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Senecas „Epistulae morales ad Lucilium“ — 1066 Aufrufe
Sehr geehrte Forum-Mitglieder,
da ich demnächst eine Lateinschulaufgabe zu Senecas „Epistulae morales ad Lucilium“ schreiben werde, hat mein Lehrer uns einen sehr umfangreichen Übersetzungstext gegeben. Leider bin ich mir aber hinsichtlich der Übersetzung nicht wirklich sicher. Daher würde ich mich sehr freuen, wenn ihr mir die Texte korrigieren könntet. Ich hoffe, dass es in Ordnung geht und nicht gegen jegliche Forumregeln verstößt, wenn ich täglich einen kleinen Teil meiner Übersetzung hier hochlade.
Text:
I. SENECA LUCILIO SUO SALUTEM
(1) Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat collige et serva. Persuade tibi hoc sic esse ut scribo: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura quae per neglegentiam fit. Et si volueris attendere, magna pars vitae elabitur male agentibus, maxima nihil agentibus, tota vita aliud agentibus.
(2) Quem mihi dabis qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intellegat se cotidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeterit; quidquid aetatis retro est mors tenet. Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas complectere; sic fiet ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris.
(3) Dum differtur vita transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit quicumque vult. Et tanta stultitia mortalium est ut quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, imputari sibi cum impetravere patiantur, nemo se iudicet quicquam debere qui tempus accepit, cum interim hoc unum est quod ne gratus quidem potest reddere.
(4) Interrogabis fortasse quid ego faciam qui tibi ista praecipio. Fatebor ingenue: quod apud luxuriosum sed diligentem evenit, ratio mihi constat impensae. Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum dicam; causas paupertatis meae reddam. Sed evenit mihi quod plerisque non suo vitio ad inopiam redactis: omnes ignoscunt, nemo succurrit.
(5) Quid ergo est? non puto pauperem cui quantulumcumque superest sat est; tu tamen malo serves tua, et bono tempore incipies. Nam ut visum est maioribus nostris, ‚sera parsimonia in fundo est‘; non enim tantum minimum in imo sed pessimum remanet. Vale.
Übersetzung:
I. Senca grüßt seinen Lucilius:
(1) Mach es so, mein Lucilius: befreie dich für dich und sammle und bewahre die Zeit, die bis jetzt entweder weggetragen oder gestohlen oder entfallen wurde. Überzeuge dich, dass dieses so ist wie ich schreibe: gewisse Zeit wird uns entrissen , gewisse entzogen, gewisse entrinnen. Dennoch ist der schändlichste Verlust der, der durch Vernachlässigung geschieht. Und wenn du achtgeben willst, entgleitet ein großer Teil des Lebens denen, die schlecht handeln, der größte denen, die nichts tun, das ganze Leben den, die ein anderes tun.
(2) Wen wirst du mir zeigen, der der Zeit irgendeinen Wert setzt, der den Tag schätzt, der bemerkt, dass er täglich stirbt? In diesem täuschen wir uns nämlich, dass wir den Tod vorausschauen: ein großer Teil von ihm geht schon vorbei; was auch immer der Zeit zurück ist, hält der Tod. Tue also, mein Lucilius, was du schreibst zu tun, umfasse alle Stunden; so wird es geschehen, dass du weniger am morgigen Tag hängst, wenn du gegenwärtig die Hand hineinwirfst.
(3) Während aufgeschoben wird, läuft das Leben vorüber. Alles, Lucilius, ist fremd, nur die Zeit ist unser; die Natur hat uns in den Besitz dieser einen flüchtigen und schlüpfrigen Sache geschickt, aus dem, wer auch immer es will, vertreibt. Und es ist eine so große Dummheit der Sterblichen, dass sie sich an Schuld anrechnen lassen, was am geringsten und billigsten, aber ersetzbar ist, wenn sie es erreicht haben, niemand, der Zeit empfangen hat, ist der Meinung, dass er irgendetwas schulde, während dieses unterdessen das einzige ist, dass nicht einmal ein Dankbarer zurückgeben kann.
(4) Du wirst vielleicht fragen, was ich mache, der ich dir diese da vorschreibe. Ich will aufrichtig gestehen: was bei einem Wohlhabenden, aber Sorgfältigen geschieht, die Buchführung über den Aufwand steht mir fest. Ich kann nicht sagen, nicht zu verlieren, aber was ich verliere und weshalb und auf welche Art und Weise, werde ich sagen; die Gründe meiner Armut werde ich Rechenschaft wiedergeben. Aber mir geschieht es wie den meisten, die nicht durch ihre Fehler zur Not geführt wurden: alle verziehen, niemand kommt zur Hilfe.
(5) Was ist also? Ich halte nicht den für arm, wem, wie wenig auch immer übrig ist, genug ist; ich will lieber, dass du dennoch deines bewahrst und du wirst in guten Zeiten anfangen. Denn wie es unseren Vorfahren schien, ist die Sparsamkeit zu spät am Grund; denn am Boden ist nicht nur sehr wenig, sondern es bleibt sehr schlechtes. Leb wohl.
Vielen Dank im Voraus,
Ovid
Re: Senecas „Epistulae morales ad Lucilium“
hs35 am 26.1.25 um 14:10 Uhr, überarbeitet am 26.1.25 um 14:23 Uhr (
Zitieren)
Ita fac, mi Lucili: vindica te tibi, et tempus quod adhuc aut auferebatur aut subripiebatur aut excidebat collige et serva.
