Hallo! Man hat mich mit meiner Frage an dieses Forum und insb. Filix empfohlen. Über Hilfe bei meiner Frage würde ich mich sehr freuen!
Es geht um einen Auszug aus dem Liber Sancti Iacobi (Codex Calixtinus) aus dem 12 Jh, in Spanien verfasst. Ich interessiere mich für die Beschreibung der Jakobsmuschel in diesem Text. Der Auszug liegt mir in zwei Übersetzungen vor. Eine davon ist auf Deutsch, die andere auf Englisch. Könnte mir jemand mit den Konnotationen dreier bestimmter Vokabeln helfen oder mit Nachschlagwerken, die mir helfen könnten?
clipeus - hier übersetzt als Schild und Shield
testa - Ziegelstein, Schale (von Tier), hier übersetzt als Ziegel, Muschelpanzer und Shell
munire - mauern/befestigen, hier übesetzt als festigen und protect
Dies ist der Lateinische Text:
Sunt igitur pisces quidam in beati lacobi mari, quos vulgus veras vocat, habentes duos clipeos ex utraque parte, inter quos velut inter duas testas piscis in effigie ostree latet. Que scilicet testa velut digiti manus sculpuntur, quas Provinciales nidulas vocant, Franci crusillas nominant, quasi peregrini a beati Iacobi liminibus redientes, in capiis suis consuunt, et ad decus apostoli et memoriam eius, in signum tanti itineris ad propria deferunt cum magna exultacione. Per duos igitur clipeos quibus piscis ex utraque parte munitur, duo caritatis precepta designantur, quibus vere lator vitam suam debet munire, id est deum super omnia diligere et proximum suum sicut seipsum amare.
-- > was heißt silicet testa?
Dies ist die deutsche Übersetzung:
Im Meer bei Santiago gibt es Fische, die gemeinhin vieiras genannt werden, sie haben auf beiden Seiten einen Schild, zwischen denen sich – gleichsam wie zwischen zwei Ziegeln – ein der Auster ähnlicher Fisch verbirgt. Die Muschelpanzer sind wie Finger einer Hand geformt – die Provenzalen nennen sie nidulas, die Franzosen crusillas – ; die Pilger heften sie bei der Rückkehr vom Grab des heiligen Jakobus an ihre Pilgermäntel zur Ehre des Apostels sowie zu dessen Gedächtnis und bringen sie als Zeichen der langen Reise mit großer Freude nach Hause zurück. Die zwei Schilde der Muschel bezeichnen die zwei Vorschriften der Nächstenliebe, mit denen der Träger sein Leben festigen muß; d.h. Gott über alles und den nächsten wie sich selbst zu lieben.
--> warum wird hier von Muschelpanzer gesprochen? Im Satz davor wurde testa mit Ziegel übersetzt?
Dies ist die englische Übersetzung:
There are some fish in the sea of Blessed James, which the people call veras, having two shields, one on either side, between which the fish is covered as if between two shells in the likeness of an oyster. These shells are shaped like the fingers of a hand, and the Provençals call them nidulas and the French call them crusillas, and the pilgrims returning from the threshold of Blessed James sew them on their capes, and they wear them back to their own country with great exultation in honor of the apostle and in his memory and as a sign of such a great journey. Therefore, the two shields with which the fish is protected, one on either side, represent the two laws of charity with which the bearer must truly protect his life: that is, to love God above all things and to love one’s neighbor as oneself.
--> Im letzten Satz wir von „shields with which the fish is protected“ gesprochen. Kann der Satz auch so übersetzt werden, dass der Fisch zwischen zwei Schildern(/Ziegeln/Konstruktionselementen) eingemauert ist?
Es geht mir vorallem um mitiltärische und architektonische Konnotationen dieser Wörter. Welche der Übersetzungen ist treffender? Kann man testa mit Ziegel im Mittelalter übersetzen, und hat clipeus gezwungenermaßen eine sehr militärische Konnotation? Was bedeutet clipeus, wenn es nicht ein Schild zum kämpfen ist? Soweit ich weiß kann es ja auch so eine Art Brust-Mantelspange sein... Ist munire eher architektonisch oder militärisch aufzufassen? Im letzten Satz werden clipeus und munire zusammen gelesen... Ist es hier die Idee, dass man sein Leben (methaphorisch als eine Art Festung) mit Schilden verteidgt oder dass das Leben (die Festung) aus zwei Ziegeln/Steinen gemauert/befestigt werden soll? Kann clipeus auch sowas wie ein Konstruktionselement sein?
Über etwas Hilfe bei diesen Fragen würde ich mich sehr freuen!
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
rex am 20.5.18 um 10:26 Uhr, überarbeitet am 20.5.18 um 10:27 Uhr (Zitieren) II
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
klaus am 20.5.18 um 11:27 Uhr, überarbeitet am 20.5.18 um 11:29 Uhr (Zitieren)
Wer kann mir bitte die Grammatik in diesem Satz erklären?
Que (mittellateinisch)= quae, nehme ich an.
Aber warum steht „testa“ als Subjekt im Singular, wenn das Prädikat in der 3. Person Plural steht?
