durch eine bestimmte Schuld befleckte, gewöhnlich „rein“; dies war auch der Grund, weshalb er ohne jede Einschränkung Zugang zu den priesterlichen Ämtern hatte. Nebensächlich ist – zumindest was die öffentlich praktizierte Religion betrifft – auch die Frage, ob die Seele nach dem Tod weiterlebt und ins Jenseits hinübergerettet werden kann, auch wenn dieser Punkt [...] bei den Mysterienkulten und Initiationsriten eine gewisse Rolle spielte.

Die Zusammenstellung all der Aspekte, die in den Glaubensvorstellungen der Griechen nicht vorhanden waren, zeigt, daß sich nur schwerlich positiv von einer griechischen „Religion“ sprechen läßt, zumindest wenn man den Terminus so versteht, wie er in bezug auf die monotheistischen Glaubensvorstellungen gewöhnlich verwendet wird. Auch ein Wort, das inhaltlich dem Begriff „Religion“ entspräche, fehlt im Griechischen. Am nächsten kommt ihm der Terminus eusebeia, der von dem Priester Eutyphron, dem Protagonisten von Platons gleichnamigen Dialog, definiert wird als „die Pflege (therapeia) der Götter“. (Platon, Eutyphron, 12e)

Religiös zu sein bedeutete demnach, jeweils zur gegebenen Zeit die Kulthandlungen auszuführen, in welchen die Menschen ihre Achtung vor den Göttern bezeugten und ihnen die gebührenden Zeichen der Ehrfurcht und Ehrerbietung darbrachten, die vor allem in Opfer- und Weihgaben bestanden.
[...]

[Mario Vegetti, Der Mensch und die Götter; in: Jean-Pierre Vernant (Hrsg.), Der Mensch der griechischen Antike. Frankfurt/Main 1996, S. 296 – 298]
 
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