Anmerkung zur Vokabel „Attribut“: Jede Ergänzung eines Nomens durch andere Nomina ist eine „Beifügung“, ein Attribut:
John, mein bester Freund
Der fleißige Müller
Schraube Nummer sieben
das Pferd des Hauptmanns
eine wohlduftende, im Betrachter einen unwillkürlichen Schauer des Glücks hervorrufende Rose aus Shiraz
Offenbar können Attribute sehr vielgestaltig sein. Die häufigsten Typen sind
- die Ergänzung eines Substantivs durch ein anderes im gleichen Casus (Fall), Numerus (Zahl) und, wenn möglich, Genus (Geschlecht): Friedrich der Große, der Direktor Meier. Diese Spezialform des Attributs heißt Apposition („Heranstellung“).
- die Ergänzung durch ein Nomen im Genetiv, das Genetiv-Attribut. Tatsächlich ist dies die ursprünglichste Aufgabe des Genetivs (des „Abstammungs- oder Zugehörigkeits-Falles“) gewesen: Der Sohn des Schmieds, das Haus der Familie. Später konnten Genetiv-Attribute auch andere Aufgaben als das Anzeigen der Herkunft oder des Besitzes übernehmen wie bei „voll des süßen Weines“ oder „eine Elle feinsten Tuches“ oder „ein Unterpfand der Liebe“.
Spätestens hier merkt man, dass im Deutschen das Genetiv-Attribut ausstirbt. Modernes Deutsch ist ja „Ein Becher süßer Wein“, „eine Elle Tuch“ oder gar „dem Heiner sein Haus“ (brrr).
- die Ergänzung mit Präposition und Nomen: Das Haus auf dem Berg, hinter dem Fluss
- die Ergänzung durch Adjektive. Das ist eine grundlegende Aufgabe des Adjektivs (des „Hinzugeworfenen“): Das schöne Haus des fleißigen Müllers am rauschenden Bach.
Man glaubt fast, ein Adjektiv kann gar nicht anders verwendet werden als so. Tatsächlich gibt es zwei andere Anwendungen:
- Das Prädikatsnomen: Der Müller ist fleißig (Nomen und Hilfsverb bilden das Prädikat)
und
- das Prädikativum: Der Mann lag krank im Bett
Warnung: „krank“ ist hier nämlich eindeutig eine Ergänzung zum „Mann“. In dem Satz
„Der Mann lag bäuchlings im Bett“
ist „bäuchlings“ dagegen eine Ergänzung zu „lag im Bett“, also eine adverbielle Bestimmung!
Im Deutschen ist dieser Unterschied zwischen Prädikativum und adverbieller Bestimmung nicht gut zu sehen, weil Adjektiv und Adverb nicht sauber getrennt werden. Im Lateinischen wird ein Prädikativum durch das Adjektiv, die adverbielle Bestimmung aber durch das Adverb ausgedrückt! Mancher Schüler merkt nie, dass „Der Schüler schreibt die Arbeit froh“ und „Der Schüler schreibt die Arbeit krakelig“ grammatisch zwei grundverschiedene Sachverhalte sind! (denn „froh“ war der Schüler, aber „krakelig“ das Schreiben!)
Typisch für deutsche Sätze ist, dass das attributive Adjektiv vor dem Bezugswort steht, das prädikative aber beim Prädikat, das heißt, regelmäßig hinter dem Bezugswort: „Der kranke Mann“, aber „ … dass der Mann krank … „
Es gibt Ausnahmen: Die Adjektiv-Apposition steht hinter dem Bezugswort: Erik der Rote
Gelegentlich wird das attributive Adjektiv absichtlich nachgestellt: „All die Mägdelein, die feinen, tanzen einen Ringelreihen.“ Typisch hierfür ist übrigens die Wiederholung des Artikels. („die“. „die“). Wer Griechisch lernt, wird das als Standardfloskel wiedererkennen. Wer Bayrisch lernt, kennt die Form mit und auch ohne Wiederholung: „Der Bazi, der abgefeimte!“ gegen „Saupreiß chinesischer!“ (rief die Münchner Marktfrau dem japanischen Touristen hinterher, der das Obst betastet hatte.)
Wie ist das im Lateinischen?
a) Normalstellung des attributiven Adjektivs ist hinter dem Bezugswort:
miles Romanus „römischer Soldat“
falx aurea „goldene Sichel“
ius civile „Zivilrecht“
Dieser Normalfall ist deutschen Neulingen verblüffend genug und erschlägt praktisch alles.
