ich bin anscheinend ein bisschen aus der Übung, da ich mit meinen (Nachhilfe-)Schülern immer nur Lehrbuchtexte und ein bisschen Caesar und Cicero übersetzt habe.
Nun lesen wir dieses Semester an der Uni Texte aus der Vulgata, und ich hänge gerade an einer Stelle aus dem Buch der Richter (es geht um Samson):
(Richter 16,17b)
Der Inhalt ist klar, die Grammatik im Wesentlichen auch. Mein einziges Problem ist oben markiert.
recedet, deficiam und ero sind ja Futur I
und fuerit müsste Futur II sein
Würde ja soweit passen: Parallelfutur -> HS im Futur I, vorzeitiger GS im Futur II
Wenn mein Kopf geschoren[?!] gewesen ist, wird meine Stärke von mir weichen (etc.)
Das ergibt ja nun nur mäßig viel Sinn. Gemeint ist sicher:
Wenn mein Kopf geschoren worden ist (usw.)
Müsste es dann aber nicht normalerweise rasum erit heißen oder denke ich gerade irgendwie falsch oder zu kompliziert?
Ist das so eine Besonderheit der Vulgata? (Und anderer spätantiker/frühmittelalterlicher Texte?) Oder habe ich etwas übersehen und die Formen falsch gedeutet?
Ja, es handelt sich um eine Bildungsvariante des Futurs II Passiv im Lat. (rasum fuerit = rasum erit), die allerdings nicht auf die Vulgata beschränkt ist.
Im Dt. muss es formal betrachtet zunächst:
„Wenn mein Kopf geschoren worden sein wird ...“ (Vorgangspassiv Futur II)
„Wenn mein Kopf geschoren gewesen sein wird ...“ (Zustandspassiv Futur II)
heißen.
Deine Unsicherheit, im Dt. das Futur II Passiv zu bilden, reflektiert m.E. den Umstand, dass in der Gegenwartssprache das Perfekt dessen Funktion, einen in der Zukunft vollendeten Vorgang auszudrücken, oft übernimmt:
„Wenn ich mein Lateinstudium beendet habe (beendet haben werde), werde ich aufhören, Nachhilfe zu geben.“
Entsprechend tendierst du in der Übersetzung zu „Wenn mein Kopf geschoren worden ist ...“, also dem Vorgangspassiv Perfekt. Beim Zustandspassiv bleibt man in der Regel beim Präsens:
„Wenn diese Sache erledigt ist, werde ich nach Palermo reisen.“