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Altgriechisch Wörterbuch - Forum
Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2 (10517 Aufrufe)
Γραικίσκος schrieb am 02.09.2019 um 15:07 Uhr (Zitieren)
Dieser Thread soll eine selbständige Fortsetzung des älteren, unübersichtlich gewordenen sein:

https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=302#955
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 02.09.2019 um 15:29 Uhr (Zitieren)
Ich mache es so wie du, nämlich nicht so wie du, sondern so, wie ich es will.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 02.09.2019 um 15:30 Uhr (Zitieren)
Wenn wir noch eine Schlacht über die Römer gewinnen, werden wir ganz und gar verloren sein.

[Plutarch: Pyrrhos 21]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 02.09.2019 um 20:45 Uhr (Zitieren)
Est igitur aliquid humilitatis miro modo quod sursum faciat cor, et est aliquid elationis quod deorsum faciat cor. Hoc quidem quasi contrarium videtur, ut elatio sit deorsum et humilitas sursum. Sed pia humilitas facit subditum superiori; nihil est autem superius Deo, et ideo exaltat humilitas quae facit subditum Deo.

Elatio autem, quae in vitio est, eo ipso respuit subiectionem et cadit ab illo quo non est quicquam superius, et ex hoc erit inferius et fit quod scriptum est: Deiecisti eos cum extollerentur. Non enim ait: Cum elati fuissent, ut prius extollerentur et postea deicerentur; sed cum extollerentur, tunc deiecti sunt. Ipsum quippe extolli iam deici est.

Quapropter quod nunc in civitate Dei et civitati Dei in hoc peregrinanti saeculo maxime commendatur humilitas et in eius rege, qui est Christus, maxime contrariumque huic virtuti elationis vitium in eius adversario, qui est diabolus, maxime dominari sacris litteris edocetur ...


Es gibt also merkwürdigerweise in der Erniedrigung (Demut) etwas, das das Herz erhebt, und in der Erhebung (Überheblichkeit) etwas, das das Herz erniedrigt. Das klingt nun freilich wie ein Widerspruch, dass die Erhebung (Überheblichkeit) nach unten, die Erniedrigung (Demut) nach oben führen soll. Aber fromme Erniedrigung (Demut) macht einem Höheren ergeben, und nichts ist erhabener als Gott; daher erhebt Erniedrigung (Demut), die Gott gegenüber Ergebenheit bewirkt.

Die Erhebung (Überheblichkeit) dagegen, die Tadel verdient, verweigert es von sich aus, unterworfen zu sein, und fällt von dem ab, der nichts Höheres über sich hat, und wird dadurch niedriger sein, und es erfüllt sich, was geschrieben steht: „Du hast sie herabgestürzt, da sie sich erhoben“ (Ps 72, 18). Es heißt nämlich nicht: „Da sie sich erhoben hatten“, als hätten sie sich zuerst erhoben und wären dann herabgestürzt worden, sondern indem sie sich erhoben, wurden sie herabgestürzt. Die Erhebung (die Überheblichkeit) selbst ist eben schon ein Herabgestürztwerden.

Daher ist nun im Gottesstaat und insbesondere dem Gottesstaat auf seiner irdischen Pilgerschaft die Erniedrigung (Demut) zu empfehlen und am allermeisten an ihrem Herrscher zu preisen, der Christus ist, während in der Heiligen Schrift deutlich gelehrt wird, dass das dieser Tugend entgegengesetzte Laster der Erhebung (Überheblichkeit) bei seinem Widersacher, dem Teufel, am deutlichsten ausgeprägt ist ...

Augustinus: De civitate Dei XIV, 13 - Übersetzung in Anlehnung an Alfred Schröders Übertragung.



Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 02.09.2019 um 21:34 Uhr (Zitieren)
Dass die Beschäftigung mit Paradoxien lebensgefährlich sein kann, dokumentiert folgende Kurzbiographie, die sich in der Suda, einem byzantischen Lexikon aus dem zehnten Jahrhundert, unter φ 332 findet:

Φιλήτας, Κῷος, υἱὸς Τηλέφου, ὢν ἐπί τε Φιλίππου καὶ Ἀλεξάνδρου, γραμματικὸς κριτικός· ὃς ἰσχνωθεὶς ἐκ τοῦ ζητεῖν τὸν καλούμενον Ψευδόμενον λόγον ἀπέθανεν. ἐγένετο δὲ καὶ διδάσκαλος τοῦ δευτέρου Πτολεμαίου. ἔγραψεν ἐπιγράμματα, καὶ ἐλεγείας καὶ ἄλλα.

Philetas, von Kos, Sohn des Telephos, lebte sowohl unter Philipp als auch Alexander. Grammatiker und Kritiker. Er starb ausgezehrt in Folge seiner Untersuchung des sogenannten Lügner-Paradoxons (Ψευδόμενον λόγον).
Er wurde auch Lehrer Ptolemaios' II. Er verfasste Epigramme, Elegien u.a.


