Latein Wörterbuch - Forum
Martial 5.58 : Ist Postumus ein Müßiggänger? — 686 Aufrufe
Nescio am 20.3.25 um 7:50 Uhr (Zitieren)
Cras te victurum, cras dicis, Postume, semper.
Dic mihi, cras istud, Postume, quando venit? Quam longe cras istud, ubi est? aut unde petendum?
Numquid apud Parthos Armeniosque latet? Iam cras istud habet Priami vel Nestoris annos. Cras istud quanti, dic mihi, possit emi?
Cras vives? hodie iam vivere, Postume, serum est: Ille sapit, quisquis, Postume, vixit heri.

Bei meiner Suche nach Interpretationen dieses Gedichts fand ich die Aussage, dass „hier das Lebensmotto (die Prokrastination/der Müßiggang) von Postumus beschrieben“ werde. Ist das so?

Bisher bin ich davon ausgegangen ,dass „vivere“ hier so viel bedeutet wie „das Leben genießen“, wie z.B. in „vivamus, mea Lesbia“. Demzufolge würde sich Martials Kritik aber nicht gegen „Müßiggang“ richten, sondern, eher im Gegenteil, gegen das Aufschieben von Genuss.

Was ist richtig?
Re: Martial 5.58 : Ist Postumus ein Müßiggänger?
hs35 am 20.3.25 um 11:09 Uhr (Zitieren)
Hier 2 KI-Interpretationen, die ich für bedenkenswert und zielführend halte:

A) Deutung als Prokrastination:

Martial kritisiert Postumus dafür, dass er stets auf den „nächsten Tag“ wartet, um zu leben – aber dieser „morgen“ kommt nie wirklich. In den Versen fragt er nach dem „Cras“, dem „Morgen“ (der Zukunft), und stellt fest, dass dieses „Cras“ immer weiter in die Ferne rückt. Er fragt sich, wo es verborgen ist, und stellt fest, dass es inzwischen so alt wie Priamos oder Nestor (beides alte, mythologische Figuren) sei. Das ist eine deutliche Anspielung darauf, dass Postumus immer weiter auf das Leben wartet, aber niemals wirklich handelt, um zu leben oder zu genießen. In diesem Sinne kritisiert Martial den Aufschub des Lebens und den permanenten Aufschub von Vergnügen oder Genuss, was zur „Prokrastination“ führen kann.

Deutung als Aufschub des Genusses:

Die andere Interpretation, die du ansprichst, dass „vivere“ hier im Sinne von „Leben genießen“ zu verstehen ist, ist ebenfalls gültig. In vielen Kontexten im lateinischen Gedichteschreiben, vor allem bei Dichtern wie Catull, wird „vivere“ tatsächlich mit „leben“ im Sinne von „das Leben genießen“ verwendet. In diesem Fall würde die Kritik Martials darauf abzielen, dass Postumus immer „morgen“ leben will, aber nie heute – er wartet auf den richtigen Moment, um das Leben zu genießen. Wenn er jedoch nie handelt, wird dieser Moment nie kommen, und der wahre Genuss des Lebens bleibt ihm verwehrt.
Fazit:

Beide Interpretationen sind also im Grunde richtig, aber der Schwerpunkt des Gedichts liegt eher auf der Kritik an der Aufschieberei des Lebens (Prokrastination), da Martial Postumus fragt, wann das „Cras“ eigentlich kommt und warum er nicht jetzt lebt. Der Gedichttext setzt sich kritisch mit der Idee auseinander, dass man das Leben oder den Genuss immer auf später verschieben sollte.


B) Der Text kritisiert tatsächlich nicht den Müßiggang oder die Prokrastination im Sinne von Faulheit oder Nichtstun. Vielmehr geht es um das ständige Aufschieben des Lebensgenusses auf „morgen“ (cras).

Ihre Interpretation von „vivere“ als „das Leben genießen“ (ähnlich wie in Catulls „vivamus, mea Lesbia“) ist völlig richtig. Martial kritisiert Postumus dafür, dass er den Genuss des Lebens immer auf ein „morgen“ verschiebt, das niemals kommt.

Die Kernaussage des Gedichts ist im letzten Vers zu finden: „Ille sapit, quisquis, Postume, vixit heri“ - „Jener ist weise, Postumus, der bereits gestern gelebt hat (das Leben genossen hat)“. Martial vertritt hier eine epikureische Lebensphilosophie: Genieße das Leben jetzt, denn das „morgen“ ist ungewiss und könnte nie kommen.

Der Dichter verspottet die Absurdität des ewigen Aufschubs durch rhetorische Fragen wie „Wo ist dieses Morgen?“ und „Versteckt es sich bei den Parthern und Armeniern?“ Er gibt dem „morgen“ humorvoll das Alter des Priamus oder Nestor (also ein mythisch hohes Alter) - ein weiterer Hinweis darauf, dass dieses „morgen“ unerreichbar ist.

Es geht also nicht um Kritik an Müßiggang, sondern um eine Aufforderung zum carpe diem - nutze den Tag, genieße das Leben jetzt, anstatt es auf ein ungewisses Morgen zu verschieben. Dies ist ein klassisches Thema in der römischen Dichtung, das sich auch bei Horaz und anderen findet.


Es geht weniger darum, dass Martial „das Leben genießen“ als solche kritisiert, sondern vielmehr darum, dass das Warten auf den richtigen Zeitpunkt, das ständige Aufschieben, das Leben am Ende verhindert.


Re: Martial 5.58 : Ist Postumus ein Müßiggänger?
Nescio am 20.3.25 um 18:52 Uhr (Zitieren)
Danke, hs37, für deine Antwort.