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Vielen Dank Rex, das sind sehr interssante Hinweise für mich! Da sowohl clipeus als auch testa für die Beschreibung der Muschelschale verwendet werden, versuche ich zu verstehen, was diese Begriffe bedeuten, also quasi was die Schnittmenge ist und was die Unterschiede sind.
Wenn clipeus also eine runde vom Menschen gemachte Fläche ist, die schützt (Militär) und ziert (Architektur/Militär) und mit einem Bild verknüpft wird, was ist testa dann?
Soweit ist es verstehe kann testa sowohl natürliche Schalen/Hüllen: Eierschale, Muschelschale, Schädel etc. konnotieren, als auch Keramikgefäße und keramische Erzeugnisse. Wäre testa damit eher eine rund-gewölbte Naturform?
Eine andere Frage:
Que scilicet testa velut digiti manus sculpuntur
Hätte man hier nicht stattdessen auch formare benutzen können? Die Stelle wurde übersetzt als: wie Finger einer Hand „geformt“ oder „shaped“. Verweist sculpurare nicht stärker auf einen bildhauerischen Prozess? Also auf einen Urheber der Form (hier wohl Gott als Schöpfer)?
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Achso... und wie geht diese Bedeutung mit dem gebrannten „Ziegel“ zusammen, der ist zwar keramisch aber weder hüllenartig noch rund? Leider konnte ich diese Bedeutung bisher auch nicht im Mittellatein-Wörterbuch finden, sondern nur auf pons.de.
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
filix am 20.5.18 um 12:21 Uhr, überarbeitet am 20.5.18 um 12:25 Uhr (Zitieren) I
Die Übersetzung von „testa“, das ja schon in der Antike die Schale der Schalentiere bezeichnet, mit „Ziegel“ ist schlicht und einfach verfehlt. Ich nehme an, dass dieses Lebewesen nicht von ungefähr als „piscis“ bezeichnet wird, denn die Pilgermuschel kann sich schwimmend fortbewegen, ist also nicht eingemauert. Auch „munire“ wird schon in der Antike im übertragenen und bildlichen Sinn verstanden, von Wehranlagen und Festungen ist hier nicht zwingend die Rede.
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Hmm... die erste Bezeichnung der Schale ist clipeus. Und testa wird mit velut dann ja als Vergleich herangezogen? Kann man das so verstehen, dass der Autor die Jakobsmuschel als Fisch und nicht als Muschel einordnet und deswegen eine andere Bezeichnung braucht? Schade, ich suche ja so etwas wie im dt. das Muschelhaus oder die Schale als Gehäuse. Und ich dachte das wäre in testa oder munire irgendwie enthalten...
Die militärische Konnotation ist aber schon enthalten, oder? Clipeus bedeutet auch den runden Schild des Soldaten und nicht nur im übertragenen Sinne soetwas wie ein Medaillon? Befestigt sein und sich bewegen können schließt sich ja eigentlich auch nicht gegenseitig aus? Eben wie eine Schildkröte, oder eine Kampfformation mit Schilden etc.
Vielleicht zum Kontext meiner Frage, da das sicher etwas suggestiv wirkt. Es handelt sich hierbei um die früheste Beschreibung des Tragens von Jakobsmuscheln als Pilgerzeichen/Kultobjekte im christlichen Kontext. Mich interessieren als Kunsthistorikerin daher alle möglichen Beudeutungen die vielleicht auch nur unterschwellig mitschwingen... Es gibt vormals keine (mir bekannte) schriftliche Tradition, wie diese Objekte bezeichnet werden und wie sie verstanden wurden.
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Verglichen wird die Funktion der Schale mit der bei der Auster, die allerdings in der Regel unbeweglich ist. Dass „piscis“ hier als Übergriff fungiert, ist möglich (ob und wie der Autor Plinius rezipiert hat, könnte man prüfen), dennoch scheint mir „Ziegel“ verfehlt. Dass es um Schutz geht ist offensichtlich, trotzdem finde ich es übertrieben, hier einen immobilen Wehrbau in den Text lesen zu wollen. Auch der „clipeus“ (neben „clipeum“), der eigentlich bildhafte Ausdruck, schützt in der Regel bewegliche Truppen.
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Der Körper des Adligen war nach der Rettung über und über mit Muscheln bedeckt. So wurde die Muschel zum Symbol für Schutz und erhielt den Namen Jakobsmuschel http://relilex.de/jakobsmuschel/
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
testa ist zunächst jedes aus Ton gebrannte Gefäß, da diese auf der Töpferscheibe hergestellt wurden, waren sie natürlich rund.
Dachziegel waren auch rund - im Querschnitt u-förmig.
Re: Mittellatein -- Frage zu Nuancen in Übersetzung aus Liber Sancti Iacobi
Hmm! Achso, sehr interessant. Vielen Dankt, arbiter und klaus! Ich dachte die ganze Zeit an massive Ziegelsteine. Jetzt verstehe ich auch den Zusammenhang mit Eier/Muschel/Hirnschale besser. Gleichzeitig sind letztere aus hellem kalkigem Material und Töpferware ja eigentlich etwas ganz anderes. Die Analogie ist also vor allem in der schalenartigen Form? Oder steckt da auch etwas ‚einschließendes‘ drin?