Cohibeat Delphinus oculos ... aber welche Sexualpraktik hat man sich da nun im zweiten Vers genau vorzustellen, wenn doch „vir“ bei den Römern i.d.R. den aktiven, d.h. penetrierenden Sexualpartner bezeichnete?
Das lyrische Ich schenkt seiner Geliebten in dieser Elegie einen Ring (anulus) mit dem er sich auch selbst identifiziert; sie soll diesen Ring immer tragen. Der Ring selbst ist allerdings „flexibel“, kann sich nach Belieben anschmiegen oder weiten - je nach Bedarf: So kann er von ihrem Finger gleiten und auch andere Partien ihres Körpers „aufsuchen“. Alles in allem kann ich hier keine Verbindung von anulus zu anus entdecken - und die einzige andere „flexibel-ringförmige“ Öffnung, die das lyrische Ich sein eigen nennt, ist eben sein Mund!
filix am 25.6.15 um 18:03 Uhr, überarbeitet am 25.6.15 um 18:07 Uhr (Zitieren)
Wir nähern uns langsam dem Problem - mit dem explizit genannten vir, einem sexuellen Rollenmodell der röm. Antike lassen sich nämlich die genannten Praktiken nicht so einfach vereinbaren. Auch spielt das Geschlecht des Partners in diesem nach Aktivität/Passivität differenzierenden Modell eine untergeordnete Rolle.
Um das einmal durch ein Zitat aus der Forschungsliteratur zu resümieren:
„ … the ideal male is active and the model female is passive. That is, in its basic formulation, the male is the penetrator and the female is the one penetrated, offering a highly phallogocentric system of classification. The active male (vir) and the passive female (femina/puella) are counterbalanced by their deficient „opposites“, the passive male (cinaedus/pathicus) and the active female (virago/tribas/moecha). In this system, homosexuality and heterosexuality do not enter into the picture. Rather, the Roman vir penetrates either passive males or females. The status of the person who is penetrated is the main concern, insofar as to be a passive female was considered „normal“, while being a passive male was considered to be a deviation, abnormality and a social deformity.
As the ultimate penetrator, a Roman vir could penetrate any orifice of the passive recipient (mouth, vagina, anus), but was not to perform any sexual act that might indicate passivity (such as cunnilingus or fellatio). Thus penetration becomes the normative feature of this grid system.”
(Stichele, Penner: Contextualizing Gender in Early Christian Discourse, 2009 - S.61)
Nun ist Ovid nicht Martial, aber dass hier eine wenn auch nur in der Ringleinphantasie augenzwinkernde Verknüpfung von Passivität in der Handlung mit dem Modell des vir vorliegt, ist in meinen Augen wenigstens erklärungsbedürftig.
Re: LUSTIG !
Kuli am 25.6.15 um 20:31 Uhr, überarbeitet am 25.6.15 um 20:52 Uhr (Zitieren)
Kehrt aber nicht das vorstellungsweise in den Ring verwandelte lyrische Ich an dieser Stelle in das Rollenbild des römischen vir, wie es in deinem Zitat dargestellt wird, zurück, indem es meint, dass seine libido stärker wirkte als die artes Aeaeae Carpathiive senis und zumindest sein Glied den Zauber durchbräche, so dass aus dem Ring eine Art gehenkelter Olisbos geworden wäre (ich weiß nicht, ob sich solche Objekte nachweisen lassen)?
Re: LUSTIG !
filix am 25.6.15 um 22:25 Uhr, überarbeitet am 25.6.15 um 22:29 Uhr (Zitieren)
Warum nicht? Dass die Römer weniger Erfindungsreichtum gezeigt hätten in Sachen sex toys als andere, ist nicht anzunehmen - man denke nur an die zunächst magisch-religiös verstandenen phallischen Objekte wie das geflügelte Fascinum. Bei Petronius wird das gleichnamige Ledermodell (für Huren) ordentlich imprägniert entsprechend verwendet:
„Profert Oenothea scorteum fascinum, quod ut oleo et minuto pipere atque urticae trito circumdedit semine, paulatim coepit inserere ano meo.“ (Sat. 138)
Die Szene bezieht ihre drastische Komik nicht zuletzt aus der Verkehrung der angesprochenen Rollenverteilung.
Der Rückverwandlungsthese, die offensichtlich schon einige vertreten haben, wird hier nachdrücklich widersprochen: https://books.google.de/books?id=krb2kHtL9_kC&pg=PA196 - der Autor will in Am. 2, 15 eine erträumte Allophanie, also eine Erscheinung eines Gottes in fremder Gestalt zu Tarnzwecken in Analogie zu Jupiters Verführung der Danäe als Goldregen sehen.
Das gipfelt in der m.E. ziemlich schwachen Behauptung, dass es sich um eine bloß originelle Verpackung handle, in der der Sprecher der Geliebten zu verstehen gebe, dass es ihm gleich in welcher Gestalt bloß um Sex gehe. Das Geschlechterrollenmodell wird gar nicht thematisiert, die Widersprüche werden als im mythischen Denken belanglos abgetan und die Erotik physischer Intimität, die auch der Beobachtung von Gesten und alltäglichen Handlungen der Frauen, denen Mann als Ring aus nächster Nähe beiwohnen könnte, entspringt, wird zum wortreichen Umweg für das, wofür mancher zeitgenössische Rasengott angeblich nur vier Wörter braucht.
(Ja gut, dass die Liebesrhetorik unserer Rasengötter in ihrer Sparsamkeit mit der von Gartengöttern konkurrieren mag, steht auf einem eigenen Blatt.)
Die Zgollsche Auslegung erscheint mir ebenfalls etwas bemüht. Der ausdrückliche Hinweis auf das membrum legt ja nahe, dass dem lyrischen Ich nicht an einer die Körperlichkeit transzendierenden Form der Sexualität nach Art von Göttern, die ahnungslose Jungfrauen als Niederschlag überfallen, gelegen sein kann.
Auch, aber das Bild umfasst weitere Aspekte. Ich denke, dass der Sprecher mit seiner Träumerei nicht nur den Wunsch, Kenntnis der intimsten Lebensbereiche seiner Angebeteten zu erlangen, illustriert, sondern, da ein Siegelring ja auch einen Identitätsausweis bildet, den einer an Selbstaufgabe grenzenden Vereinigung mit ihr.
Wenn nun gerade die Erinnerung an die eigenen Triebe als Korrektiv wirkt und ihn wieder zu sich selbst bringt, das Verlangen nach körperlicher Vereinigung das nach personaler überwindet, so liegt darin natürlich eine Pointe ganz eigener Art.
@filix: Danke für den Link zur Erhellung. Du setzt bei deinen Lesern zu viel Allgemeinbildung voraus! Auch für „Rasengötter“ musste ich googeln. Dachte zunächst an irgendwelche antiken „Grasgeister“.