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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Lukian über das Urteil des Paris (494 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 19.08.2023 um 00:03 Uhr (Zitieren)
Lukian, Meergöttergespräche 5:

Die folgende Szene ist eine kürzere Version als die, die Lukian in seinen Göttergesprächen 20 bietet und die hier schon vorgestellt worden ist.

Eine Nereide erzählt ihrer Schwester, was bei der Hochzeit der Thetis vorgefallen
PANOPE. Sahst du gestern, Galene, was Eris bei dem hochzeitlichen Gastmahl in Thessalien für einen Spuk machte, weil sie nicht auch dazu gebeten worden war?
GALENE. Ich war nicht dabei, Panope; Poseidon hatte mir aufgetragen, das Meer indessen ruhig zu halten (1). Aber was konnte denn Eris tun, da sie nicht zugegen war?
PANOPE. Thetis und Peleus waren eben von Amphitrite und Po-in das Brautgemach geführt worden, und die Gäste überließen sich indessen der Fröhlichkeit; die einen tranken, die andern tanzten, noch andere hörten Apollos Zitherspiel oder dem Gesang der Musen zu. Es war also nichts leichter, als daß Eris ihre Rache bewerkstelligen konnte, ohne von jemand bemerkt zu werden. Sie warf einen wunderschönen ganz goldenen Apfel unter die Gäste, der die Aufschrift hatte: die Schönste (2) soll ihn haben [Ἡ ΚΑΛΗ ΛΑΒΕΤΩ]; und der Apfel rollte so lange fort, bis er, wie absichtlich, an die Stelle kam, wo Hera, Aphrodite und Athene Platz genommen hatten. Da ihn nun Hermes aufgehoben und die Aufschrift laut abgelesen hatte, hielten wir Nereiden uns mäuschenstill; denn was hätten wir machen sollen, da jene zugegen waren? Sie hingegen maßten sich alle drei den Apfel an, und wenn Zeus nicht dazwischen getreten wäre, würde es gewiß zu Tätlichkeiten gekommen sein. Die Göttinnen drangen in ihn, daß er Richter sein sollte: aber er wollte nichts damit zu tun haben. Geht auf den Ida, sagte er, zum Sohn des Priamos, der wird die Schönste [τὸ κάλλιον] am besten herauszufinden wissen; er ist ein Liebhaber und Kenner des Schönen [φιλόκαλος ὤν], und ihr könnt euch auf sein Urteil verlassen.
GALENE. Was taten da die Göttinnen, Panope?
PANOPE. Heute, denke ich, gehen sie nach dem Ida ab, und wir werden die Nachricht bekommen, wer gesiegt hat.
GALENE. Weil Aphrodite dabei ist, gewiß keine andere als sie, oder der Richter müßte sehr schlechte Augen haben [ἢν μή <τι> πάνυ ὁ διαιτητὴς ἀμβλυώττῃ].

(1) Anspielung auf die eigentliche Bedeutung ihres Namens
(2) falsche Übersetzung von Chr. M. Wieland; "die Schöne", das ist noch bösartiger.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 19.08.2023 um 00:11 Uhr (Zitieren)
Po-in --> Poseidon in
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Johannes schrieb am 19.08.2023 um 13:27 Uhr (Zitieren)
der wird die Schönste [τὸ κάλλιον]

Das ist doch Komparativ Neutrum.
Wie lautet der Kontext im Original?

Ich finde nur diese Übersetzung:
http://www.zeno.org/Literatur/M/Lukian/Dialoge/G%C3%B6ttergespr%C3%A4che/20.+Das+Urteil+des+Paris

Hier werde ich nicht fündig:
http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Perseus%3Atext%3A2008.01.0526%3Abook%3D20
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 19.08.2023 um 17:37 Uhr (Zitieren)
Die Passage lautet im Original:

