Über die Ungewöhnlichkeit des persönlichen Passivs hast du sicher alles Verfügbare gelesen. Mit Rücksicht auf den folgenden Satz übersetze ich:
„Obwohl (Quamquam) du dich auf einmal als mein Feind (mihi inimicus subito) gezeigt hast (exstitisti), habe ich dennoch Mitleid mit dir (tamen me tui miseret), bist du [= der, der du bist] doch (quod) um dich (tibi) [= um den, der aus dir hätte werden können] zu beneiden (inivideris). Was für ein Mann (Qui tu vir), ihr unsterblichen Götter (di immortales), und wie bedeutend wärst du gewesen (et quantus fuisses), wenn du <nur> (si) die Gesinnung (mentum) jenes Tages (illius diei) hättest bewahren können (servare potuisses)!“
Dass Cicero in diesem Angriff auf Antonius im Aktiv (und sei es nur einer Pointe wegen) Neid einräumt, kann man sich nicht so recht vorstellen. Das klass. unpers. Passiv („tibi invidetur“ = „man beneidet dich“) hingegen macht es schwierig, das Worum des Neides auszudrücken und diese Verdopplung zu realisieren, in der Antonius zum um sich selbst (im Sinne einer verpassten Chance) Beneideten und gleichzeitig zum Gegenstand gnädigen Mitleids wird.
Die Form als 2. Pers. Konj. Perf. Aktiv aufzufassen, steht vor dem Problem, den Konjunktiv im quod-Satz und das Tempus erklären zu müssen: ~ „... weil du dich (meiner Meinung nach) <ja selbst> beneidet/mit Missgunst betrachtet haben dürftest (beneiden/mit M. betrachten dürftest) “
Wenn sibi invidere = sich nichts gönnen bedeuten kann (s. Navigium) dann macht der Konj. Perfekt, der Ciceros Meinung wiedergibt, Sinn, meine ich. („weil du dir nichts gegönnt hast“) . Mit dem Nicht-Gegönnten ist offenbar das im nächsten Satz Folgende gemeint.
Nun ist es allerdings Cicero selbst, der Ciceros Meinung wiedergibt. Insofern kann man sich hier schlecht für einen obliquen Konjunktiv aussprechen wie z. B. bei dem Satz „Caesar questus quod, cum ultro in continentem legatis missis pacem ab se petissent, bellum sine causa intulissent.“, wo Caesar zwar auch über sich selbst, aber aus der Perspektive des scheinbar unbeteiligten Erzählers berichtet.
Dennoch halte ich inivideris ebenfalls für Konj. Perfekt. Laut Georges steht quod mit „Conj.: A) zur Angabe eines Grundes, [...] 2) insbes., nach den Verben, die einen gemütlichen Zustand od. eine daraus hervorgehende Äußerung bezeichnen, wie sich freuen, sich betrüben, loben, tadeln u. a.“, was allerdings noch keine Erklärung liefert, da man nach verba affectuum ebensogut quod mit Indikativ findet.
Evtl. lässt sich hier eine Deutung anwenden, die für das quod + Konj. in dem Satz „Saepe numero admirari soleo cum hoc C. Laelio cum ceterarum rerum tuam excellentem, M. Cato, perfectamque sapientiam, tum vel maxime quod numquam tibi senectutem gravem esse senserim“ (Cic. Cato 4) vorgebracht wurde, nämlich, dass der Konjunktiv polemischer Überhöhung dient. https://archive.org/stream/studienzurlatein00ditt#page/161/mode/1up
Das Tempus erscheint mir unproblematisch. Das Perfekt kennzeichnet wie im dritten Satz darauf die Kontinuität des charakterlichen Niedergangs des Antonius, die nur vorübergehend aufgehalten wird: Quamquam bonum te timor faciebat, non diuturnus magister officii, inprobum fecit ea, quae, dum timor abest, a te non discedit, audacia.
