Latein Wörterbuch - Forum
Hilfe! — 2587 Aufrufe
Carolin am 5.8.11 um 15:23 Uhr (
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Hallo!
Ich muss ein Gedicht interpretieren und komme an einer Stelle gar nicht weiter. Die Strophe lautet:
Cur ergo nequissimus Verres paret verri?
Optet ut in Socratem Anetus deferri?
Aut ut Nero Senecam faciat efferri?
Ich weiß natürlich, was die Worte bedeuten und habe mich auch über die Personen schlau gemacht. Aber ich bin mir im zweiten Vers nicht mal sicher, wer dort eigentlich das Subjekt ist. Anetus? Oder noch Verres aus dem ersten Vers? Beginnt dort ein Nebensatz mit „optet, ut...“ oder ist „ut optet,...“ wahrscheinlicher? Vielleicht kann mir ja irgendjemand einen Tipp geben, bin für alles dankbar. Bin wirklich mit meinem Latein am Ende ;-)
Viele Grüße,
Caro
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 15:58 Uhr (
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Also... ich würde sagen, die Konstruktion ist wie im zweiten ut-Satz, d. h. optet ist von ut abhängig und Anytos ist Subjekt: „damit Anytos den Wunsch hegt, dass gegen Sokrates eine Anklage vorgebracht werde“ oder so ähnlich. Passt inhaltlich ja auch.
Von wem ist denn das Gedicht?
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 16:28 Uhr (
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Okay, vielen Dank!! Ich versuche mal, damit zu arbeiten.
Das Gedicht ist von Johannes de Garlandia, also ein mittellateinischer Text. Ist glaube ich eher unbekannt :-)
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 16:43 Uhr (
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Hat vielleicht noch jemand eine Idee, warum derjenige, der die Grammatik herausgegeben hat, die das Gedicht beinhaltet, die Strophe so interpretiert, dass es dort um jemanden geht, der die Gutmütigkeit eines anderen Menschen ausnutzt und diesen deswegen verprügelt?
Ich weiß, dass das jetzt aus dem Zusammenhang gerissen ist, da ihr das restliche Gedicht nicht kennt, aber ich habe das Gefühl, dass mir irgendwie Hintergrundwissen fehlt, das mir diese Interpretation verständlich machen würde...
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 16:54 Uhr (
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Johannes de Garlandia? Den kenne ich dem Namen nach sogar...
Wie lauten denn die fehlenden Gedichtzeilen? Im Internet finde ich den vollständigen Text leider gerade nicht...
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 16:59 Uhr (
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Und noch eine (vielleicht etwas komische) Frage: Studierst du zufällig auch Mittellatein? Und wenn ja, wo?
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 17:00 Uhr (
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Naja, das Gedicht umfasst 14 Strophen, es ist also vielleicht etwas zu lang, um es komplett zu posten. Das lyrische Ich ist wohl ein Student, denn es handelt sich um ein Studentenlied. In den Strophen davor geht es auch bloß um einen „doctor“, der genauer beschrieben wird. Und dann kommt diese völlig metaphorische Strophe. Ich überlege, ob es nicht vielleicht sein kann, dass alle drei Fragen der Strophe rhetorisch sind und sozusagen eine verkehrte Welt darstellen. Könnte man den zweiten Vers auch folgendermaßen übersetzen:
Würde sich Anytos wünsche, dass er vor Sokrates angeklagt wird?
Denn dann wäre die Antwort eindeutig „Nein“. Bin mir aber nicht sicher, ob das grammatisch geht!?
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 17:09 Uhr (
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Tut mir leid; wenn ich den Kontext nicht kenne, kann ich dir bei deiner obigen Frage leider nicht weiterhelfen... Kannst du dich zu einem Posting nicht vielleicht doch durchringen? Inzwischen bin ich richtig gespannt...
Wie willst du denn deine These mit der verkehrten Welt auf den zweiten Teilsatz anwenden? Ich meine, den kann man doch gar nicht anders übersetzen als „damit Nero veranlasst, dass Seneca zu Grabe getragen wird“, und das ist ja alles andere als verkehrt...
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 17:15 Uhr (
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Hm, ich will natürlich nicht, dass dann die ganze Forums-Welt hier auf das Gedicht aufmerksam wird, weil ich gerade eine Arbeit darüber schreibe und sich bisher wohl noch niemand wirklich mit dem Gedicht auseinander gesetzt hat ;-) Auch wenn die Angst wahrscheinlich übertrieben ist...
Aber mit deinem Einwand hast du schon irgendwie Recht. Ich weiß halt nur nicht, inwiefern sich der 2. und 3. Vers aus dem Verhalten Verres' im ersten Vers ergeben könnten. Da fehlt mir irgendwie der Zusammenhang.