ἄπιτε δὲ ἐς τὴν Ἴδην παρὰ τὸν Πριάμου παῖδα, ὃς οἶδέ τε διαγνῶναι τὸ κάλλιον ὤν

Ich halte Wielands Übersetzung an beiden Stellen für falsch. Oder?
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 19.08.2023 um 17:44 Uhr (Zitieren)
Mir geht es darum:
Wenn da "Der Schönsten" stünde, könnten sich die beiden anderen Göttinnen immerhin damit trösten, wenigstens schön zu sein. Da dort aber "Die Schöne soll ihn haben" steht, bleibt ihnen dieser Ausweg nicht - die Beleidigung ist um so größer.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
filix schrieb am 19.08.2023 um 20:59 Uhr (Zitieren)
Nicht unbedingt, wenn, was ich für das Griechische allerdings nicht sicher beurteilen kann, der substantivierte Positiv des Qualitätsadjektivs funktioniert wie in die Schöne und das Biest (The beauty and the biest), August der Starke oder Felipe el Hermoso usf., wo er gerade das überdurchschnittliche Vorhandensein der Eigenschaft anzeigt. Man denke zudem an die καλός bzw. καλή-Lieblingsinschriften auf Vasen, die auf außerordentliche Schönheit zielen, die besonderes Lob verdient, nicht bloß den Genannten eine Eigenschaft zuschreiben im Unterschied zu anderen, denen diese gar nicht zukommt.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 19.08.2023 um 23:33 Uhr (Zitieren)
Das ist ein interessanter Hinweis. Leider finde ich im Kühner/Blass nichts dazu.

Allerdings erscheint mir auch im Deutschen August der Starke usw. schwächer als August der Stärkste (im Sinne von: der Weltmeister). Sicherlich ist es die Hervorhebung einer besonderen Eigenschaft - dafür spricht ja auch der letzte Satz des Lukian -, jedoch steigerbar.
Ich muß sagen, daß mich aber speziell die gepflegte Bosheit anspricht, die in meiner Interpretation liegt. Sozusagen die gesteigerte Bosheit.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Bukolos schrieb am 20.08.2023 um 00:26 Uhr (Zitieren)
Das Griechisch der Zeit Lukians kennt jedenfalls das Eintreten des Positivs für den Superlativ und das auch nicht nur bei substantivierten Adjektiven (Mt 22, 36: διδάσκαλε, ποία ἐντολὴ μεγάλη ἐν τῷ νόμῳ; weitere Stellen Blass/Debrunner/Rehkopf § 245, 17. [= 16.] Aufl.).

In der Sprache der attischen Tragödie findet man den Positiv eines substantivierten Adjektivs anstelle eines Superlativs in Verbindung mit einem paronomastischen Intensitätsgenitiv (Aischyl. Pers. 681: ὦ πιστὰ πιστῶν - weitere Stellen Kühner/Gerth, Bd. 1, S. 21).

Zu τὸ κάλλιον: Vermutlich hat Wieland die Edition von Reitz (Amsterdam 1743) benutzt, die an der Stelle τὴν καλλίονα liest. Die Wahl des Komparativs dort, wo ein Element einer Menge eine Eigenschaft zugleich im höheren Maß als die übrigen Elemente der Menge und im höchsten Maß innerhalb der Menge besitzt, und wo man im Deutschen eher den Superlativ setzt, ist auch im att. Griechisch nicht ungewöhnlich (hierzu Kühner/Gerth, Bd. 1, S. 22; zum Rückgang des Superlativs in der Koine: Blass/Debrunner/Rehkopf § 60).
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 20.08.2023 um 17:23 Uhr (Zitieren)
Mir stellt sich das jetzt folgendermaßen dar:

1. Was genau auf dem Apfel stand, berichtet uns nur Lukian.
2. Seine beiden Texte dazu sind von ironischer Natur, sollen witzig sein.
3. Die Übersetzung von ἡ καλή als Positiv ist möglich (wenngleich nicht notwendig).
4. Dieser Sinn gibt dem Text eine zusätzliche Pointe.
5. Allerdings widerspricht das der gängigen Vorstellung, der Apfel sei als Preis für die Schönste gedacht gewesen.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Bukolos schrieb am 20.08.2023 um 23:25 Uhr (Zitieren)
Selbstverständlich kann (und sollte) jede:r an einen Text eigene Interpretationen herantragen, solange sie sich irgendwie rechtfertigen lassen, und das ist bei deiner Deutung ja der Fall.