Spezialisten mögen sich aber um die wenigen Ausnahmen kümmern:
b) Wenn das attributive Adjektiv eine „auszeichnende“ Eigenschaft bezeichnet oder wenn es ein Maß oder eine Zahl angibt, steht es ausnahmsweise vor dem Bezugswort:
multi homines „viele Menschen“
tres dies „drei Tage“
summus imperator „oberster Feldherr“
„Auszeichnend“ ist eine Eigenschaft dann, wenn sie ein Objekt aus einer Menge anderer heraushebt. Wer sagt: „Sie trug ein blaues Kleid“, der sagt nichts über eventuelle andere Kleider aus (sogenannter „objektiver“ Gebrauch).
Wer aber sagt: „Sie trug das blaue Kleid“, der lässt mitschwingen, dass es andere Kleider gibt, und zwar nicht blaue. Das ist also „auszeichnender“ Gebrauch.
Daher mit urbanus, das „städtisch“ als objektive Eigenschaft oder im Gegensatz zu „ländlich“ (das heißt: „dorftrottelig“) bedeuten kann:
prætor urbanus „städtischer Prätor, Stadtvorsteher“
urbanus prætor „geistreicher Prätor, ein 'Prätor von Welt'“
Die Zahlwörter und Mengenbezeichnungen können also gar nicht anders, als „auszeichnend“ zu sein; sie bezeichnen immer die Teilmenge einer Grundmenge. Deswegen kommen sie nach vorne.
c) Die Sonderregel b) wird nicht verwendet, wenn das Bezugswort einsilbig ist oder sonst die Adjektivkonstruktion deutlich umfangreicher ist als das Bezugswort. Dann wird die Normalstellung a) praktisch immer angewendet:
vir peritissimus „ein sehr erfahrener Mann“ (objektiv) und „der erfahrenste der Männer“ (auszeichnend)
casu incredibili ac pæne divino „durch einen unglaublichen und geradezu göttlichen Zufall“
di immortales „unsterbliche Götter“
d) Adjektiv-Appositionen sind nachgestellt:
Alexander Magnus „Alexander der Große“
Otto Tertius „Otto III.“
Anmerkung: Adjektive, die Lob oder Tadel ausdrücken sollen, können demnach (speziell bei Namen) guten Gewissens weder voran- noch nachgestellt werden. Vorne würden sie einfach nur die subjektive, wenngleich herausgehobene Eigenschaft beschreiben (wie bei „urbanus prætor“) ohne Betonung des Lobs, nachgestellt könnten sie als Apposition aufgefasst werden.
Daher wird im Lateinischen das Lob oder der Tadel zwar nachgestellt, aber niemals auf einen Eigennamen bezogen!
Notfalls muss ein Hilfs-Bezugswort eingebaut werden:
nicht Corinthus opulentissima „das so reiche Korinth“, denn das würde ja „Korinth das Reiche“ bedeuten (vom Typ „Peter der Große“) oder „das reichste Korinth“ - als ob es noch andere gäbe -
sondern Corinthus, urbs opulentissima „Korinth, die so reiche Stadt“,
notfalls wenigstens Corinthus, ea opulentissima „Korinth, das so reiche,… „
(Nebenbei, falls das verwirrt. Corinthus ist femininum! Natürliches Geschlecht…)
e) Wenn das attributive Adjektiv Ort und Zeit angibt, wird es im Lateinischen im Gegensatz zum Deutschen regelmäßig nicht benutzt, um das Verhältnis zu anderen Dingen auszudrücken, sondern um das innere Verhältnis zu beschreiben!
Das ist oft Fehlerquelle!
summus mons nicht “der höchste Berg“, sondern „die Bergspitze“ („der Berg ganz oben“)
im Übrigen: vorangestellt nach b),
in colle medio nicht “auf dem mittleren Hügel“, sondern „mitten auf dem Hügel“
Manchmal macht das Deutsche das sogar mit:
prima luce „beim ersten Licht“ (also: bei Tagesanbruch), worunter auch das Deutsche „bei Anfang des Lichtes (Tages)“ versteht.
Und was wäre nun „der höchste Berg“ in Latein? Nun, mit Genetiv-Attribut,
summus montium „der höchste der Berge“