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 17:22 Uhr (
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Ich meine, die Analogie der beiden Szenarien ist ja recht deutlich: In beiden Fällen wird ein „weiser Mann“ durch irgendwelche Machthaber, denen er unbequem ist, beseitigt. Und dieser Verres hat offenbar etwas ähnliches im Sinn und paret deshalb verri. Und hier weiß ich auch nicht weiter. Aber das „ergo“ deutet ja an, dass es sich auf das Vorangegangene bezieht...
Wenn du möchtest, kannst du mir den Text ja mal per Mail schicken. Ich werde versuchen, dir zu helfen, so gut ich kann. Ich sitze selber gerade über einer Arbeit zu einem mittellateinischen Dichter, mit dem sich noch niemand wirklich befasst hat, und habe also genug eigenes unbeackertes Feld vor mir, als dass ich dir deinen Text abspenstig machen wollte. ;)
Re: Hilfe!
Hinweise zu den Gründen, derentwegen1909 jemand die Stelle von „vires parat Verri“ zu
„Verres par est verri“ (vielleicht als Keimzelle deiner Version?)zu verbessern müssen glaubte,
finden sich vermutlich in der „Berliner philologische(n)Wochenschrift“ im Band 29.
Außerdem hast du, wenn ich recht sehe, den vierten Vers „quis furor, O cives, quæ tanta licentia ferri“(„O Bürger, was für eine Raserei, welch' große Willkür des Schwertes“), ein ein Lucanus-Zitat, unterschlagen.
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 17:45 Uhr (
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Ja, den vierten Vers habe ich weggelassen, da er mich nicht verwirrt ;-)
Re: Hilfe!
M.E. ist das „ut“ hier auch keine Konjunktion sondern stellt Vergleiche her.
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 18:01 Uhr (
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Also, „wie Anytos sich wünscht (oder Konjunktiv), dass Socrates angeklagt wird“?
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 18:11 Uhr (
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@filix: Wie erklärst du dir dann die Konjunktive?
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 18:26 Uhr (
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Halt, Potentialis! Doch, das ergäbe auch Sinn...
Re: Hilfe!
Ich dachte an einen Dubitativus in der Sollfrage:
„Warum also rüstet sich der größte Taugenichts gegen einen Verres? (das ist die Version: “vires parat Verri")
Soll er sich (lieber) wünschen wie (ein) Anytos gegen (einen) Sokrates zu prozessieren?
oder soll er (lieber) wie (ein) Nero es veranlassen/machen, dass (ein) Seneca zu Grabe getragen wird?"
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 19:08 Uhr (
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Ich werde dem Hinweis in der Berliner Wochenschrift schnellstmöglich nachgehen. So würde zumindest der erste Vers für sich mehr Sinn machen. Aber ich verstehe dann trotzdem nicht den Zusammenhang zu den anderen beiden Versen. Dann würde ich zumindest das „lieber“ weglassen und es so deuten, dass sich dieser Taugenichts gegen Verres rüstet, um das gleiche zu erreichen, wie Anytos gegen Sokrates und Nero gegen Seneca erreicht hat (also letztendlich den Tod oder zumindest einen großen Schaden). Oder?
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 19:35 Uhr (
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@filix: In deiner Version wäre doch dann die Person, gegen die sich hier jemand rüstet, sowohl mit Verres, dem Charakterschwein, als auch mit Sokrates und Seneca gleichgesetzt... Das beißt sich m. E. ein wenig.
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 19:48 Uhr (
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Dann würde das „Charakterschwein“ auf einer Seite stehen mit Anytos und Nero und diese drei würden Verres, Sokrates und Seneca Böses wollen. Oder? Aber eigentlich ist doch Verres auch ein „Böser“, oder nicht? Ich bin jetzt verwirrt.
Re: Hilfe!
Nicht unbedingt - in der ersten Frage wird implizit festgehalten (Indikativ), dass sich der größte Taugenichts eben auf die Seite der Gegner des/eines Verres schlägt (also, um diese „manichäische“ Formel zu bemühen, einer von den „Guten“ ist) Warum dem so ist? Das wird zunächst mit Gegenfragen im Dubitativus gekontert (Soll er (denn eher) einer von den „Bösen“ sein wie A. & N.?) Schließlich kommt statt einer Antwort das Lucanus-Zitat, von dem m.E. der Sinn des Ganzen abhängt - Lesarten:„ In chaotischen Zeiten ist alles möglich - da finden sich sogar die Nullen auf der richtigen Seite“ oder „Wenn du schon eine Null bist, dann schlag dich in unruhigen Zeiten wenigstens auf die richtige Seite“oder „Dunkel bleibt, welche Macht im Chaos die Taugenichtse einmal auf die “gute„, einmal auf die “böse Seite„ stellt“.
Re: Hilfe!
Aber alles natürlich nur mit Vorbehalt in Unkenntnis des weiteren Textes.
Re: Hilfe!
