Hi, Ich sitze an einem Text für eine Hausarbeit, der den „Kinderkreuzzug“ von 1212 kritisiert. Er ist im selben Jahr von Reiner von Lüttich geschrieben worden (Reineri Annales Sancti Iacobi) Die Textstelle beginnt mit
Motus puerorum mirabilis,
und heisst meiner Meinung nach „Die Wundersame/Wunderbare Bewegung der Kinder“. Meine Frage bezieht sich auf das „mirabilis“. Ist dieses „mirabilis“ positiv oder negativ gemeint? Wunder im Mittelalter sind meist Gott-gemacht, bzw. haben religiösen Hintergrund, allerdingst distanziert sich Reiner von Lütich später von dieser Bewegung, da er schreibt,
set quia hoc opus a Deo non fuit, nullum effectum habuit.
Wäre damit aber ein Widerspruch zwischen „Motus mirabilis“ und „hoc opus a Deo non fuit“.
Die Kinder zogen teilweise über die Alpen, gelangten nach Marseille und wurde von den dortigen Kapitänen zm Teil nach Afrika übergesetzt, um dort in die Sklaverei verkauft zu werden - wie armselig!
Aber das wußte Reiner von Lüttich da wohl noch nicht
Hier eine Quelle aus demselben Jahr über denselben Kreuzzug (Annales Marbacenses):
[quote]Zur selben Zeit wurde eine alberne Heerfahrt unternommen von Kindern und törichten Leuten, die ohne eigene Überlegung das Zeichen des Kreuzes annahmen, mehr aus Vorwitz als ihres Heiles wegen. Es zogen Kinder beiderlei Geschlechts, Knaben und Mädchen, nicht nur kleinere, sondern auch Erwachsene, Verheiratete und Jungfrauen mit leerem Geldsack sowohl durch ganz Deutschland als auch durch Teile von Gallien und Burgund. Und von Eltern und Freunden ließen sie sich in keiner Weise abhalten, mit allem Eifer diese Heerfahrt zu machen, so sehr, daß sie hier und dort in Dörfern und auf dem Felde mit Zurücklassung ihres Arbeitsgerätes und dessen, was sie gerade unter den Händen hatten, den Vorüberziehenden sich anschlossen. Und da wir so Ungewöhnlichem oft gerne unseren Glauben schenken, so meinten viele, dies geschehe nicht aus Leichtsinn, sondern auf göttliche Eingebung und aus einer gewissen Frömmigkeit, weshalb sie ihnen auf eigene Kosten Lebensmittel und was sie nötig hatten, darreichten. Den Geistlichen aber und anderen vernünftigeren Sinnes, welche widersprachen und diesen Zug für eitel und unnütz erklärten, leisteten die Laien heftigen Widerstand; sie behaupteten daher, die Geistlichen seien ungläubig und widersetzten sich diesem Unternehmen mehr aus Neid und Geiz als um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen. Da aber kein Unternehmen, das unvernünftiger- und unüber-legterweise begonnen wird, gut endet, so verbreitete und zerstreute sich diese törichte Menge, in Italien angekommen, in größere und kleinere Städte, und viele von ihnen wurden von den Bewohnern des Landes als Knechte und Mägde zurückbehalten. Andere sollen ans Meer gekommen sein, wo sie von den Schiffern und Seeleuten getäuscht und nach entlegenen Weltgegenden übergefahren wurden. Die übrigen gelangten nach Rom; aber als sie sahen, daß sie ohne obrigkeitliche Unterstützung keinen Erfolg haben konnten, erkannten die endlich ihre Bemühungen als albern und vergeblich, wurden aber von dem Kreuzgelübde durchaus nicht losgesprochen, mit Ausnahme der Knaben, welche die Jahre der Einsicht noch nicht erreicht hatten, und jener, die das Alter niederbeugte. Also getäuscht und verwirrt, traten sie den Rückweg an, und die, welche vorher in Scharen und Streithaufen und immer unter Absingung des Celeuma die Lande zu durchziehen pflegten, kehrten jetzt einzeln und im Stillen, barfuß und hungernd zurück und wurden allen zum Gelächter, weil die meisten Jungfrauen geraubt worden waren und die Blume der Unschuld verloren hatten.
[Quelle: Geschichte in Quellen. Band II: Mittelalter. Reich und Kirche. Herausgegeben von Wolfgang Lautemann. München 21978, S. 372]
Du siehst, mit welch harten Worten der Autor dieses Unternehmen beurteilt und wie die Kirche damals darüber dachte.
Daher möchte ich „mirabilis“ auf keinen Fall positiv, sondern allenfalls neutral als „staunenswert“ übersetzen. Und dieser Vorgang war ja wirklich einzigartig in der Geschichte.
Der einzige Kreuzzug, der mehr aus Glaube und Frömmigkeit und eigenem Antrieb stattfand und nicht den Gesetzmäßigkeiten der Politik und materieller Absicht unter dem Deckmantel des Glaubens stattfand (auf die Idee kann man wohl nur Kinder bringen) wurde in ein jämmerliches Schicksal gegeben - wirklich lehrreich ...
@andreas Es gab im selben Jahr zwei Bewegungen der „Kinder“ (es ist ja nicht wirklich geklärt ob es tatsächlich zum größten Teil Kinder waren, oder gar überhaupt welche dabei waren). Der eine begann in Paris und endete in Marseille wie Sie beschrieben haben, der andere, und um den ging es mir, startete in Niederlothringen und zog über die Alpen nach Genua, wo ihnen aber auch kein besseres Schicksal ereilte. Das Problem ist halt, dass Reiner erst nach dem bekantwerden des Ergebnisses darüber schreibt.
@Graeculus Die Marbacher Annalen sprechen eine deutlichere Sprache, das ist richtig. Allerdings gab es auch Prediger und hohe Kleriker, die gegen die Königen und Mächtigen geschimpft haben wie Rohrspatzen. Meine Hausarbeit versucht allerdings herauszufinden, ob in der Kritik an den Kreuzzug bei Reiner von Lüttich auch eine versteckte Kritik an den Mächtigen und Königen beinhaltet ist, da im selben Text folgender Satz auftaucht:
Erat autem eorum intentio mare se velle transire, et quod potentes et reges non fecerant, sepulcrum Christi recuperare;
der so interpretiert werden könnte, dass die „Kinder“ oder Armen nur deswegen auf die Idee gekommen sein könnten, weil sie die Mächtigen und Könige nicht als würdig empfanden, auf einen Kreuzzug zu gehen. Aufgestachelt natürlich von der teilweisen heftigen Schimpftirade des Klerus auf die Mächtigen und Könige und der neuen Kreuzzugsideologie von Innocenz III.
Sorry, ich hab mich etwas in das Thema verliebt, deswegen war ich so ausschweifend.
Die Motive der Kinder, soweit die Forschung sie heute rekonstruieren kann, waren sehr vielfältig - klar, bei Tausenden von Kindern.
Das
war eines davon.
Die Bewertung, die der Chronist den Ereignissen gibt, ist natürlich eine ganz andere Frage. Und sie kann auch bei den Annales Marbacenses eine andere sein als bei Deiner Quelle. Das muß man genau anhand der gesamten Darstellung anbalysieren, und insofern war meine Deutung des „mirabilis“ natürlich nur eine Hypothese.