Wäre aber vielleicht doch noch irgendein MENSCH bereit, meine Auffassung, dass

1) „vivere“ hier so viel bedeutet wie „das Leben genießen“ und
2) es somit hier nicht um Prokrastination geht (denn Prokrastination ist das Aufschieben von unangenehmen Aufgaben),

zu bestätigen oder aber mich eines Besseren zu belehren?
Re: Martial 5.58 : Ist Postumus ein Müßiggänger?
hs35 am 21.3.25 um 8:29 Uhr (Zitieren)
Wer ständig an die Zukunft denkt und damit nicht im HIC ET NUNC lebt,
kann das Leben nicht wirklich genießen.
Denn Glück ist Gegenwart ohne an Vergangenheit und Zukunft zu denken,
sagte mal ein Philosoph. Sein Name ist mir entfallen.

vgl. Seneca:
„Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen.“ (De Brevitate Vitae, 1.3)

Ein weiteres Zitat, das die Bedeutung der Gegenwart betont, ist:

„Das Leben ist lang genug, und es ist uns reichlich bemessen, um die größten Dinge zu vollbringen, wenn es nur gut verteilt würde; wenn es aber durch Luxus und Unachtsamkeit verrinnt, wenn es für nichts Gutes ausgegeben wird, dann merken wir erst in der letzten Not, dass es vorbei ist.“ (De Brevitate Vitae, 3.1)

Ludwig Wittgenstein hat ähnliche Gedanken formuliert, indem er sagte: „Wer in der Gegenwart lebt, lebt in der Ewigkeit.“
Re: Martial 5.58 : Ist Postumus ein Müßiggänger?
hs35 am 21.3.25 um 9:57 Uhr (Zitieren)
PS:
Hier sind einige Zitate von Marc Aurel aus seinen „Selbstbetrachtungen“ (auch bekannt als „Meditationen“), die sich mit dem Thema Gegenwart, Zeit und Glück befassen:
„Übersieh alles andere und halte allein an diesen wenigen Grundsätzen fest; und überdies bedenke, dass jeder nur dieses gegenwärtige, verschwindend kurze Leben lebt. Alles übrige ist entweder schon vergangen oder ungewiss.“

„Wirf alles andere weg und halte nur an diesen wenigen Lehren fest. Und erinnere dich ferner daran, dass jeder nur die Gegenwart, diesen flüchtigen Augenblick lebt; alles übrige ist entweder schon gelebt oder liegt im Ungewissen.“

„Konzentriere deine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart.“

„Denn weder die Vergangenheit noch die Zukunft beeinträchtigen einen Menschen, sondern immer nur die Gegenwart.“

„Menschen suchen Rückzugsorte für sich auf dem Land, am Meer, in den Bergen. Auch du sehnst dich gewöhnlich nach solchen Orten. Doch all das ist höchst gewöhnlich, da es dir freisteht, dich jederzeit in dich selbst zurückzuziehen. Nirgendwo kann ein Mensch ruhiger und ungestörter zurücktreten als in seine eigene Seele.“

Diese Gedanken von Marc Aurel reflektieren seine stoische Philosophie und die Wichtigkeit, im gegenwärtigen Moment zu leben, ohne sich von Sorgen über Vergangenheit oder Zukunft ablenken zu lassen.
Re: Martial 5.58 : Ist Postumus ein Müßiggänger?
Josef am 21.3.25 um 10:13 Uhr (Zitieren)
Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie allein ist die eigentlich genossene Zeit.
(Schopenhauer)
Re: Martial 5.58 : Ist Postumus ein Müßiggänger?
Nescio am 23.3.25 um 16:05 Uhr (Zitieren)
Vielen Dank für diese aufschlussreichen Hinweise und Ausführungen.
 
Um einen Text zu verfassen, müssen Sie zunächst über eine Plattform der Wahl Ihre Identität mit einem Klick bestätigen. Leider wurde durch das erhöhte Aufkommen von anonymen Spam und Beleidigungen diese Zusatzfunktion notwendig. Auf der Seite werden keine Informationen der sozialen Netzwerke für andere sichtbar oder weitergegeben. Bestätigung über Google Bestätigung über Facebook Bestätigung über AmazonBei dem Verfahren wird lediglich sichergestellt, dass wir eine eindeutige nicht zuordnebare Identität erhalten, um Forenmissbrauch vorzubeugen zu können.
Antwort
  • Titel:
  • Name:
  • E-Mail:
  • Bei freiwilliger Angabe der E-Mail-Adresse werden Sie über Antworten auf Ihren Beitrag informiert. Dies kann jederzeit beendet werden. Kontrollieren Sie ggf. den Spam-Ordner.
  • Eintrag:
  • Grundsätzliches: Wir sind ein freies Forum, d.h. jeder Beteiligte arbeitet hier unentgeltlich. Uns eint das Interesse an der Antike und der lateinischen Sprache. Wir gehen freundlich und höflich miteinander um.

    Hinweise an die Fragesteller:

    1. Bitte für jedes Anliegen einen neuen Beitrag erstellen!
    2. Bei Latein-Deutsch-Übersetzungen einen eigenen Übersetzungsversuch mit angeben. Das gilt vor allem dann, wenn es sich um Hausaufgaben oder Vergleichbares handelt.
      Eine übersichtliche Gliederung erleichtert den Helfern die Arbeit.
      Je kürzer die Anfrage ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass schnell geantwortet wird.
    3. Bei Deutsch-Latein-Übersetzungen bitte kurz fassen. Für die Übersetzung eines Sinnspruchs wird sich immer ein Helfer finden.