Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Condicio humana #2 (403 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 22.12.2021 um 00:00 Uhr (
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Solon fährt fort:
Gute und Schlechte, sie denken all‘ ihren Zweck zu vollenden,
All‘ zu erreichen ihr Ziel, freilich, solang sie nicht hemmt
Irgendein mißlich Geschick; doch dann, dann jammern sie kläglich;
Vorher ergibt sich ja leicht gaukelnder Hoffnung ihr Herz.
Wenn einer schwer mit Krankheit geplagt ist und bitterlich leidet,
Hofft doch sein gläubiges Herz, daß ihm gesunde der Leib;
Manch armseliger Wicht dünkt gleichwohl groß sich und stattlich,
Tapfer gar noch und schön, krumm und schief wie er ist
[ἄλλος δειλὸς ἐὼν ἀγαθὸς δοκεῖ ἔμμεναι ἀνήρ
καὶ καλὸς μορφὴν οὐ χαρίεσσαν ἔχων];
Mancher entbehrt des Vermögens und Armut drückt ihn zu Boden,
Er aber hofft doch stets, künftig würde er reich –
Jeder hastet nach anderm. Dieser durchstreichet auf Schiffen
Meere, denn Schätze begehrt heimzuschleppen sein Herz:
Ihn verschlagen die tückischen Winde im fischreichen Waser,
Was aber gilt’s ihm? Er setzt wagend sein Leben aufs Spiel.
Wieder ein andrer geht hinterm krummen Pflug und durchfurchet
Mühvoll das baumreiche Land, hegt es jahraus und jahrein;
Jenen, den Schüler Hephaists, des kunstreichen, und der Athena
Nähret, das wohl er versteht, kärglich das Werk seiner Hand;
Diesen segnen mit himmlischen Gaben olympische Musen,
Daß er den innersten Grund seliger Weisheit erfaßt;
Einen begabt auch Apollon, der Fernhintreffer, als Seher:
Unglück, das drohend dem Mann fernher aufzieht, das schaut
Frühe sein Blick, wenn ein Gott ihn erleuchtet – allein keines Vogels
Flug und kein Opfer wird je hemmen des Schicksals Vollzug.
Andre sind Ärzte und kennen zwar Paions vielfache Heilkunst,
Dennoch haben auch sie über den Ausgang nicht Macht;
Denn oft wächst aus mäßigem Schmerz gar furchtbare Krankheit,
Und die könnte kein Arzt heilen mit labendem Kraut –
Doch dem bitterlich Leidenden gab die Gesundheit er wieder,
Auflegend leicht seine Hand, wußte doch selber nicht, wie.
Siehe, Gutes und Böses beschert das Schicksal den Menschen,
Keiner auf Erden entflieht dem, was der Himmel verhängt.
[Μοῖρα δέ τοι θνητοῖσι κακὸν φέρει ἠδὲ καὶ ἐσθλόν,
δῶρα δ‘ ἄφυκτα θεῶν γίγνεται ἀθανάτων.]
Alles Wirken ist voller Gefahren, ein Menschlein weiß niemals,
Wann mit dem Werk es beginnt, ob’s bis zum Ende ihm glückt:
Dieser fängt unter glücklichen Zeichen an, doch gerät er,
Weil er’s nicht sorglich bedacht, später in qualvolle Pein,
Jenem, der glücklos begann, dem räumt ein Gott aus dem Wege
Fährnisse fort und er nimmt ihm seine Torheit hinweg.
Ohne Grenzen ist aber die Gier bei den Menschen nach Schätzen:
Sei einer reich wie er will, lebend in Fülle und Glanz,
Morgen begehrt er das Doppelte; sättigt denn je sich die Habsucht?
Nur die Götter allein schenken dir bleibendes Gut!
Doch auch Verhängnis kommt uns von ihnen, und überall wandert’s
Rings auf der Erde umher, sendet zur Strafe es Zeus.
(Griechische Lyrik. Hrsg. v. Gerhard Wirth. Reinbek 1963, S. 87 f./94-96)
Mir scheint, Solon hat sich nicht recht entscheiden können zwischen dem Glauben an eine gerechte Weltordnung einerseits und einer pessimistischen Weltsicht andererseits.