Hallo,
bitte um Hilfe: Ich habe einen Satz vorliegen, von dem ich zwar eine Übersetzung habe, mir aber nicht ganz sicher bin, ob sie nicht auch ein bischen anders sein könnte (ihr kennt das ja bestimmt). Der Satz heist:
„vnde omne organum debet esse cum cantu, uel ad diatessaron uel ad diapente, uel ad diapason, uel ultra per diatessaron uel diapente.“
Von Frieder Zaminer wurde er folgendermaßen übersetzt:
„Deshalb muß jedes Organum mit dem Cantus verbunden sein, sei es durch Quarte, Quinte oder Oktave, oder darüber durch Quarte und Quinte.“
Wie Ihr vielleicht gemerkt habt geht es um einen musikalischen Gegenstand. Die Übersetzungen der griechischen Wörter sind zweifelsfrei. Meine Frage ist, ob „ultra per“ heißt, wie Zaminer es verstanden hat, dass die beiden Stimmen auch umgekehrt angeordnet sein können, oder ob es nicht viel mehr so zu verstehen ist, dass auch die Quarte und Quinte der nächsten Oktave als Möglichkeit in Frage kommen.
Ich hoffe, die Angaben genügen Euch, um eine „grammatikalische“ Antwort geben zu können. Vielen Dank schon mal im Voraus für Eure Bemühung.
Mit freundlichen Grüßen, Björn.
Ich hatte auch zu allererst an die nächste Oktave gedacht, und je länger ich überlege, desto mehr gefällt mir dieser Gedanke. Vor allem, wenn man die Stellung ansieht:
zuerst die Intervalle in aufsteigender Reihenfolge, und nach der Oktave „darüber hinaus“ (=ultra) wieder Quarte und Quinte. Theoretisch wäre natürlich auch die zweite vollständige Oktave denkbar, aber wenn von der Singstimme her gedacht ist, was ich vermute, ist es eben praktisch nicht möglich.
Im übrigen verstehe ich Zaminer genauso; ich kann nicht erkennen, wo du die Umkehrung der Intervalle hernimmst.
danke für Eure Hilfe und Euer Interesse.
Quinte „und“ Quarte erscheint mir aus dem Zusammenhang heraus wenig sinnvoll. Einereits weil es sich hier ausschließlich um zweistimmige Gesänge handelt, andererseits, weil eine Quarte und eine Quinte zusammen eine Oktav ergeben und die ist ja bereits im ersten Teil des Satzes berücksichtigt.
Die Interpretation im Sinne einer Stimmkreuzung stammt von Zaminer selbst. Er hat 1959 den Traktat aus dem das Zitat stammt als Faksimile heraus gebracht: Zaminer, Frieder: Der Vatikanische Organum-Traktat (Ottob. lat. 3025).
Organum-Praxis der frühen Notre-Dame-Schule und ihre Vorstufen, Tutzing 1959.
Es ist sogar so, dass in den im Traktat enthaltenen Beispielen, Fälle auftreten, in denen das Organum eine Undezime (also Quarte und Oktave) und eine Duodezime (also Quinte und Oktave [den Kommentar, Musiker könnten nicht rechnen könnt ihr euch sparen]) über dem Cantus liegt. In Bezug zu diesen Fällen sagt Zaminer ausdrücklich, dass es sich um eine Unstimmigkeit zwischen Theorie und Praxis handelte. Daher rührt meine Verweirrung.
„Musiker könnten nicht rechnen könnt ihr euch sparen“
die historische zählung in der Musik rührt daher,
daß es eben früher keine „Null“ gab, und man
Aufgrund dessen Abstände, Distanzen und Zeiträume von der Antike bis in nachmittelalterliche Zeit hinein nach der „Inklusivzählung“ gezählt hatte. Das bedeutet, dass die Werte immer um 1 größer als mathematisch korrekt waren, da der Distanz 0 der Zahlenwert „1“ zugewiesen wurde, der Distanz 1 der Zahlenwert „2“, usw.
Stört dich das „und“ zwischen Quarte und Quinte in der Übersetzung? - Im Original steht auch dort ein „vel“; kann ja sein, dass der Übersetzung die häufige Verwendung des Wortes „oder“ hässlich fand.
Ich verstehe den gegebenen Satz so, dass die zweite Stimme immer genau in Quart-, Quint- oder Oktavparallelen (wohl eher drüber als drunter), möglicherweise auch Quart oder Quint der nächsten Oktav, zum Cantus geführt wurde - muss übrigens schauderhaft geklungen haben.
Über die von dir angeführten Beispiele oder gar die Stimmkreuzung kann man dem zitierten Satz nichts entnehmen. Und wo dabei die Unstimmigkeit zwischen Theorie und Praxis herkommt, kann ich aus dem Gegebenen auch nicht erkennen.
Entschuldigt, dass ich so lang nicht da war, hatte nicht damit gerechnet, dass es noch so einer rege Anteilnahme an meinen Belangen gibt.
Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis bezeiht sich hier auf einen theoretischen Text und eine Sammlung an praktischen Beispielen, die dazu gehören. Diese dienen als eine Art Erläuterung zu dem teoretisch gesagten. Darum sind Unterschiede natürlich erklärungsbedürftig. Aber die gibt es ja nur, wenn man es anders übersetzt, als wir nun geneigt sind es zu tun.
Die hier beschriebene Praxis bezieht sich übrigens nicht mehr auf das Parallelorganum. Bei dieser frühen Form wurde tatsächlich der Cantus im Abstand einer Quinte oder einer Quarte verdoppelt. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, es handle sich dabei um Mehrstimmigkeit, ging es viel mehr darum, der Stimme mehr Volumen zu verleihen. Die Parallelführung wurde auch nicht permanent geführt sondern man begann im Einklang und führte die zweite Stimme Schrittweise in das Parallelintervall. Kling gar nicht schlecht, wenn man es kann.
In der hier vorliegenden Praxis war die Parallelbewegung zweier Stimmen bereits absolute Ausnahme. Es gibt sogar schon eine Regel für Gegenbewegung. Diese Musik ist wirklich außerordentlich schön. Desshalb ist es auch schade, dass es noch keine nennenswerte Musikproduktion in diesem Bereich gibt. Ein Chor, der noch etwas frühere Gesänge interpretiert, Gregorianischen Choral, also weitgehend einstimmige Musik, ist Vox Clamantis aus Estland. Sehr empfehlenswert.
Vielen Dank Euch, für die Hilfe und das Interesse.