Zu den Möglichen Quellen dieses Eintrags heißt es in der engl. Wikipedia:

A 2nd century AD Greek author, Athenaeus of Naucratis, wrote that Philitas studied false arguments and erroneous word-usage so intensely that he wasted away and starved to death, and that his epitaph read:

ξεῖνε, Φιλίτας εἰμί· λόγων ὁ ψευδόμενός με
ὥλεσε καὶ νυκτῶν φροντίδες ἑσπέριοι

St. George Stock analyzed the story as saying Philitas studied the Megarian school of philosophy, which cultivated and studied paradoxes such as the liar paradox: if someone says "I am lying", is what he says true or false? Stock wrote that Philitas worried so much over the liar paradox that he died of insomnia, and translated the epitaph as follows:

Philetas of Cos am I,
'Twas the Liar who made me die,
And the bad nights caused thereby.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.09.2019 um 17:49 Uhr (Zitieren)
Wer übersetzt werden kann (ins Französische wenigstens), verdient nicht übersetzt zu werden.

Jean Paul: Ideengewimmel, Eichborn (1996), S. 57.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 03.09.2019 um 18:04 Uhr (Zitieren)
Immer wieder schön, diese Funstücke von Jean Paul. Bald bin ich vom Kauf überzeugt.

Nur ganz am Rande: Der Philetas-Hinweis hat mir gefallen; aber wird er in der Suda nicht Φιλητᾶς geschrieben?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.09.2019 um 18:16 Uhr (Zitieren)
In dieser Kurzbiographie steckt allerdings der Plot eines pikaresken Philosophenromans.
Bei Φιλήτας bin ich der Loeb-Ausgabe Hellenistic Collection: Philitas. Alexander of Aetolia. Hermesianax. Euphorion. Parthenius (LCL 508, S.8) gefolgt.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 03.09.2019 um 19:00 Uhr (Zitieren)
Stimmt, dort steht es so. Ich hab's in der Suda nachgeschaut. Nicht erheblich.

Den Plot mit Stoff (Handlung) zu füllen, stelle ich mir nicht ganz einfach vor. Ein Ansatz: Man könnte viele Situationen, wie sie in den hier gesammelten Paradoxien vorkommen, zur Grundlage nehmen - etwa ein Gerichtsverfahren in der Art des Euathlos, eine Ehe, in der die Partner einander immer wieder widersprechen, indem sie beahupten, sie widersprächen ja gar nicht usw.
Der gedachte Philetas stößt in seinem Leben, das ihn tragischerweise auch noch zum Philosophen hat werden lassen, immer wieder auf Parxadoxien. Durch sie und durch sein Nachdenken über sie gerät er in eine Krise. Diese erreicht ihren Höhepunkt angesichts eines Plastikstrohhalms (oder eines Barfußschuhs).

_____

A.: "Ich wußte nicht, was ich dir schenken soll. Deshalb bin ich mit der Zeitmaschine bis Weihnachen gereist und habe nachgesehen, was ich dir schenke."
B.: "Socken und ein Paradoxon! Danke."

(Josha Sauer)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.09.2019 um 20:06 Uhr (Zitieren)
Ich sehe auch im Übergang von der Entdeckung der Ubiquität des Paradoxen zur existenziellen Krise den erzählerischen Motor. Er müsste einen geradezu grotesken Kampf gegen die verschlingende Kraft führen, die für ihn von diesen Paradoxien ausgeht und alles wortwörtlich aufzufressen droht, am Ende ihn selbst, während alle Welt sonst damit anscheinend kein Problem hat. Das beträfe z.B. also nicht nur die Begrifflichkeiten von Wahrheit und Lüge überhaupt, sondern den sich in diesen Spiegelkabinetten verlierenden endlichen Denker in seiner physischen und geistigen Existenz, der immer weiter abmagert, dessen Blickfeld sich zusehends verengt, unfähig, sich von diesem sich immer weiter verwickelnden gordischen Knoten mit einem Denkakt zu befreien, der die Natur von Alexanders Schwerthieb besitzt. Dann auch das Elend eines Lehrers, der, nachdem ihm substanziell eigentlich nicht mehr zu lehren bleibt, den Lehrer für Ptolemaios spielen muss, der also sozusagen sein eigenes Paradoxon wird. Paradox wäre auch der notorisch unzuverlässige Erzähler anzulegen, von dem man von Seite zu Seite immer weniger zu sagen vermag, ob er lügt, wenn er zu erzählen behauptet, was Sache war, oder Wahrheiten als Lügen verkauft.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 03.09.2019 um 22:56 Uhr (Zitieren)
Den Erzähler entsprechend zu gestalten, ist eine gute Idee.
Der Leser müßte erleben, wie sein eigenes klares Weltbild zerbröselt, in einen Sog des Zweifels gerät.
(Ich finde ähnliches bei Philip K. Dick: "The Three Stigmata of Palmer Eldritch"; auch da weiß man am Ende nicht mehr, was real und wer man selber ist.)
Auch gefällt es mir, mich in Alexandria in der Zeit Ptolemaios' I. und II. zu bewegen.

