Hallo, ich habe eine Frage zu Seneca, De brevitate vitae:
In tria tempora vita dividitur: quod fuit, quod est, quod futurum est. Ex iis quod agimus breve est, quod acturi sumus dubium, quod egimus certum;...
Reclam übersetzt folgendermaßen:
„In drei Zeiträume gliedert sich das Leben: Was war, was ist, was sein wird. Davon ist der Zeitraum, in dem wir handeln können, kurz; was wir in der Zukunft tun werden, ist ungewiss, nur was wir getan haben, steht fest.“
Dabei fällt auf, dass die Übersetzung die offenbar anaphorische Konstruktion „quod agimus breve est, quod acturi sumus dubium, quod egimus certum“ getrennt hat, und das erste quod auf die Zeiträume (ex iis...) bezieht („Davon ist der Z., in dem...), während es die nächsten beiden quod als neue Subjekte einer Konstruktion “was wir in Zukunft tun,...„ ansetzt. Dazu wird sogar noch ein Semikolon eingeschoben, was die m.E. zusammenhängende Reihe auch noch optisch aufteilt: “Davon ist der Zeitraum, in dem wir handeln können, kurz; was wir..."
Ich verstehe den Grund dafür nicht ganz. Ich selbst habe folgendermaßen übersetzt:
„In drei Zeitabschnitte (Zeiten) ist das Leben geteilt: Was war, was ist, was sein wird. Von diesen [Zeitabschnitten] ist die Zeit, die wir gerade verbringen [tempus quod agimus], kurz, die, die wir noch verbringen werden [tempus quod acturi sumus], unsicher, (nur) die, die wir schon verbracht haben [temp. quod egimus], steht fest“.
Natürlich kann ein „Zeitabschnitt“ schlecht „unsicher“ sein, aber der Originaltext erlaubt m.E., jedes quod auf eines der tria tempora am Anfang zu beziehen.
Somit ergäbe sich ein ganz anderer Sinn: Dass nämlich die Zeit, die uns noch bleibt, ungewiss ist, während wir nur die, die wir schon verbracht haben, „sicher“ haben.
eine rhetorische Figur, bei der logische Wortbeziehungen meist durch grammatische Zuordnung des Adjektivs zu einem Wort oder Wortbestandteil, zu dem es inhaltlich nicht gehört, verschoben werden.
ENALLAGE (mit doppeltem L ... hätte es gerne verbessert, aber ... egal :-D )
Ich hätte einfach „quod“ jeweils als „welcher“ übersetzt, intuitiv, und dann kommt man garnicht auf die Idee, es könnte anders sein: Aus diesen ist der, welchen wir... der aber, welchen, ... der, nun welchen.... sicher.
In Wahrigs Deutschem Wörterbuch (Jubiläumsausgabe 1991) wird die Unterscheidung zwischen Enallage und Hypallage nicht sehr deutlich, indem die Enallage als „Verschiebung der Beziehung von Wörtern zueinander“ definiert wird.
agere hat hier definitiv eine aktive Bedeutung. Es soll ja zum Ausdruck kommen, dass die Zeit, die man zur Verfügung hat kurz ist,
weil
a) eben das zukünftige niemand beeinflussen kann außer das fatum
b) vergangenes unbeeinflussbar ist.
Daraus ergibt sich dann aus stoischer Sichtweise, als vir proficiens aktiv und selbstreflexiv auf das summum bonum, das höchste Ziel der Stoa , die Glückseligkeit (lat. beatitudo, tranquillitas animi, griech: eudaimonia) hinzuarbeiten, um sich zu vervollkomnen. Zur Zeitthematik vgl. auch ep. mor. I, 01.
Ich find De brevitate vitae ist ein super „Buch“,
was mich allerdings befremdet ist die neue Reclam-Auflage, die auf deutsch den Titel trägt: DAS LEBEN IST KURZ!
Ich frage mich, ob die vorher mal in das Buch geschaut haben...
Zu dem Satz: Ich würde intuitiv auch tempus agere annehmen und „Zeit verbringen“ schreiben.
Klar geht es um das Leben, aber:
Das Leben, das wir verbringen, das Leben, das wir hinter uns haben,...?