Paenultima am 5.8.11 um 20:28 Uhr (
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Achso, ich verstehe, was du meinst (auch wenn das dann weniger dubitativische als rhetorische Fragen wären, bei denen man eher den Indikativ erwarten würde)... In den Kontext passt das trotzdem nicht so recht, da bist du allerdings auch gerade etwas übervorteilt: Zuvor wird ein doctor beschrieben und dabei über den grünen Klee gelobt, dass er über alle Gaben der Latinität, Philosophie, Gelehrsamkeit usw. verfüge. Dementsprechend liegt es nahe, diesen mit Sokrates und Seneca gleichzusetzen und jetzt einen allgemeinen nequissimus oder, je nach Textgrundlage, einen als „Verres“ bezeichneten anzunehmen, der diesem übel mitspielen will - worin dann genau der furor des Lucan-Zitats bestünde.
Das hilft bei der Interpretation der Formulierung im ersten Vers allerdings nicht wirklich weiter... Wenn man „vires parat Verri“ annimmt, könnte man immerhin den Dativ nicht als incommodi, sondern als dessen Gegenteil auffassen, etwa im Sinne von „warum schlägt der sich auf die Seite der Bösen“. Folgt man Carolins Textvorlage, hat man... ein Problem. Ist der verres mit Minuskel sowas wie ein innerer Schweinehund? Hat der Dichter den Akteur aufgrund eines konkreten Anlasses oder einfach nur, weil er symbolisch für einen schlechten Charakter steht, als Verres bezeichnet und konnte sich das Wortspiel nicht entgehen lassen? Hm...
Achja: Wer ist denn der Herausgeber deines Textes, Carolin? Kann man den noch kontaktieren und fragen, was er sich bei der Auswahl dieser Variante konkret gedacht hat? Auf jeden Fall wäre es wohl die lectio difficillima...
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 20:50 Uhr (
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Traugott Lawler hat den Text herausgegeben. Den könnte ich tatsächlich noch fragen, zumindest lebt er wohl noch. Ich werde morgen versuchen, Zugang zu dieser Wochenschrift zu bekommen, vielleicht erfahre ich darin dann mehr. Zumindest muss ich ja begründen können, warum ich von Lawlers Edition abweiche bzw. wie ich überhaupt darauf komme.
Für heute bedanke ich mich jedenfalls schon vielmals für eure Gedanken und eure Geduld! Freut mich, dass ich anscheinend euer Interesse wecken konnte. Wenn ich dann morgen was herausgefunden habe oder mir im Schlaf ein Geistesblitz kommt, lasse ich es euch sofort wissen! Ich werde mir auf jeden Fall alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen.
Viele Grüße,
Carolin
P.S.: Dass es hier nur um ein rhetorisches Wortspiel geht (Verres verri), habe ich auch überlegt, aber andererseits traue ich Johannes de Garlandia mehr zu ;-)
Re: Hilfe!
Von der Kontextfrage abgesehen - die Funktion des
coniunci. dubitativus/deliberativus ist nicht die, eine rhetorische Frage zu fixieren, so war meine Übersetzung nicht gemeint - sondern „ergebnisoffen“ einen Zweifel oder eine Überlegung auszudrücken.
Re: Hilfe!
Carolin am 5.8.11 um 21:03 Uhr (
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Es wird also quasi nach der Meinung (des Lesers?)
gefragt...Aber die Antwort würde doch höchstwahrscheinlich „Nein“ sein, oder?
Re: Hilfe!
Ich kann in einer Art erörterndem Selbstgespräch doch Fragen aufwerfen, ohne sie unmittelbar auf die antizipierte Antwort des Lesers beziehen zu müssen. Auch müssen sie keineswegs rhetorischer Natur sein.
Re: Hilfe!
Carolin am 8.8.11 um 15:42 Uhr (
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Hallo!
Ich habe jetzt die Berliner Wochenschrift vor mir liegen, aber darin habe ich bisher noch nichts zu dem Thema gefunden.
@ filix, wie kommst du denn darauf, dass die Stelle vorher anders geheißen hat? Ich würde dem Tipp wirklich gerne nachgehen, weil es mir bisher logischer erscheint als das, was in meiner Ausgabe steht.
Vielen Dank!
Re: Hilfe!
Ein aus derselben Wochenschrift stammendes Snippet via Google Books (
http://tinyurl.com/4yewh2f), in welchem die Stelle mit der Einleitung „Die Stelle lautet nach Vornahme der notwendigen Verbesserungen folgendermaßen: ...“ zu lesen ist, hat mich dazu veranlasst. Leider kommt man auch nicht über einen Webproxy an das Volldigitalisat.
Re: Hilfe!
Carolin am 8.8.11 um 16:30 Uhr (
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Super, vielen Dank!
Über den Link kann man wenigstens die Seitenzahl erkennen, das erspart mir das Durchblättern des gesamten Buches :-).