Zunächst aber sammle ich Informationen über Philetas/Philitas und gerate dabei in die Lage, daß ich bei Athenaios nur auf relativ Belangloses stoße, außer 13.598e-f; aber auch dies ist nicht die Stelle, die Du zitiert hast - die finde ich überhaupt nicht, wenn ich nach dem Index der LCL-Ausgabe vorgehe.
Kannst Du die Stelle angeben?

DNP schreibt überhaupt nichts über seine Faszination für Paradoxien.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 03.09.2019 um 23:03 Uhr (Zitieren)
P.S.: Der Neue Pauly hat die Schreibweisen Φιλήτας und Φιλίτας, wobei er die letztere für die bessere erklärt; der Kleine Pauly lehnt die Schreibweise der Suda, Φιλητᾶς, explizit ab.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.09.2019 um 12:29 Uhr (Zitieren)
Der Erzähler ist also Kreter.

Die Kontrastierung der Mobilität in intellektuellen Biographien (wie kommt man an diese Stelle in Alexandria überhaupt?), die Verwandlung des Geistes durch Reisen usf. mit den überall auftauchenden Paradoxien, denen man nicht entkommen kann, die zur fixen Idee werden, könnte einen weiteren Punkt dieser Heldenreise in den Irrsinn bilden. Gibt es eigentlich antike Beschreibungen eines Verhungerns, Verzehrtwerdens, obwohl keine äußere Notwendigkeit besteht, man also vor vollen Schüsseln sitzt?

Zu den Quellen: Sämtliche Stellen, an denen P. bei Athenaios vorkommt, listet http://www.digitalathenaeus.org via http://www.digitalathenaeus.org/tools/OlsonIndex/superdigger.php?what[]=Name|Philetas/Philitas%20of%20Cos&onoffswitch=on
Oben erwähnte Kürzestbiographie und Epitaph finden sich in 9.64.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.09.2019 um 12:32 Uhr (Zitieren)
Mein liebster Feind.

Titel des 1999 entstandenen Dokumentarfilms von Werner Herzog über seine Beziehung zu Klaus Kinski.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 04.09.2019 um 12:55 Uhr (Zitieren)
Zu Philetas: Ah ja. Eigenartige Zählung; bei LCL 401e.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 05.09.2019 um 15:23 Uhr (Zitieren)
[Zur Gastronomie in Wien:]
Die Burenwürste sind mit nichts zu rechtfertigen, außer vielleicht mit viel Senf; aber es gibt schon auch noch anderes zu essen, und dabei erwähnen wir hier nicht einmal das Schnitzel.

[Stephan Löwenstein in der Frankfurter Allgemeine vom 5. September 2019]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 05.09.2019 um 15:54 Uhr (Zitieren)
filix hatte das Paradox schon erkannt - jetzt ist es veröffentlicht:
1800 Zweifel an Bielefeld

Eine Million Euro für Beweis, dass es die Stadt nicht gibt


FRANKFURT, 4. September. Wer auf einer Party sagt, dass er aus Bielefeld kommt, erhält so gut wie immer als Antwort: „Bielefeld gibt es doch gar nicht.“ Viele Bielefelder können über diesen immer gleichen Dialog nicht mehr lachen, die meisten Nicht-Bielefelder finden ihn trotzdem lustig. Wieder andere nehmen die Verschwörungstheorie für bare Münze – die Stadt Bielefeld zum Beispiel.
Sie hat in einem Wettbewerb eine Million Euro für den ersten Einsender ausgelobt, der beweisen kann, dass die Theorie stimmt. In den offiziellen Wettbewerbsbedingungen heißt es: „Der Teilnehmer muss die Nichtexistenz beweisen. Hierzu ist eine erschöpfende Beweisführung erforderlich, die durch nichts und niemanden zu erschüttern ist.“
Die Resonanz ist enorm. „Die Zahl der Einreichungen sprengt unsere kühnsten Erwartungen“, sagt Jens Franzke, der Leiter des Teams Stadtwerbung und Kommunikation. Kurz vor Ende der Einreichungsfrist am Mittwoch um Mitternacht hatten bereits 1800 Menschen mitgemacht. Die meisten von ihnen kommen aus Deutschland, jeder fünfte Beweis aber wurde per Mail aus dem Ausland abgeschickt. Unter den Einsendern sind Menschen aus Weißrussland, Japan und Neuseeland, aus Kanada, Australien und Südamerika.
„Die Bandbreite der Beweise ist riesig“, sagt Franzke. Einige seien „richtig gut gemacht“. Die aussichtsreichsten Bewerber argumentierten mit der Erkenntnistheorie, die auf philosophischer Basis die Voraussetzungen für Erkenntnisgewinn hinterfragt. Andere Einreicher bemühten die Quantenphysik. Ein Mathematiker wiederum schickte eine zweiseitige Herleitung voller komplizierter Formeln. „Am Anfang hat er Bielefeld als Variable eingesetzt, die am Ende herausgekürzt wird“, sagt Franzke. „Als Laie haben Sie da keine Chance. Sie wissen nicht, wo er den Trick eingebaut hat.“
Um diesen und andere Beweise zu prüfen, wird die Marketingabteilung der Stadt in den kommenden Wochen wissenschaftliche Experten hinzuziehen. Anschließend entscheidet ein dreiköpfiges Gremium. „Sollte es jemandem gelingen, die Nichtexistenz zu beweisen, benachrichtigen wir schriftlich“, versichern die Teilnahmebedingungen, in denen der Rechtsweg ausgeschlossen wird.
Was aber, wenn sich jemand damit nicht zufriedengibt und mit seiner „erschöpfenden Beweisführung“ vor ein real existierendes Gericht zieht? Um das zu verhindern, hatte die Marketingabteilung im Vorfeld eine Anwaltskanzlei beauftragt, den Ausschreibungstext zu verfassen. „Wir gehen davon aus, dass unsere Teilnahmebedingungen gerichtsfest sind und wir nichts zu befürchten haben.“
Doch auch an den Fall der Fälle hat er gedacht: Sollte ein Gericht die Stadt anweisen, die Million auszubezahlen, ist das Geld vorhanden. Die Stadt hat nämlich 56 Sponsoren, die ihr jedes Jahr zusammen 330000 Euro für Werbeaktivitäten spenden. Sollte die Million also ausgezahlt werden müssen, wäre „nur“ der Werbeetat für drei Jahre weg, nicht aber das Geld der Steuerzahler. „Das Preisgeld steht zur Verfügung“, beteuert Franzke. Mit einer Einschränkung: „Wenn jemand beweisen kann, dass es uns nicht gibt – wer soll dann das Preisgeld zahlen?“

