Ich beschäftige mich gerade wieder mit Cic. Phil 2,15
tuus videlicet salutaris consulatus, perniciosus meus. adeone pudorem cum pudicitia perdidisti, ut hoc in eo templo ausus sis in quo ego senatum illum, qui qoundam florens orbi terrarum praesidebat, consulebam, tu homines perditissimos cum gladiis conlocavisti?
[...] Hast du so sehr das Ehrgefühl samt der Sittsamkeit verloren, dass [...] ?
Georges
Dazu meine Fragen:
1) pudorem cum pudicitia - Das ist eine figura etymologica, oder?
2) Gibt es im Netz ein etymologisches Wörterbuch der lateinischen Sprache? Mich würde interessieren, wie der genaue Zusammenhang zwischen pudor und pudicitia ist.
3) Ich steige nicht so recht dahinter, warum Cicero an dieser Stelle überhaupt das Wort „pudicitia“ verwendet, wenn es diesen sexuellen Anklang hat. Er äußert sich zwar an anderen Stellen über Antonius' Sittenlosigkeit, aber hier verstehe ich den Zusammenhang zum Kontext nicht. Oder überinterpretiere ich hier vielleicht einfach und in der Formulierung steckt einfach nur eine Verstärkung des Gesagten (d.h. die vermutete figura etymologica)?
Ich würde sagen, es handelt sich um ein alliteratives
Hendiadyoin - wobei sich die von dir aufgeworfene Frage nach der Nahebeziehung der Termini bei Cicero stellt - hierzu etwa Rebecca Langlands „Sexual morality in ancient Rome“ S.283 ff.:
„The pairing of “pudor„ and “pudicitia„ is a very common in Cicero’s published works. They are not synonyms, but together embody the moral force of “pudor" and its translation into behaviour in the community - a package that is represented as indispensable for the respectable roman. They are the qualities that define a good citizen and conversely the lack of them defines a bad one (...)
extrapolation from the sexual is a common theme in Cicero’s characterisation of bad citizens*. (*(...)
This biographical model of sexual passivity followed by malicious activity is also used to described Catiline’s supporters (Catil. 2,7), Catiline himself (2,8), Antony (Phil 2,3 and 2,6), Rabirius (Rab.perd. 8-9), Caelius (Cael. 6))"
Hendiadyoin
rhetorische Figur; ein Begriff wird durch zwei gleichwertige, mit »und« verbundene Wörter (meistens Substantive, Nomen) ausgedrückt statt diesen in seiner logisch richtigeren syntaktischen Unterordnung -
auch für figura e. kenne ich kein Beispiel, das nicht aus Nomen + Verb bestünde
In der Überschrift ist es m.E. noch ein a. H., wenn man auch über den Begriff „Gleichwertigkeit“ debattieren kann, für die Textpassage moniert arbiter zu Recht das fehlende „und“. Wenn das Polyptoton als „Wiederholung eines Wortes bzw. Wortstammes in unterschiedlichen Flexionsformen“ definiert wird, träfe dies auf „pudorem cum pudicitia“ eigentlich zu. Als Beispiele für eine erweiterte Definition, die die figura etymologica nicht notwendigerweise aus einem Verb und einem etymologisch verwandten Nomen als Objekt (im Akk.) aufgebaut sieht, finden sich zwar „videor videre“ oder „cupide cupis“ - aber der fraglichen Formulierung nahekommende kenne ich ebenso wenig.
Re: pudor & pudicitia
Quî linguam amat Latînam am 19.3.11 um 2:24 Uhr (Zitieren)
Wie wäre es mit „figûra etymologica im weitesteten Sinne“ - kommt nur auf die Engstirnigkeit des Korrektors an - also besser nicht im Examen, wo du’s nicht wissen kannst, Anâticula.
Ich danke euch für die Mühe, die ihr euch hier gemacht habt! Ich glaube, da haben wir teilweise aneinander vorbei „geredet“, was sich wohl auf meine Unaufmerksamkeit beim Lesen der Beiträge von filix und arbiter zurückführen lässt. Auch wenn ich jetzt immer noch nicht sicher bin, was ich nun in der Arbeit schreibe, weiß ich jetzt zumindest eines: Ich sollte mich auf jeden Fall einmal gründlich mit rhetorischen Stilmitteln beschäftigen.
Und Danke nochmal an filix für den Verweis auf Rebecca Langlands „Sexual morality in ancient Rome“.
@ QLAL, ich schreibe an meiner allerersten „richtigen“ Hausarbeit (die Seminarfacharbeit, die ich in der Oberstufe schreiben musste, war keine Hausarbeit, sondern Schwachsinn hoch zehn...) und bin deshalb noch ziemlich unsicher...
Re: pudor & pudicitia
Quî linguam amat Latînam am 19.3.11 um 10:52 Uhr (Zitieren)
Moin Anaticula!
Mmmmhh... würde mich interessieren, was deine dozenten so zu einer „figura etymologica lâtius concepta“ sagen täten - meinst du, die würden einfach ne Standard definition runterbeten?
der Dozent, bei dem ich die Hausarbeit schreibe, scheint keiner zu sein, der „einfach ne Standard definition runterbeten“ würde... Er hat uns im Seminar mal eine Übersicht über einige Stilmittel (die figura etymologica ist da bestimmt auch dabei) ausgeteilt, ich hab sie aber im Moment leider verlegt... :-(
By the way... Ich hab, als ich die Anfrage gestellt habe, tatsächlich nicht mal daran gedacht, in den Kommentar zu schauen, den wir lesen durften/sollten. (Manchmal frage ich mich echt... Aber na ja... Ich schiebe dieses Versäumnis jetzt mal auf Schlafmangel... ;-) ) Ich hab gerade mal nachgeschaut, was da zu der Stelle steht.
J. T. Ramsey, Cicero, Philippics I-II, Cambridge 2003
Das ergibt Sinn.
Re: pudor & pudicitia
Quî linguam amat Latînam am 21.3.11 um 16:57 Uhr (Zitieren) I
@Anaticulam
„der Dozent...“ Hôc valdê gaudeô - ist nicht immer so. Hoffe seine Studenten eifern im nach...
Mach’s gut
QLAL
Mein Dozent hat mich auf H. Lausberg, „Handbuch der literarischen Rhetorik“ verwiesen. Er konnte die Frage nach dem Stilmittel auch nicht spontan beantworten, meinte aber, ich solle dort ruhig mal in Richtung Paronomasie/figura etymologica nachlesen...