Ich halte Wielands Übersetzung an beiden Stellen für falsch. Oder?
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 19.08.2023 um 17:44 Uhr (Zitieren)
Mir geht es darum:
Wenn da "Der Schönsten" stünde, könnten sich die beiden anderen Göttinnen immerhin damit trösten, wenigstens schön zu sein. Da dort aber "Die Schöne soll ihn haben" steht, bleibt ihnen dieser Ausweg nicht - die Beleidigung ist um so größer.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
filix schrieb am 19.08.2023 um 20:59 Uhr (Zitieren)
Nicht unbedingt, wenn, was ich für das Griechische allerdings nicht sicher beurteilen kann, der substantivierte Positiv des Qualitätsadjektivs funktioniert wie in die Schöne und das Biest (The beauty and the biest), August der Starke oder Felipe el Hermoso usf., wo er gerade das überdurchschnittliche Vorhandensein der Eigenschaft anzeigt. Man denke zudem an die καλός bzw. καλή-Lieblingsinschriften auf Vasen, die auf außerordentliche Schönheit zielen, die besonderes Lob verdient, nicht bloß den Genannten eine Eigenschaft zuschreiben im Unterschied zu anderen, denen diese gar nicht zukommt.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 19.08.2023 um 23:33 Uhr (Zitieren)
Das ist ein interessanter Hinweis. Leider finde ich im Kühner/Blass nichts dazu.
Allerdings erscheint mir auch im Deutschen August der Starke usw. schwächer als August der Stärkste (im Sinne von: der Weltmeister). Sicherlich ist es die Hervorhebung einer besonderen Eigenschaft - dafür spricht ja auch der letzte Satz des Lukian -, jedoch steigerbar.
Ich muß sagen, daß mich aber speziell die gepflegte Bosheit anspricht, die in meiner Interpretation liegt. Sozusagen die gesteigerte Bosheit.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Bukolos schrieb am 20.08.2023 um 00:26 Uhr (Zitieren)
Das Griechisch der Zeit Lukians kennt jedenfalls das Eintreten des Positivs für den Superlativ und das auch nicht nur bei substantivierten Adjektiven (Mt 22, 36: διδάσκαλε, ποία ἐντολὴ μεγάλη ἐν τῷ νόμῳ; weitere Stellen Blass/Debrunner/Rehkopf § 245, 17. [= 16.] Aufl.).
In der Sprache der attischen Tragödie findet man den Positiv eines substantivierten Adjektivs anstelle eines Superlativs in Verbindung mit einem paronomastischen Intensitätsgenitiv (Aischyl. Pers. 681: ὦ πιστὰ πιστῶν - weitere Stellen Kühner/Gerth, Bd. 1, S. 21).
Zu τὸ κάλλιον: Vermutlich hat Wieland die Edition von Reitz (Amsterdam 1743) benutzt, die an der Stelle τὴν καλλίονα liest. Die Wahl des Komparativs dort, wo ein Element einer Menge eine Eigenschaft zugleich im höheren Maß als die übrigen Elemente der Menge und im höchsten Maß innerhalb der Menge besitzt, und wo man im Deutschen eher den Superlativ setzt, ist auch im att. Griechisch nicht ungewöhnlich (hierzu Kühner/Gerth, Bd. 1, S. 22; zum Rückgang des Superlativs in der Koine: Blass/Debrunner/Rehkopf § 60).
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Γραικύλος schrieb am 20.08.2023 um 17:23 Uhr (Zitieren)
Mir stellt sich das jetzt folgendermaßen dar:
1. Was genau auf dem Apfel stand, berichtet uns nur Lukian.
2. Seine beiden Texte dazu sind von ironischer Natur, sollen witzig sein.
3. Die Übersetzung von ἡ καλή als Positiv ist möglich (wenngleich nicht notwendig).
4. Dieser Sinn gibt dem Text eine zusätzliche Pointe.
5. Allerdings widerspricht das der gängigen Vorstellung, der Apfel sei als Preis für die Schönste gedacht gewesen.
Re: Lukian über das Urteil des Paris
Bukolos schrieb am 20.08.2023 um 23:25 Uhr (Zitieren)
Selbstverständlich kann (und sollte) jede:r an einen Text eigene Interpretationen herantragen, solange sie sich irgendwie rechtfertigen lassen, und das ist bei deiner Deutung ja der Fall.
Hat sich eine solche Deutung allerdings auch dem zeitgenössischen Zielpublikum aufgedrängt? Dies dürfte man annehmen, wenn eine auffällige Abweichung von der Erwartung an die Form einer Inschrift auf vergleichbaren Objekten wie dem Erisapfel erkennbar wäre.
Anknüpfend an den guten Hinweis auf die Vasen mit Lieblingsinschriften lassen sich weitere Objekte heranziehen, etwa jener Spiegel aus Kaisareia (Kappadokien), der seine potentielle Käuferin gleichzeitig für ihre Schönheit und ihren guten Geschmack preist (τῇ καλῇ τὰ καλά· κυρία, ἀγόρασόν με δηναρίου - "Der Schön(st)en das Schön(st)e: Erwirb mich, Herrin, für einen Denar!" SEG 64, 1500, ähnlich SEG 52, 719), ein verschenkter Spiegel aus Pantikapaion mit der Inschrift τῇ καλῇ τὸ δῶρον (SEG 40, 621, 4) oder eine Gemme mit derselben Inschrift, die zeigen, dass Lukians Verwendung des Positivs für die Empfängerin hierbei durchaus üblich war. Dass diese Objekte allen anderen Frauen die Schönheit absprechen wollten, erscheint eher unwahrscheinlich.
Es ließe sich argumentieren, dass Lukian die Beschriftung des Apfels der Komik halber selbst erfunden habe. Es gibt jedoch eine Reihe von eher nicht humorvollen Texten, die ebenfalls Apfelaufschriften, und zwar andere als Lukian, überliefern.* Was einen zu der Vermutung führen kann, dass Lukian mit der Inschrift auf eine bestehende Tradition zurückgreift.
Schließlich lässt sich auch Lukian selbst heranziehen: Im Iudicium dearum (= Dial. deor. 20) 7 f. liest Paris die (mit der aus dial. mar. 5 gleichlautende) Aufschrift des Apfels und klagt hierauf, dass er zwar beurteilen könne, ὁποτέρα ἡ καλλίων sei, wenn es sich um Ziegen oder Kühe, nicht aber, wenn es sich um Göttinen handele, die alle ὁμοίως καλαί seien. Offenbar versteht er die Aufschrift so, dass mit Vergabe des Apfels ein Urteil über einen unterschiedlichen Grad an Schönheit, nicht über das Zu- oder Aberkennen von Schönheit an sich, gefällt wird.
Γραικύλος schrieb am 20.08.2023 um 23:59 Uhr (Zitieren)
Das alles klingt sehr einleuchtend. Das Bedauerliche liegt darin, daß ich nun ein Kapitel für ein geplantes Buch werde umschreiben müssen und daß ich fürchte, daß das Konzept des gesamten Buches infrage gestellt wird, weil es offenbar Quellen gibt - z.B. die, die Du jetzt zitierst -, auf die noch nicht einmal der Roscher hinweist. Zwar richtet sich das Buch nicht an Fachleute wie Dich, aber es sollte doch von denen nicht so leicht zerpflückt werden können.