[Christoph Schäfer in der Frankfurter Allgemeine vom 5. September 2019]

Wenn das nicht der gute alte Fall des Euathlos ist, mit dem hier einst alles begann!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 05.09.2019 um 15:55 Uhr (Zitieren)
Das hatte filix geschrieben:
filix schrieb am 21.08.2019 um 19:30 Uhr (Zitieren)
Kann die Stadt Bielefeld, die neuerdings durch ihre Marketingabteilung demjenigen eine Million Euro als Prämie verspricht, der einen Beweis der sogenannten Bielefeld-Verschwörung liefert, welche besagt, dass es diese Stadt gar nicht gebe, deren Existenz nur vorgetäuscht werde, die Auszahlung für den Fall, dass ein solcher Beweis, wie immer er aussehen mag, vorgelegt und anerkannt wird, mit der Begründung verweigern, dass ebenso wenig wie die Stadt auch ihre Verwaltung oder Marketingabteilung existiere?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 08.09.2019 um 13:54 Uhr (Zitieren)
Wenn Psychologen Lügner an bestimmten Merkmalen (Sprachstil, Körpersprache usw.) erkennen, dann werden geschickte Lügner sich gerade bei diesen Merkmale verstellen. So gefährden die Kriterien für die Erkennbarkeit von Lüge deren Erkennbarkeit.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.09.2019 um 18:36 Uhr (Zitieren)
Was soll man auch von einer Stadt, die sich als kleine Großstadt sieht (https://tinyurl.com/y6ophhzq), die Irreführung schon heimlich im Namen trägt (Die Ortsnamen der Stadt Bielefeld, S. 41: ... als Billerfeld ‘Irrfeld’ nach Westfäl. Wb. i sp. 720 billeren ‘planlos umherirren’ bzw. Billerbene ‘Irrweg, Abweg’) und Wirkungsstätte eines der einflussreichsten Soziologen war, dessen Denken u.a. um den Beobachter, der sich selbst nicht beobachten kann, kreiste und in der Paradoxie die Orthodoxie einer Gegenwart sah, die alle Letztbegründung von den Prinzipien in unauflösliche Widersprüche verlegt hat (Luhmann: passim), schon erwarten? ;)


---

Die Frage ist, ob eine ars dissimulandi beliebig Zugriff auf diese Indizien entwickeln kann und ob sich nicht vielleicht immer sekundäre Indizien (sozusagen Lügensignale höherer Ordnung) einstellen.

In dem Zusammenhang fällt mir auch die paradoxie Strategie ein, die Baltasar Gracián in seinem sogenannten Handorakel analysiert, welche das Wechselspiel von Täuschung, Durchschauen und folgender Täuschungserwartung des Gegners wiederum zu Täuschungszwecken einsetzt, wobei Lüge und Wahrheit im zweiten Durchgang den Platz tauschen, erstere nun gerade dadurch, dass sie sich am Platz der vermuteten heimlichen Absicht findet, glaubhaft erscheint, während die Wahrheit die Stelle der Täuschung einnimmt, und dadurch unglaubwürdig wirkt.
Man erzähle also dem Gegenüber, das meint, einen zu durchschauen, die Wahrheit als Lüge und lasse ihn geschickt die Lüge, die man ihn glauben machen will, als heimliche Absicht dahinter entdecken, die er für die Wahrheit halten wird.