So mache es, mein L. : Mach dich frei für dich und sammle und rette die Zeit, die man dir
bisher entweder genommen oder heimlich gestohlen hat oder die dir verloren ging.
Persuade tibi hoc sic esse ut scribo: quaedam tempora eripiuntur nobis, quaedam subducuntur, quaedam effluunt. Turpissima tamen est iactura quae per neglegentiam fit.
Sei überzeugt, das es sich so verhält wie ich es schreibe: einige Zeiten/einiges an Zeit entreißt man uns, einiges stielt man uns, einiges entschwindet uns. Dennoch ist der
schändlichste Verlust der, der aus Nachlässigkeit/Unachtsamkeit entsteht.
Et si volueris attendere, magna pars vitae elabitur male agentibus, maxima nihil agentibus, tota vita aliud agentibus.
Und wenn du aufpassen/genau hinschauen möchtest, entschlüpft ein großer Teil des Lebens denen, die schlecht handeln, der größte Teil denen, die nichts tun, das gesamte Leben denen, die anderes tun.
(2) Quem mihi dabis qui aliquod pretium tempori ponat, qui diem aestimet, qui intellegat se cotidie mori? In hoc enim fallimur, quod mortem prospicimus: magna pars eius iam praeteriit; quidquid aetatis retro est mors tenet.
Wen willst du mir geben/ als Beispiel nennen, der irgendeinen Wert auf Zeit legt,
der den Tag schätzt, der erkennt, dass er täglich stirbt? Denn darum täuschen wir uns,
dass wir nach dem Tod Ausschau halten: ein Teil von ihm ist schon vergangen; alles von
Leben, was hinter uns liegt, hält der Tod fest/ gehört dem Tod.
Fac ergo, mi Lucili, quod facere te scribis, omnes horas complectere; sic fiet ut minus ex crastino pendeas, si hodierno manum inieceris.
Tu also, lieber L., was du, wie du schreibst, tust, schließe alle Stunden in deine Arme;
so wird es dazu kommen, dass du weniger vom Morgen abhängig bist, wenn du
Hand an das Heute legst/das Heute anpackst.
(3) Dum differtur vita transcurrit. Omnia, Lucili, aliena sunt, tempus tantum nostrum est; in huius rei unius fugacis ac lubricae possessionem natura nos misit, ex qua expellit quicumque vult.
Während man das Leben aufschiebt, läuft es an einem vorbei. Alles, L., ist fremd/gehört Fremden, nur die Zeit gehört uns; die Natur hat uns den Besitz dieser einzigen flüchtigen und schlüpfrigen Sache geschickt/zukommen lassen, aus dem uns vertreibt/vertreiben kann, der es möchte.
Et tanta stultitia mortalium est ut quae minima et vilissima sunt, certe reparabilia, imputari sibi cum impetravere patiantur, nemo se iudicet quicquam debere qui tempus accepit, cum interim hoc unum est quod ne gratus quidem potest reddere.
Und die Dummheit der Menschen ist so groß, dass sie sich für das verantwortlich machen lassen, was sehr unbedeutend und wertlos ist, was sicherlich ersetzbar ist, wenn sie es erreicht haben.
Niemand meint, er sei, etwas schuldig, der Zeit bekommen hat, wenn sie inzwischen das
einzige ist, das er nicht einmal aus Dankbarkeit zurückgeben kann.
(4) Interrogabis fortasse quid ego faciam qui tibi ista praecipio. Fatebor ingenue: quod apud luxuriosum sed diligentem evenit, ratio mihi constat impensae. Non possum dicere nihil perdere, sed quid perdam et quare et quemadmodum dicam; causas paupertatis meae reddam.
Vlt. wirst du fragen, was ICH tue, der ich dir solche Anweisungen gebe. Ich sage es frei heraus: was bei einem Ausschweifenden, aber Gewissenhaften geschieht, bei mit stimmt die Kostenrechnung.
Ich kann nicht behaupten nichts zu verlieren, aber was ich verliere und wie, will ich sagen;
die Ursachen meiner Armut will ich nennen.
Sed evenit mihi quod plerisque non suo vitio ad inopiam redactis: omnes ignoscunt, nemo succurrit.
Aber mir passiert, was den Meisten (passiert ist), die ohne eigenes Verschulden verarmt sind: alle sind nachsichtig, aber niemand hilft.
(5) Quid ergo est? non puto pauperem cui quantulumcumque superest sat est; tu tamen malo serves tua, et bono tempore incipies. Nam ut visum est maioribus nostris, ‚sera parsimonia in fundo est‘; non enim tantum minimum in imo sed pessimum remanet. Vale.
Was nun also? ich halte nicht den für arm, dem genügt, wenig auch immer übrig ist;
ich möchte lieber, dass du das Deine aufbewahrst und du wirst in guten Zeiten damit beginnen. Denn wie es unseren Vorfahren erschien/vorkam:
zu spät kommt die Sparsamkeit am Boden (des Gefäßes = wenn man alles aufgebraucht hat). Denn ganz unten bleibt nicht nur sehr wenig zurück, sondern sehr schlechtes.
Machs gut!
Re: Senecas „Epistulae morales ad Lucilium“
Vielen lieben Dank für Ihre schnelle Antwort!
Eine kleine Nachfrage: Ist meine Übersetzung „falsch“ bzw. so „schlecht“, dass man sie nochmal komplett überarbeiten musste?
Re: Senecas „Epistulae morales ad Lucilium“
Urteile selbst, indem du vergleichst!