Die Bedeutung des tibi invideris wird sich wohl wie bei Ovid „invidet ipsa sibi vitatque, quod expedit illi, | vestra soror summo concubuisse deo.“ (fasti 2, 591 f.) vom ursprünglichen „beneiden“ entfernt haben.
Schließlich kann man noch das Metrum als Indiz für einen Konj. Perf. und gegen einen Ind. Pass. Prs. werten: quod tibi invīdĕris bildet einen Dikretikus, q. t. invĭdēris einen (eher gemiedenen) Tritrochäus.
Der Neue Menge führt in §542 (quod nach verba affectum) unter 2) (Verben und Ausdrücke, die einen faktischen quod-Satz [auch mit Konj.] regieren können) für „aliquem miseret alicuius“ just die diskutierte Stelle Phil. 2,90 als einzige an. Das hilft nicht viel.
Die Überlegungen zur Bedeutungsverschiebung und Klausel finde ich überzeugend. Zum polemischen quod-causale: Wie soll hier der Konjunktiv funktionieren, der, folgt man der Auffassung im verlinkten Text, einmal Verres Auskunft als Ausrede brandmarkt, im anderen Falle das Unglaubliche an Catos Unbeschwertheit im Alter herausstellt? Etwa: „... dennoch Mitleid mit dir habe, weil du dir - man glaubt es kaum - <etwas> nicht gegönnt/<etwas> versagt hast“?
In der Tat, von einem polemischen Konjunktiv zu sprechen, erscheint hier nicht angemessen. Ebensowenig bei der Stelle aus dem Cato maior. Das hat wohl auch oben angeführten Armin Dittmar bewegt, in einem späteren Aufsatz eine andere Zuordnung vorzunehmen:
Dittmar führt dazu ein Schema ein, demzufolge ein von einem Verbum affectus regierter A. c. i. einen „excitiven“ Affekt, ein Konjunktiv einen „depressiven“ Affekt und ein Indikativ einen „ataraktiven“ Zustand ausdrückt.
Zu klären wäre, ob die diesen drei Affekt-Modi beigelegten Interpretationen nicht zu dehnbar sind, gerade was die uns interessierende Gegenüberstellung von „Ataraktivus“ und „Depressivus“, also Indikativ und Konjunktiv, betrifft, um be- bzw. widerlegbar zu sein. Sprich: Es müssten Fälle ermittelt werden, in denen sich ein Indikativ nicht ebensogut als „Depressivus“ und ein Konjunktiv als „Ataraktivus“ deuten ließe.
Ja, der Hinweis darauf, dass hier eine aus dem Griechischen übernommene Formenbildung vorliegen könnte, stützt nur die Bestimmung des invideris als Ind. Präs. Passiv. Das Hauptargument gegen diese These hat filix selbst genannt, nämlich dass ein persönliches Passiv von invidere in klassischer Prosa sonst nicht vorkommt. Ein weiteres Gegenargument liegt im Metrum. Gegen eine Bestimmung des invideris als Konj. Perf. Akt. spricht bislang, dass wir für den Konjunktiv keine befriedigende Erklärung finden konnten.
Ich komme letztlich zu der Vermutung, dass der Konjunktiv hier Erstaunen, Fassungslosigkeit, Entrüstung über den im Kausalsatz vermittelten Grund kennzeichnen soll. Der Sprecher distanziert sich vom Satzinhalt, indem er ihn in indirekter Rede widergibt. Ähnlich wird zuweilen im Deutschen verfahren.
Entsprechend schlage ich als Übersetzung für den fraglichen Satz „quamquam mihi inimicus subito exstitisti, tamen me tui miseret quod tibi invideris.“ vor: „Obwohl du plötzlich feindselig gegen mich geworden bist, bedaure ich dich doch darum, dass du [die Chance zur Umkehr ausschlagend] dein eigener Widersacher geblieben sein sollst.“