13. Bald aus zweiter, bald aus erster Absicht handeln.

Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten, hinsichtlich ihres Vorhabens, bedient. Nie thut sie das, was sie vorgiebt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht ihr Spiel zu verbergen.

Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehen, kehrt ihr aber gleich wieder den Rücken und siegt durch das, woran Keiner gedacht. Jedoch kommt ihr andrerseits ein durchdringender Scharfsinn durch seine Aufmerksamkeit zuvor und belauert sie mit schlauer Ueberlegung: stets versteht er das Gegentheil von dem, was man ihm zu verstehn giebt, und erkennt sogleich jedes falsche Miene machen.

Die erste Absicht läßt er immer vorüber gehn, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet.

Aber die beobachtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsterniß: sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer war. Auf solche Weise kämpft die Arglist des Python gegen den Glanz der durchdringenden Strahlen Apollo's.

Baltasar Gracián y Morales: Gracian's Orakel der Weltklugheit - Übersetzung: Schopenhauer

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.09.2019 um 18:38 Uhr (Zitieren)
paradoxie paradoxe Strategie
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.09.2019 um 21:07 Uhr (Zitieren)
Man erzähle also dem Gegenüber, das meint, einen zu durchschauen, die Wahrheit als Lüge und lasse es geschickt die Lüge, die man es glauben machen will, als heimliche Absicht dahinter entdecken, die es sodann für die Wahrheit halten wird.



Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.09.2019 um 21:18 Uhr (Zitieren)
Mich nervt das Fehlen einer Möglichkeit, die Beiträge zu korrigieren, ungemein. Könntest Du, nachdem ich schon einmal ergebnislos einen Vorstoß unternommen habe, Albert für eine Implementation der im Lateinforum zur Verfügung stehenden Funktionen zu gewinnen versuchen? Als Gründungsmitglied, Chief Content Producer und überhaupt und sowieso.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 08.09.2019 um 22:42 Uhr (Zitieren)
Sehr schön, das mit dem Gracián - und sogar in der Textform, die Schopenhauer ihm gegeben hat, nicht in der einer der zahlreichen Überarbeitungen.
Arthur Hübscher bietet sie in seiner Ausgabe des Handschriftlichen Nachlasses, Bd. IV/2.

***

Diese Funktion habe auch ich mir schon des öfteren gewünscht. Und Albert Martin hat auf Deinen Vorstoß nicht reagiert? Dann bin ich gespannt, ob & wie er auf meinen antwortet. Ich werde die Möglichkeit für Dich und mich beantragen. Ob man ihm dafür die E-Mail-Adresse mitteilen muß? Meine hat er ja dann, wenn ich ihm schreibe.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 08.09.2019 um 22:49 Uhr (Zitieren)
Abgeschickt. Abwarten.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.09.2019 um 22:58 Uhr (Zitieren)
Danke. Ich habe Albert Martin deswegen schon mindestens einmal kontaktiert, das ist aber mittlerweile gewiss mehr als zwei Jahre her. Er hat das Anliegen, sagen wir einmal, höflich ignoriert. Ich fände eine Ausrichtung der Funktionen am Lateinforum jedenfalls vorteilhaft, d.h. die "Registrierung" wäre optional und für das Verfassen keine Voraussetzung. Wer Beiträge ändern möchte, könnte dies über die Eingabe eines bei ihm beantragten Passworts im Eingabefeld "Name:" tun, das Pseudonym wäre dadurch auch geschützt.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 08.09.2019 um 23:23 Uhr (Zitieren)
Aha, mit Registrierung & Paßwort.
Nun, beim letzten Anliegen hat er ja auf meine Anfrage reagiert - aber ich hüte mich vor Induktionsschlüssen.
Ich habe Dich als zweiten Interessenten genannt; ggfs. mußt Du Dich dann mit ihm in Verbindung setzen. Was ich weiß bzw. erfahre, werde ich hier hinterlegen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 16.09.2019 um 12:40 Uhr (Zitieren)
Auch auf meine Anfrage habe ich keine Antwort erhalten. Ich werde nachhaken.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 18.09.2019 um 17:17 Uhr (Zitieren)
Im Herbst wird es abends immer früher spät.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 18.09.2019 um 22:26 Uhr (Zitieren)
Die einzige Tragödie ist, dass wir uns nicht als tragisch empfinden können.

Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares (Fragment 107)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 18.09.2019 um 22:29 Uhr (Zitieren)
Der Webmaster hat nun reagiert: starke Arbeitsbelastung derzeit; Korrekturfunktion soll eingebaut werden, sobald er wieder etwas mehr Zeit für sein Webhobby hat.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 18.09.2019 um 22:35 Uhr (Zitieren)
Danke, auf der Titanic wird also noch repariert. Ich fürchte allerdings, dass dieses Forum die Folgen der EU-Urheberrechtsreform nicht überstehen wird.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 19.09.2019 um 18:39 Uhr (Zitieren)
In der Tiefgarage unseres Hauses standen Bauarbeiten an, weshalb mir die Hausverwaltung mitteilte, meine Frau müsse an dem betreffenden Tag, nämlich morgen, ihr Auto anderswo parken. Das habe ich ihr pflichtgemäß ausgerichtet: „Du mußt morgen dein Auto falsch parken, weil an deinem Stellplatz gebaut werden soll.“
Als sie am nächsten Morgen von einer mit dem Auto erledigten Besorgung heimkam, fragte ich sie besorgt: „Hast du auch falsch geparkt?“
„Ja“, beruhigte sie mich, „ich habe falsch geparkt.“
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 23.09.2019 um 13:33 Uhr (Zitieren)
Immer hatte der Leiter der Schule
In den verschiedenen Pausen kleiner und größerer Art
Sein Fenster mehrmals geöffnet
Und in den Hof hinuntergerufen:
"Ungezwungen, seid ungezwungen!
Kinder, seid ungezwungen, ungezwungen!"

Mehrmals am Tage habe
So Kastner
Der Leiter dieses Stück Wort in den Hof gerufen

Hanns-Dieter Hüsch: Hagenbuch und die Erziehung
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 23.09.2019 um 13:55 Uhr (Zitieren)
Sehr schön!
Als bibliographische Angabe habe ich gefunden:
Hanns-Dieter Hüsch: ... dass die Erziehung seiner Kinder eine völlig verfahrene war. Die Hagenbuch-Texte. Berlin 2015 (E-Book)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 23.09.2019 um 14:39 Uhr (Zitieren)
Ferner, der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt, wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts, sagt aber dauernd: Ist doch logisch! Wenn man dann fragt: Wieso logisch?, antwortet er meist: Ja, wieso, weiß ich auch nicht. Wenn man dann fragt: Wieso sagst du dann dauernd "Ist doch logisch!"?, sagt er oft: Man wird doch noch mal etwas in Frage stellen dürfen!

Hanns-Dieter Hüsch: Am Niederrhein (1987)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 23.09.2019 um 14:55 Uhr (Zitieren)
Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! also etwas Böses - und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: "Um dich zu dem zu machen, der du bist".

Kafka: Die acht Oktavhefte in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, S. Fischer (1980) S. 59
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 23.09.2019 um 15:19 Uhr (Zitieren)
Mein Omma väterlicherseits
war eine geborene Husmann Katharina,
das war die, die immer sagte:
"Geh ma auf de Bank sitzen."
In Homberg am Niederrhein,
da sagt man nämlich nicht: "Nimm Platz",
sondern da sagt man: "Geh sitzen",
in Homberg am Niederrhein,
wo mein Omma im Garten immer nach den Tomaten
und Stachelbeeren guckte
und wo Onkel Fritz der Lieblingsbruder von Tante Liese
auch mal Bürgermeister war
und wo der Rhein oft über die Felder bis ins Haus kam,
da sagt man: "Geh sitzen".
Die Engländer sagen ja auch:
"I am going to see",
das heißt: "Ich bin gehend am sehen".
Dat is von Egland über Holland
zu uns an den Niederrhein gekommen.
Und wenn meine Omma väterlicherseits sagte:
"Geh ma auf de Bank sitzen",
da wußte ich nie, wat ich machen sollte.
Ich bin dann immer erst drei Schritt auf de Bank gegangen,
un dann erst hab ich mich, plumps, hingesetzt.
Dat is zwar ein ziemlich krummes Deutsch,
geh ma auf de Bank sitzen,
aber sowat von gemütstief
kriegen se später nie wieder,
nie.

(Hanns-Dieter Hüsch: Mein Traum vom Niederrhein. Duisburg ²1997, S. 11-13)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 23.09.2019 um 15:24 Uhr (Zitieren)
Egland --> England
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 24.09.2019 um 19:02 Uhr (Zitieren)
War die "repressive Toleranz" des Herbert Marcuse schon da? Ich bin nicht sicher,ob ich das für kritische Geister exakt genug erklären kann.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 24.09.2019 um 19:02 Uhr (Zitieren)
War die "repressive Toleranz" des Herbert Marcuse schon da? Ich bin nicht sicher,ob ich das für kritische Geister exakt genug erklären kann.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 24.09.2019 um 22:44 Uhr (Zitieren)
Nein, "repressive Toleranz" gab's noch nicht. Überhaupt haben wir die Marxisten mit ihrer Dialektik bisher vernachlässigt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 24.09.2019 um 23:21 Uhr (Zitieren)
Ich hab es in meine Sammlung übernommen. Danke für den Hinweis.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 27.09.2019 um 22:47 Uhr (Zitieren)
Eine Dame fragt in New York den Busfahrer: „Sind Sie Jude?“ Der verneint, sie läßt aber nicht locker, fragt noch mal und noch mal. Um die Sache zu beenden, sagt der Fahrer schließlich: „Wenn Ihnen so viel daran liegt, ja, ich bin Jude.“ Sie lehnt sich tief befriedigt zurück, mustert ihn noch einmal und meint: „Sie sehen nicht so aus.“

