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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Über Pazifismus in Zeiten des Krieges (456 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 17.04.2022 um 18:57 Uhr (Zitieren)
Der Pazifismus als persönliche Weigerung, sich mit Waffen zu verteidigen, ist sehr respektabel, zumal er große Risiken in sich birgt. Wie aber steht es mit ihm als politischer Strategie, also als staatliche Reaktion auf den Angriff eines anderen Staates? Wie kann gewaltloser Widerstand wirksam und mehr als eine bloße Kapitulation sein?

Hierfür sehe ich die folgenden Überlegungen:

1. Man kann vom christlichen Glauben ausgehen, daß unser aller Leben vor der Aufgabe stehe, das Leiden (Symbol: das Kreuz) auf sich zu nehmen, wie Jesus es vorgelebt hat, um dann in einem Leben nach dem Tode dafür belohnt zu werden, während die Bösen ihre Strafe erhalten.
Jedem, der’s glaubt. Nicht-Christen bleiben da außen vor.

2. Gandhis Weg des gewaltlosen Widerstandes, der Gehorsamsverweigerung. Das Beispiel von Gandhi selbst gegenüber der britischen Kolonialmacht zeigt, daß dies Wirkung zeigen kann, aber nur unter bestimmten Umständen. Die erste Bedingung ist die eines charismatischen Führers, dem es gelingt, große Teile seines Volkes auf diesen Weg zu verpflichten. Die zweite Bedingung besteht darin, daß die aggressive Macht nicht völlig skrupellos, sondern um ihr Ansehen in der Weltöffentlichkeit besorgt ist. In dem Moment, in dem Gandhi es nicht mehr mit den Briten, sondern mit den Hindus und Moslems seines eigenen Landes zu tun hatte und daher als Führer nicht mehr allgemein akzeptiert wurde, ist sein Weg gescheitert, und ein blutiger Bürgerkrieg war die Folge.

3. Man kann sich in die militärische und politische Niederlage fügen, aber auf die Überlegenheit der eigenen Kultur vertrauen, insoweit den Sieger besiegen wie Griechenland die Römer: „Graecia capta ferum victorem cepit et artis / intulit agresti Latio.“ [Das eroberte Griechenland hat den rauhen Besieger eingenommen und die Kultur ins bäuerliche Latium getragen.] (Horaz ep. II 1, 156 f.) Ein zweites Beispiel dafür sind die Araber gegenüber den besiegten Persern. Die Voraussetzung dafür ist naturgemäß ein für den Sieger attraktives Kulturgefälle. Darauf muß der, der den Widerstand aufgibt, hoffen.

4. Schließlich gibt es den Weg des chinesischen Philosophen Lao Tse, den Weg des Tao. Er besteht in der Annahme eines Quasi-Naturgesetzes, demzufolge das einseitige Setzen auf Aggressivität und Gewalt (Yang) zum Scheitern verurteilt ist, weil es zum Erstarken seines Gegenteils (Yin) führt. Gewalt erzeugt Widerstand (welcher Art auch immer) und schwächt sich dadurch selbst: Die Untertanen werden renitent; die Bedrohten schließen sich zusammen; die Gewalt richtet sich – etwa durch Rivalenkämpfe – gegen die Gewalttäter; die Zerstörung erfaßt das eigene Land. Die Alternative zum Yang-Weg besteht in einem „Siegen durch Nachgeben“ (Tao Te King, Gedicht 22). Hier wird eine Einheit von Yang (Siegen) und Yin (durch Nachgeben) als effektiver angesehen.

Wie hat man sich das vorzustellen? Zunächst ganz sicher so, daß es nicht bedeutungsgleich ist mit dem bekannten Sprichwort „Der Klügere gibt nach“; vielmehr geht es hier eindeutig um das Siegen durch Nachgeben, und dieser Sieg ist nicht bloß ein moralischer. Das ist kein simples, starres Rezept, sondern hat, soweit ich sehe, verschiedene Aspekte:

• Man kann den Gegner ins Leere laufen lassen, nämlich sich in die Tiefe des Landes zurückziehen, ohne ihm Versorgungsmöglichkeiten zu überlassen, also seine Versorgungslinien immer weiter zu verlängern, bis er logistisch nicht mehr nachkommt. Das klassische Beispiel dafür ist die Strategie des russischen Marschalls Michail Kutusow gegen Kaiser Napoleon I. Klarerweise benötigt man dafür ein hinreichend großes Land, was auf China und Rußland zutrifft, nicht jedoch auf Luxemburg.

• Man kann mit scharfem Blick auf die Schwäche (Yin) in der Stärke (Yang) des Gegners achten und sie für sich ausnutzen: etwa die Gefahr, die in dem Gefühl der Überlegenheit liegt und zu Überheblichkeit sowie mangelnder Vorsicht verführt; oder darauf, wo seine Stärke (Finanzkraft, materielle Überlegenheit) auf Abhängigkeiten beruht (Verkauf von Produkten an andere --> Handelsembargo, Belügen der eigenen Bevölkerung --> Aufklärungskampagne usw.).

• Man kann das Prinzip des „Herrschens durch Dienen“ (Tao Te King, Gedichte 30, 61, 66 u.a.) einsetzen: Dienen, Helfen, Unterstützen führen zur Abhängigkeit auf Seiten desjenigen, dem gedient wird. Das Verhältnis von Herr und Knecht verkehrt sich auf eigentümliche Weise, sobald der Herr seine eigenen Fähigkeiten verkümmern läßt, weil er sich auf die Arbeit seines Knechtes verläßt. Und dann gilt: „Alle Räder stehen still / Wenn dein starker Arm es will“, wie das alte sozialdemokratische Lied verkündet. Dann ist das Yang (die Stärke) zu einem Yin (einer Schwäche) geworden, und das kann ausgenutzt werden. Es ist kein Zufall, daß Lao Tse häufiger (Gedichte 6, 61 u.a.) das Prinzip des Weiblichen preist, das im Herrschen durch Dienen bestehe. Man benötigt dafür freilich einen langen Atem, also viel Geduld.

• Was Lao Tse immer wieder hervorhebt, ist der Wert der Flexibilität („Beuge dich und sei aufrecht“, Gedicht 22), also das Nachgeben zur rechten Zeit, um keine Kraft durch starren Widerstand zu verlieren und sich bei günstigerer Gelegenheit wieder aufrichten zu können. Der Baum und der Grashalm im Sturm sind die dazu passenden Bilder. Die günstige Gelegenheit entsteht natürlich in dem Moment, in dem der Feind (der Sturm) an Kraft (Yang) eingebüßt hat.

• „Führe Krieg mit überraschenden Maßnahmen. / Werde zum Herrscher über die Welt ohne Kampf.“ (Gedicht 57) Der nicht hoch genug einzuschätzende Wert der Überraschung wird von vielen Strategen hervorgehoben. Nichts ist ungünstiger als eine absehbare Strategie, auf die sich der Gegner in Ruhe vorbereiten kann. Und was wäre überraschender als das „Tun des Nicht-Tuns“, die intelligente Weise des Nachgebens auf der Basis eines langfristigen Siegeskonzeptes?

Von allen pazifistischen Konzepten erscheint mir dasjenige Lao Tses als das anregendste und erfolgversprechendste; freilich bedarf es einer weisen Einsicht in den Lauf der Dinge und den langen Atem, um den günstigen Moment des Umschlags von Yang in Yin beim Feind zu erkennen und auszunutzen.

Dann setzt man (bildlich) die Kraft des Wassers ein: „Das Allerweichste im Universum / Überwindet das Allerhärteste im Universum.“ (Gedicht 43)


 
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