Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Der Mythos der Amazonen (365 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 26.01.2022 um 18:51 Uhr (
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Der nachfolgende Text wird den Lesern hier vermutlich nicht viel Neues bringen. Geschrieben habe ich ihn für ein anderes Forum, stelle ihn aber in der Hoffnung auf den einen oder anderen fruchtbaren Einwand zunächst hier vor:
Nicht viele historische Phänomene gibt es, von denen wirklich jeder schon einmal etwas gehört hat. An den Fingern einer Hand wird man sie wohl abzählen können.
Klar, der Daumen gehört dabei Adolf Hitler, aber sie, die Amazonen, machen keineswegs den kleinen Finger aus. Ein Volk, das nur aus Frauen bestand und doch sehr kriegerisch war. Das dürfte zur Allgemeinbildung gehören. Kenntnisse auf einem präziseren Niveau wohl eher nicht, vielleicht nicht einmal bei Adolf Hitler. Schon daß es einen Fluß namens Amazonas gibt und einen recht erfolgreichen Internet-Händler obendrein, wird, was die Frage eines Zusammenhanges angeht, sicherlich Unkenntnis zu Tage fördern.
Diese Amazonen sind aus dem antiken Griechenland überliefert, waren dort enorm populär, d.h. sie wurden sehr häufig bei den antiken Autoren erwähnt und in der plastischen Kunst vielfach dargestellt. Lokalisiert wurden sie an unterschiedlichen Orten, meist aber im Bereich des Kaukasus und Kleinasiens. Da sie ohne Männer lebten, mußten sie die Frage ihrer Fortpflanzung regeln und taten das – je nach Bericht – durch kurzzeitige Verbindungen mit fremdstämmigen Männern und anschließender Tötung der männlichen Nachkommen oder durch den Raub von Mädchen bei anderen Völkern.
Dann differenziert sich die Überlieferung auf, vor allem nach verschiedenen Amazonen-Königinnen und ihren durchweg kriegerischen Begegnungen mit männlichen Helden: Penthesilea und Achilles, Antiope und Herakles, Hippolyte und Theseus, Thalestris und Alexander der Große sind die bekanntesten Gestalten.
Erwähnt werden sie bereits bei Homer, der schätzungsweise im 8. Jhdt. v.u.Z. einzuordnen ist; die Sache ist daher alt. Ist dieses Volk historisch? Hat es jemals existiert? Wohl nicht. Wie ist dieser Mythos dann entstanden?
Der antike Historiker Herodot ist dieser Frage nachgegangen und hat die Vermutung geäußert, daß im Hintergrund das Volk der Skythen stehe, bei dem in der Tat – Grabfunde belegen es – davon auszugehen ist, daß die Frauen an Kriegen teilnahmen. Für die Frage, wie es von da zu einem reinen Frauenvolk gekommen ist, bemüht Herodot bestimmte Annahmen, die historisch nicht stichhaltig sind.
Man kann es immerhin als eine Hypothese ansehen, daß aus mitkämpfenden Frauen auf bestimmten mythischen Umwegen alleinkämpfende Frauen geworden sind. Auf keinen Fall erklärt das, warum dieser Mythos eine solche große Popularität bereits in der Antike und, wie gesagt, außerordentliche Be-kanntheit bis heute erlangt hat.
Spezielle Beachtung hat die moderne, auf Athen bezogene These gefunden, daß der Bericht vom Angriff der Amazonen unter ihrer Königin Hippolyte und ihre schließliche Besiegung durch Theseus, den sagenhaften Gründer Athens, nicht nur für die Athener des lokalen Bezugs wegen spannend war; vielmehr ermöglichte er es den attischen Männern, ihren Frauen eine bestimmte Botschaft zu vermitteln: Hütet euch! Werdet ja nicht aufmüpfig! Wir (die Männer Athens) sind selbst mit den Amazonen fertig geworden. Und die hatten, was das Kämpfen angeht, weit mehr drauf als ihr!
Das mag so sein, daß die attischen Männer den Mythos auf diese Weise funktionalisiert haben. Es erklärt natürlich nicht ohne weiteres die Beliebtheit des Amazonen-Stoffes weit über Athen hinaus und auch in Gebieten, wo die männlichen Vorfahren keine so stolze Rolle gespielt hatten.
Wenn Achill im Kampf vor Troja auf die Amazonen und ihre Königin Penthesilea gestoßen ist (was so nicht bei Homer steht, aber in einem anderen Epos aus dem trojanischen Epenkreis, der Amazonia, gestanden hat), und wenn dann daraus nicht nur ein Kampf, sondern auch eine Liebesbeziehung um Leben und Tod entstanden ist (später dramatisiert etwa bei Heinrich von Kleist), wird das wohl als spannend empfunden worden, aber bei Otto Normalgrieche nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Identifizierung nacherlebt worden sein. Von heute zu schweigen.
Es muß, so meine Vermutung, mit dem Typus der kriegerischen Frau zusammenhängen, die von Männern nicht abhängig ist. Das stellt die „normale“ Geschlechtsbeziehung vollständig auf den Kopf. Die Männer sind Jäger, und aus den Jägern wurden Krieger. Die Frauen sind oft schwanger, deshalb weder für Jagd noch Krieg gut geeignet, konzentrieren sich also aufs Sammeln von Pflanzen, an die man sich weder anschleichen noch denen man nachlaufen muß; da stört es weniger, wenn sie einen allzeit schreibereiten Säugling auf dem Rücken tragen.
Diese Rollenverteilung sichert den Männern dank ihrer Waffen und ihres auf Kampf selektierten Körperbaus etwas sehr Wichtiges: die Macht. Die „Natürlichkeit“ dieser Ordnung ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Erlebnisse mit der Macht von Frauen (seien es die Skythinnen, seien es sehr selbstbewußte Frauen oder heutzutage Boxerinnen und MMA-Kämpferinnen) entzünden immer wieder die männliche Phantasie. Und selbstverständlich auch die von Frauen. Was, wenn Frauen es wagten, die männliche Rolle zu übernehmen ... und dabei auch noch erfolgreich zu sein? Was, wenn die Geschlechterrollen gar nicht so eindeutig festgelegt sind? Was, wenn ein Mann im Kampf einer Frau unterliegt?
Das sind die – für Männer beunruhigenden, aber nicht leicht zu verdrängenden - Fragen, die sich überall dort stellen, wo Männer und Frauen aufeinandertreffen, wo ihre Rollen austariert werden müssen. Also überall. Macht das die universale Popularität der Amazonen aus?
Re: Der Mythos der Amazonen
Γραικύλος schrieb am 30.01.2022 um 22:19 Uhr (
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Die heutige terra-X-Sendung über Amazonen hat doch sehr deutlich gezeigt, daß es ein (nur aus Frauen bestehendes) Amazonen-Volk "höchstwahrscheinlich" nicht gegeben hat. Kriegerische Frauen innerhalb einer gemischten Gesellschaft, wie bei den Skythen, sind doch etwas anderes.