(Martin Grotjahn: Vom Sinn des Lachens; zitiert nach einem Leserbrief in der Frankfurter Allgemeine vom 27. September 2019)

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 29.09.2019 um 23:18 Uhr (Zitieren)
Ein Mensch kann abwesend anwesend sein, z.B. wenn sich den ganzen Abend lang das Gespräch um ihn dreht.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 30.09.2019 um 14:06 Uhr (Zitieren)
Ob der Untote, der Zombie, diese paradoxe Existenzform zwischen Tod und Leben, sich schon in der Sammlung findet, weiß ich nicht.
Ich habe aber bei Dante im letzten Gesang des Inferno einen schönen Beleg gefunden. Dante erblickt den im Eis eingefrorenen Satan:

Io non mori' e non rimasi vivo:
pensa oggimai per te, s'hai fior d'ingegno,
qual io divenni, d'uno e d'altro privo.

Ich starb nicht hin und blieb auch nicht lebendig;
denk dir's jetzt selber aus, wenn du ein Blättchen Phantasien hast,
was da aus mir wurde, wo ich den Tod nicht hatte,
und das Leben auch nicht.

(Inf. XXXIV, 25ff. - Übersetzung: Hartmut Köhler)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 30.09.2019 um 14:08 Uhr (Zitieren)
Die Ermahnung, sich nicht gehen zu lassen und nicht in Selbstmitleid zu versinken, quittierte er mit den Worten: Ich habe kein Selbstmitleid, ich bin einfach so arm!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 01.10.2019 um 12:53 Uhr (Zitieren)
Geschenk des Lebens? Dankbarkeit? Gott hätte mich gefälligst erstmal fragen sollen, bevor er mich geschaffen hat!

***

Zu allen Zeiten haben die alten Leute über die jüngeren geschimpft und über den Verfall der Sitten. Aber wir sind die erste Generation, die recht damit hat!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 01.10.2019 um 13:23 Uhr (Zitieren)
Kann das Problem, das jemand mit der Unzuverlässigkeit eines anderen hat, mit einem Versprechen von dessen Seite gelöst werden?
A: „Man kann sich auf deine Versprechen nicht verlassen.“
B: „Ich verspreche, daß ich mich bessern werde.“

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 02.10.2019 um 14:23 Uhr (Zitieren)
Die Tatsache, daß ich Paranoiker bin, bedeutet nicht, daß sie nicht hinter mir her sind.

(Philip K. Dick)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 04.10.2019 um 10:15 Uhr (Zitieren)
Es gibt die "schöpferische Zerstörung" (creative destruction) des Kapitalismus (Schumpeter). Die Ergebnisse lassen sich rund um den Globus besichtigen.

Gandhi befahl seiner Frau, sich zu emanzipieren.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 04.10.2019 um 11:17 Uhr (Zitieren)
Karoline von Günderode: Liebe

O reiche Armut!
Gebend seliges Empfangen!
In Zagheit Mut!
In Freiheit, doch gefangen.
In Stummheit Sprache.
Schüchtern bei Tage.
Siegend mit zaghaftem Bangen.

Lebendiger Tod,
In Einen sel´ges Leben.
Schwelgend in Not,
Im Widerstand ergeben.
Genießend schmachten,
Nie satt betrachten,
Leben im Traum und doppelt Leben.


WER TOPPT DAS?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 04.10.2019 um 11:44 Uhr (Zitieren)
Mal Gedichte in Betracht zu ziehen, ist ein guter Einfall.
Und überhaupt: Liebe als Paradox!
Paul Fleming
(1609-1640)

LIEBESQUAL

Ist dieses nun das süße Wesen,
Nach dem mich so verlanget hat?
Ist dieses der gesunde Rat,
Ohn den ich konnte nicht genesen,
Und ist dies meiner Wehmut Frucht,
Die ich so emsig aufgesucht?

Wie unverwirrt ist doch ein Herze,
Das nicht mehr als sich selbst erkennt,
Von keiner fremden Flamme brennt,
Selbst seine Lust und selbst sein Schmerze!
Seit daß ich nicht mehr meine bin,
So ist mein ganzes Glücke hin.

Ich schlaf, ich träume bei dem Wachen,
Ich ruh und habe keine Ruh.
Ich tu und weiß nicht, was ich tu;
Ich weine mitten in dem Lachen.
Ich denk, ich mache dies und das;
Ich schweig, ich red und weiß nicht was.

Die Sonne scheint für mich nicht helle,
Mich kühlt die Glut, mich brennt das Eis.
Ich weiß und weiß nicht, was ich weiß.
Die Nacht tritt an des Tages Stelle.
Itzt bin ich dort, itzt da, itzt hier.
Ich folg und fliehe selbst vor mir.

Wie wird mirs doch noch endlich gehen?
Ich wohne nunmehr nicht in mir.
Mein Schein nur ist es, den ihr hier
In meinem Bilde sehet stehen.
Ich bin nun nicht mehr selber ich.
Ach Liebe, wozu bringst du mich!

