Salvete!
Um einen Seminarbeitrag zu gestalten, bräuchte ich ein paar aufschlußreiche Stellen bei Historikern. Habe als Ansatz nur Livius, würde aber (trotz meinem begrentzen Kenntnisumfang) gerne auch andere Autoren verwenden. Hat jemand einen konkreten Tipp für mich?
Besten Dank
Rain
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Gut, mach ich: es geht um die Untersuchung antiker Historiker mit modernen Ansätzen. Und ein Gesichtspunkt soll die zum Teil vorkommende Beschreibung alternativer Geschichtsverläufe sein, von denen bereits die römischen Schreiber wussten, dass sie sich so ja gar nicht zugetragen haben. Und solche Stellen würde ich mir gerne auch von anderen Autoren als Livius durchlesen (da sind es glaube ich u.A. die Hannibal-Reden, die in diese Richtung gehen). Hilf euch das?
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Hm, ja klar, aber ich kenne deren Werke leider nicht vollständig, so dass mir eine konkrete Stelle, wo sie etwas schreiben a la „Und wenn XY nun doch nicht beschlossen hätte, einzugreifen, dann wäre die Welt untergegangen“ oder so etwas. Diese konkreten Stellen bräuchte ich.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Du schreibst nur von Historikern, Lateinhelfer schreibt verallgemeinernd „antike Historiker“, nennt aber ausschließlich römische. Mir ist bei all dem nicht klar, ob es auch altgriechische Historiker sein dürfen: Herodot, Thukydides, Polybios, Plutarch, Diodorus Siculus etc. pp.
Das würde den Suchbereich enorm öffnen.
Unter den lateinischen ist auch noch Tacitus zu nennen, der relativ stark kontrafaktisch denkt, d.h. deutlich durchblicken läßt, daß er es eigentlich lieber ganz anders hätte.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Römische wären zu präferieren, da mein Latein viel besser als mein Altgriechisch ist, Thukydides ist mir (wenn auch nur allgemein erwähnt) bereits bei meiner Lektüre begebnet. Tacitus klingt vielversprechend, hast du eine konkrete Stelle für mich? Das wäre wirklich toll!
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Ich stöbere derzeit ein bißchen in Büchern. Den Tacitus nehme ich mir gleich vor, auch wenn ich jetzt schon sagen kann, daß solche Stellen, sofern es sie gibt, nicht leicht zu finden sind.
Bisher habe ich zwei Bücher zum Theme virtuelle Geschichte gefunden:
1. Niall Ferguson (Hrsg.): Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1999
[Wegen der Beschränkung auf das 20. Jhdt. für Dich nicht unmittelbar einträglich; enthält aber eine sehr gute Einführung des renommierten Historikers Ferguson über das theoretische Konzept einer virtuellen Geschichtsschreibung: „Unterwegs zu einer Chaostheorie der Vergangenheit“.]
2. Robert Cowley (Hrsg.): Was wäre geschehen, wenn? Wendepunkte der Weltgeschichte. Köln 2008
[Hier werden drei Fälle aus der Antike diskutiert: (a) Sokrates ist in der Schlacht von Delion 424 v. Chr. gestorben; (b) Antonius und Kleopatra haben die Schlacht von Actium 31 v. Chr. gewonnen; (c) Pontius Pilatus hat Jesus freigesprochen.]
Das sind interessante Fälle.
Gleich schaue ich mal was in den Tacitus. Aber ohne Erfolgsgarantie.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Tacitus liebt ja den Einsatz von Gerüchten in seiner Darstellung. So habe ich jetzt z.B. Annalen XV 65 gefunden: Einem solchen Gerücht zufolge habe in der Pisonischen Verschwörung nach dem [kontrafaktisch] erfolgreichen Anschlag auf Nero anschließend seinerseits Piso getötet und Seneca als neuer Kaiser eingesetz werden sollen. „Nicht ohne Wissen Senecas“, so das Gerücht.
Seneca als römischer Kaiser, daraus läßt sich doch etwas machen, oder?
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Eine, wie ich meine, sehr kluge Ankedote zu einem alternativen Geschichtsverlauf findet sich in der Pyrrhos-Biographie des Plutarch, der freilich in dem von Dir weniger geschätzten Griechisch schreibt:
[Plutarch: Große Griechen und Römer. Herausgegeben von Konrat Ziegler. 5 Bände. München 1980; 5. Bd., S. 23-25]
Diese Geschichte ist in Varianten auch von späteren Autoren, z.B. Heinrich Böll, erzählt worden.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Die Anekdote aus Plutarch fällt aber als Spekulation aus Sicht der Teilnehmer über mögliche Folgen künftiger Handlungen eigentlich nicht unter kontrafaktische Geschichtsschreibung, die ja Alternativen zu tatsächlichen historischen Ereignissen ersinnt.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Plutarch schreibt im Nichhinein, und nach Meinung der Historiker bzw. Philologen hat es dieses Gespräche nie gegeben.
Also macht Plutarch sich nachträglich Gedanken über gleich zwei mögliche alternative Geschichtsabläufe:
1. wenn Pyrrhos Erfolg gehabt hätte (= die Wunschversion des Pyrrhos),
2. wenn Pyrrhos zuhause geblieben wäre (= die Wunschversion des Kineas).