Hat sich eine solche Deutung allerdings auch dem zeitgenössischen Zielpublikum aufgedrängt? Dies dürfte man annehmen, wenn eine auffällige Abweichung von der Erwartung an die Form einer Inschrift auf vergleichbaren Objekten wie dem Erisapfel erkennbar wäre.

Anknüpfend an den guten Hinweis auf die Vasen mit Lieblingsinschriften lassen sich weitere Objekte heranziehen, etwa jener Spiegel aus Kaisareia (Kappadokien), der seine potentielle Käuferin gleichzeitig für ihre Schönheit und ihren guten Geschmack preist (τῇ καλῇ τὰ καλά· κυρία, ἀγόρασόν με δηναρίου - "Der Schön(st)en das Schön(st)e: Erwirb mich, Herrin, für einen Denar!" SEG 64, 1500, ähnlich SEG 52, 719), ein verschenkter Spiegel aus Pantikapaion mit der Inschrift τῇ καλῇ τὸ δῶρον (SEG 40, 621, 4) oder eine Gemme mit derselben Inschrift, die zeigen, dass Lukians Verwendung des Positivs für die Empfängerin hierbei durchaus üblich war. Dass diese Objekte allen anderen Frauen die Schönheit absprechen wollten, erscheint eher unwahrscheinlich.

Es ließe sich argumentieren, dass Lukian die Beschriftung des Apfels der Komik halber selbst erfunden habe. Es gibt jedoch eine Reihe von eher nicht humorvollen Texten, die ebenfalls Apfelaufschriften, und zwar andere als Lukian, überliefern.* Was einen zu der Vermutung führen kann, dass Lukian mit der Inschrift auf eine bestehende Tradition zurückgreift.

Schließlich lässt sich auch Lukian selbst heranziehen: Im Iudicium dearum (= Dial. deor. 20) 7 f. liest Paris die (mit der aus dial. mar. 5 gleichlautende) Aufschrift des Apfels und klagt hierauf, dass er zwar beurteilen könne, ὁποτέρα ἡ καλλίων sei, wenn es sich um Ziegen oder Kühe, nicht aber, wenn es sich um Göttinen handele, die alle ὁμοίως καλαί seien. Offenbar versteht er die Aufschrift so, dass mit Vergabe des Apfels ein Urteil über einen unterschiedlichen Grad an Schönheit, nicht über das Zu- oder Aberkennen von Schönheit an sich, gefällt wird.

* Ps-Clemens von Rom, Homilia 6, 8 (ed. Rehm/Strecker ³1992): δῶρον τῇ καλῇ.
Scholia in Eur. Hecub. 637: τῇ καλῇ τὸ μῆλον.
Scholia in Luciani Symposium 35: τῇ καλῇ τὸ μῆλον.
Anonymus, Περὶ τριπλῆς πορθήσεως τῆς Τροίας, Kap. 4: τῇ καλῇ τὸ μῆλον.
Libanios, Prosgymnasmata 2, 27: δῶρον εἶναι τῇ καλλίστῃ θεῶν τούτῳ (sc. μήλῳ) ἐπεγέγραπτο.
Mythographus Vaticanus 1, 208: pulcherrimae deae donum.
Mythogr. Vat. 2, 205: pulcherrimum donum pulcherrimae deae.
Tzetzes, Scholia in Lycophronem 93: τῇ καλῇ τὸ μῆλον.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 20.08.2023 um 23:59 Uhr (Zitieren)
Das alles klingt sehr einleuchtend. Das Bedauerliche liegt darin, daß ich nun ein Kapitel für ein geplantes Buch werde umschreiben müssen und daß ich fürchte, daß das Konzept des gesamten Buches infrage gestellt wird, weil es offenbar Quellen gibt - z.B. die, die Du jetzt zitierst -, auf die noch nicht einmal der Roscher hinweist. Zwar richtet sich das Buch nicht an Fachleute wie Dich, aber es sollte doch von denen nicht so leicht zerpflückt werden können.

Danke jedenfalls für Deine Aufklärung.
 
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