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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Ne bis in idem (246 Aufrufe)
Γραικύλος schrieb am 31.10.2023 um 19:31 Uhr (Zitieren)
Aus Anlaß eines einst aus Mangel an Beweisen freigesprochenen mutmaßlichen Mörders, gegen den es einen neuen Beweis gab, hat das Bundesverfassungsgericht heute den Art. 103, Abs. 3 des GG
Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

dahingehend interpretiert, daß dies nicht nur die erneute Bestrafung, sondern auch die erneute Anklage verbietet. Und obgleich genau das ja im Sinne des tradierten Rechtsgrundsatzes "Ne bis in idem" liegt, wurde dieser in den von mir konsumierten Nachrichten nicht erwähnt. Auf diese Weise hing die Begründung - zumindest für die Öffentlichkeit - etwas in der Luft.
Aber vielleicht weist die ausführliche Urteilsbegründung des BVerfG ja darauf hin.
Re: Ne bis in idem
filix schrieb am 01.11.2023 um 12:07 Uhr (Zitieren)
Das Urteil samt Begründung und, vielleicht am Spannendsten, darin festgehaltenen abweichenden Ansichten der Richter Müller und Langenfeld, findet man unter:

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2023/10/rs20231031_2bvr090022.html
Re: Ne bis in idem
Andreas schrieb am 01.11.2023 um 14:09 Uhr (Zitieren)
Wie denkt man im Forum darüber?
Rechtssicherheit - und frieden oder bedingungslose Gerechtigkeit?
Re: Ne bis in idem
Γραικύλος schrieb am 01.11.2023 um 15:08 Uhr (Zitieren)
Inzwischen habe ich erfahren, daß durch dieses Urteil eine vor zwei Jahren erfolgte Änderung der StPO für verfassungswidrig erklärt worden und das Urteil nicht einstimmig (5:2) gefällt worden ist.
Ich denke nach und versuche, den tieferen Sinn des "Ne bis in idem" zu ergründen. Der Rechtsfriede ist ein Begriff, dessen Bedeutung über die Sphäre konkreter Opfer und Täter hinausreicht. Was wäre allgemein die Folge, wenn auch rechtskräftige Urteile angefochten werden könnten? Es gäbe eine Welle neuer Prozesse und damit eine andauernde Rechtsunsicherheit. Daß ein rechtskräftig Verurteilter nachträglich freigesprochen wird, verhindert dieser Grundsatz übrigens nicht. Das ist auch gut so.
Vielleicht reicht auch der Grundsatz "Besser zehn Schuldige, die freigesprochen werden, als ein Unschuldiger, der verurteilt wird" hier hinein.
Man kann das, wie das Minderheitsvotum zeigt, auch anders sehen.

Re: Ne bis in idem
Bukolos schrieb am 02.11.2023 um 09:05 Uhr (Zitieren)
Zitat von Γραικύλος am 1.11.23, 15:08Was wäre allgemein die Folge, wenn auch rechtskräftige Urteile angefochten werden könnten? Es gäbe eine Welle neuer Prozesse und damit eine andauernde Rechtsunsicherheit.

Darum geht es doch nicht in dem Urteil. Es betrifft nur die Aufhebung von StPO § 362, Abs. 5, der sich auf "freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person" bezieht.

Prozesswellen wären also nicht zu befürchten gewesen, hätte sich die Auffassung von Richter Müller und Richterin Langenfeld durchgesetzt.
Re: Ne bis in idem
Γραικύλος schrieb am 02.11.2023 um 10:26 Uhr (Zitieren)
Das ist richtig, § 362 StPO hätte diese Folge nicht - wohl aber die Abschaffung des Art. 103 GG!

Nun ist es aber doch so, daß § 362 StPO dem Art. 103 GG widerspricht, jedenfalls dann, wenn man Art. 103 im Sinne des "Ne bis in idem" intertpretiert: daß nämlich nicht nur die doppelte Bestrafung, sondern auch die doppelte Anklage verboten ist.
Und wenn ein Gesetz dem Grundgesetz widerspricht ...

Den Art. 103, Abs. 3 könnte man natürlich in der dafür vorgesehenen Weise abschaffen (oder ändern), doch dann droht das Problem, von dem ich sprach.
Auf jeden Fall müssen StPO und GG in Einklang gebracht werden, bei Prävalenz des GG.
Re: Ne bis in idem
Bukolos schrieb am 02.11.2023 um 10:58 Uhr (Zitieren)
Wie von Müller und Langenfeld ausgeführt (vgl. den Link im Beitrag von filix), widersprechen ja auch die Absätze 1-4 des § 362 StPO dem Art. 103 GG. An denen wird jedoch nicht gerührt. Seltsame Sache.


Re: Ne bis in idem
Γραικύλος schrieb am 02.11.2023 um 14:08 Uhr (Zitieren)
Als juristischer Laie:

- Wenn ich es recht verstanden habe, haben auch die beiden dissentierenden Richter dem Urteil zugestimmt, wenn auch eher wegen des Verbots, rückwirkende Gesetze zu erlassen ("Nulla poena sine lege"). Sie beharren aber darauf, daß es dem Gesetzgeber erlaubt sei, weitere Einschränkungen des Art. 103, Abs. 3 GG zuzulassen.

- Wie sind die bestehenden Ausnahmen zu erklären? Wenn jemand die Tat nachträglich eingesteht, verzichtet er damit nicht auf seinen Rechtsanspruch gemäß "Ne bis in indem"?

- Wenn das Urteil auf einer gefälschten Urkunde beruht, ist es dann nicht von vornherein fehlerhaft, also nur scheinbar rechtsgültig? Ich denke an die kirchenrechtliche Unterscheidung zwischen der Scheidung einer Ehe (unzulässig) und deren Annullierung (zulässig, weil die Ehe von vornherein unter falscher Voraussetzung geschlossen wurde).
Re: Ne bis in idem
Bukolos schrieb am 02.11.2023 um 15:14 Uhr (Zitieren)
Einstimmigkeit herrschte über den Punkt, dass Gesetze nicht rückwirkend angewendet werden dürfen (deine Formulierung "wegen des Verbots, rückwirkende Gesetze zu erlassen" ist ein wenig irreführend), dass also in dem konkreten Fall des Beschwerdeführers nicht weiter ermittelt werden darf.

Nicht einstimmig (6 : 2 Stimmen) fiel die Entscheidung allerdings eben in dem Punkt aus, der Auswirkung auf die Gesetzeslage hat, eben die Verfassungsmäßigkeit von § 362 Abs. 5 StPO betrifft. Das Argument, auf das ich mich oben beziehe, im Wortlaut:

Wäre Art. 103 Abs. 3 GG uneingeschränkt abwägungsfest, wäre für jegliche Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen von vornherein kein Raum. Diese Konsequenz zieht die Senatsmehrheit indes nicht, sondern sieht die bestehenden Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO als verfassungsrechtlich unbedenklich an.
 
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