Und er verbindet beide Versionen zu einer sehr schönen Geschichte, eine, die von der Antike erhalten zu bleiben verdient.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
filix am 7.1.17 um 10:54 Uhr, überarbeitet am 7.1.17 um 10:57 Uhr (Zitieren)
Von Historikern erfundene, aber nicht als solche präsentierte Geschichten, die, wie der letzte Absatz ja deutlich macht, keine wesentliche Auswirkung auf den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse haben, in denen zudem, wie ich schon schrieb, aus Sicht der Teilnehmer über Künftiges spekuliert wird, sind einfach keine kontrafaktische Geschichtsschreibung, die ausdrücklich und als solche dargestellte Alternativen zur Vergangenheit phantasiert und deren Konsequenzen für die Gegenwart durchdenkt: Alexander erobert Rom, Hitler siegt.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Da bin ich weiterhin anderer Meinung.
1. Daß Plutarch diese Spekulationen den Teilnehmern der Ereignisse in den Mund legt, ist schon deshalb nichts Besonderes, weil in der kontrafaktischen Geschichtsschreibung ja in aller Regel dieselben Personen auftreten. Vgl. oben: Pilatus spricht Jesus frei. (Vgl. auch 5.)
2. Beide fingierten Ereignisabläufe unterscheiden sich deutlich vom tatsächlichen Ereignisablauf. Weder hat Pyrrhos auf den Angriff verzichtet, noch hatte er den erhofften Erfolg.
3. Sehr wohl unterscheiden sich die beiden fingierten Ereignisabläufe auch hinsichtlich ihres Ergebnisses, wie Kineas deutlich macht:
Die Version des Kineas erhält vielen Menschen ihr Leben.
4. Ich ahne, daß Du stärker als ich den quasi-wissenschaftlichen Aspekt der virtuellen Geschichtsschreibung betonst, während ich den Phantasie-Aspekt akzentuiere.
5. Was hältst Du von Philip K. Dicks Roman „The Man in the High Castle“, in dem Deutschland und Japan den zweiten Weltkrieg gewonnen und die USA unter sich aufgeteilt haben, wo dann aber innerhalb dieser fingierten Realität ein von den Besatzungsmächten als hochverrätisch eingestufter Roman auftaucht, in dem die USA Japan und Deutschland besiegt haben? Zählt das für Dich dazu oder nicht?
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
filix am 7.1.17 um 18:34 Uhr, überarbeitet am 7.1.17 um 23:54 Uhr (Zitieren) I
In dem aus der Gegenwart als fingiert erscheinenden, aber im Text selbst nicht als fingiert dargestellten Gespräch geht es in der Spekulation um aus Sicht der beiden Teilnehmer Künftiges, das für Plutarch (und seine Leser) eine mögliche Alternative zu mittlerweile Vergangenem ist, die aber nicht als alternative Vergangenheit dargestellt und analysiert wird. Und zwar weder auf der Ebene des Gesprächs noch des dieses einschließenden Textes.
Es werden vielmehr Auswirkungen von innerhalb des Settings gegenwärtigen Handlungsoptionen auf eine mögliche Zukunft behandelt - die erhoffte Wirkung des Gedankenexperiments auf die Entscheidungen des noch eine offene Zukunft vor sich sehenden Herrschers bleibt aus: „Durch diese Vorstellung machte Kineas dem Pyrrhos mehr Ärger, als daß er ihn von seinem Vorhaben abbrachte.“ Das Gespräch hat also an sich keine die Geschichte ändernde Wirkung, es stellt sich bloß als eine für uns fingierte, den Verlauf der folgenden Ereignisse nicht störende Episode dar.
In meinem Verständnis bietet kontrafaktische Geschichtsschreibung hingegen eine eindeutig als Fiktion präsentierte Alternative zu tatsächlichen historischen Ereignissen, deren ebenfalls spekulative Wirkung auf die Gegenwart und allenfalls eine (uns allen noch bevorstehende) Zukunft im Falle der Wissenschaft Erkenntnisgewinn (der sich oft mit starken politischen Interessen verknüpft) abwerfen soll. Plutarch müsste also z.B. fragen, wie es mit Rom als Republik weitergegangen wäre, hätten die Römer bei Beneventum verloren, um in meinem Sinn alternate history zu verfassen.
Philip K. Dicks Roman habe ich nicht gelesen, die letzte Lektüre in diese Richtung war Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, aber er erfüllt, soweit ich sehe, einmal von der Frage nach dem Unterschied der Epistemen von Literatur und Wissenschaft abgesehen, die genannten Kriterien eher als die diskutierte Anekdote.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
@ Lateinhelfer: Doch, solche Stellen wie du sie beschreibst, finde ich auch super. Schaue mal bei Sueton rein, vielleicht stolpere ich ja über etwas.
Und ihr anderen: toll, dass ich da so eine Diskussion losgetreten habe. Finde ich spannend, euch „zuzusehen“.
Re: Alternative Geschichtsverläufe - gute Stellen?
Ein Beispiel ist Nero 38 von Sueton. Dort wird Nero als Brandstifter geschildert und was er alles gesagt haben soll. Nach heutiger Forschung war Nero bei Ausbruch des Feuers gar nicht in Rom, sondern in Antium und war ganz erschüttert. Er hat bei der Brandbekämpfung aktiv mitgewirkt.