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 05.10.2019 um 01:12 Uhr (Zitieren)
Dem Spott des französischen Volksmundes über die polytechniciens verdanken sich paradoxe Formulierungen wie C'est un homme qui sait tout et rien d'autre, die sich in viele Sprachen verbreitet hat. Zuletzt begegnet ist mir eine Variante in Roberto Begninis Huldigung an Dante ("Il mio Dante"), wo daraus ein angebliches Machiavelli-Zitat wird:

Ci sono persone che sanno tutto e questo è tutto quello che sanno.
Es gibt Leute, die alles wissen, und das ist alles, was sie wissen.

Damit verwandt ist die Selbstcharakterisierung des österreichischen Kabarettisten Günther "Gunkl" Paal als Experte für eh alles.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 05.10.2019 um 01:48 Uhr (Zitieren)
hat haben


---

Beckett: Yet I speak of an art turning from it in disgust, weary of puny exploits, weary of pretending to be able, of being able, of doing a little better the same old thing, of going a little further along a dreary road.

Duthuit: And preferring what?

Beckett: The expression that there is nothing to express, nothing with which to express, nothing from which to express, no power to express, no desire to express, together with the obligation to express.

Samuel Beckett: Proust and Three Dialogues with Georges Duthuit (Calder and Boyars, London (1965), S. 103

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 08.10.2019 um 12:00 Uhr (Zitieren)
Less is more. Mies van der Rohe (glaube ich).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.10.2019 um 13:20 Uhr (Zitieren)
Less is more. Mies van der Rohe (glaube ich)

More or less: https://de.wikipedia.org/wiki/Weniger_ist_mehr

Dort zu finden ist auch die Extrapolation durch Rem Koolhaas "If less is more, maybe nothing is everything".
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 08.10.2019 um 13:35 Uhr (Zitieren)
(Ein Zwischenstand: meine Sammlung, die nicht völlig, aber weitgehend gleich ist mit den beiden Threads hier, umfaßt inzwischen 481 Paradoxien.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.10.2019 um 14:10 Uhr (Zitieren)
Sammelst Du auch visuelle und akustische Paradoxien (z.B. die auf Shepardtönen basierenden scheinbar unendlich an- oder absteigenden Tonfolgen: https://www.youtube.com/watch?v=OsBanpBQj0k)?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 08.10.2019 um 14:35 Uhr (Zitieren)
Bilder ja, Escher und sowas. Aus dem Bereich der Musik habe ich bisher nur das schöne Grab des Komponisten Alfred Schnittke, von dem es bei Wikipedia eine Abbildung gibt:
https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Schnittke

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 15.10.2019 um 00:14 Uhr (Zitieren)
Christus ist im Jahre 4 vor Christi Geburt geboren.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 15.10.2019 um 09:21 Uhr (Zitieren)
"Nach Mt 2,1 ff. und Lk 1,5 wurde er zu Lebzeiten des Herodes geboren, der nach Josephus 4 v. Chr. starb. Demnach wurde Jesus wahrscheinlich zwischen 7 und 4 v. Chr. geboren."

Ganz genau kann man es also nicht sagen.

Dass Jesus eine literarische Fiktion ist, wird
auch heute noch behauptet.
Fakt ist, dass wir über den historischen Jesus
fast nichts wissen.

https://www.spin.de/forum/msg-archive/203/2010/03/19319
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 15.10.2019 um 12:18 Uhr (Zitieren)
Nein, genau kann man es nicht sagen, aber spätestens 4 v. Chr.
Die Paradoxie funktioniert auch mit Deiner Version, sofern man "Jesus" mit "Christus" erweitert und das "v. Chr." ausschreibt:
Demnach wurde Jesus Christus wahrscheinlich zwischen 7 und 4 vor Christus geboren.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Gast schrieb am 15.10.2019 um 12:56 Uhr (Zitieren)
Zum (Jesus) Christus wurde er erst n.Chr. durch seine Auferstehung (ca. 30 n. Chr.).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 15.10.2019 um 13:13 Uhr (Zitieren)
Und doch rechnet man gemeinhin "ab/nach Christi Geburt" (post Christum natum), nicht ab der Auferstehung.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 15.10.2019 um 13:15 Uhr (Zitieren)
... und auch nicht ab Jesu Geburt (n. J.).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Gast schrieb am 15.10.2019 um 13:34 Uhr (Zitieren)
Da man ihn im Nachhinein aufgrund seiner Anastasis als den Christus/Gesalbten Gottes identifizierte, wurden die Namen schnell verschmolzen und er firmiert seitdem vorwiegend
unter dem Doppelnamen.
Die Auferstehung wird theologisch auch als Bestätigung seiner Sendung durch Gott gesehen (Messias).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 16.10.2019 um 22:23 Uhr (Zitieren)
Zwei Filmszenen im jüdischen Milieu ("Der letzte Komödiant" mit Billy Crystal):

I.
„Ein tolles Restaurant! Die haben sogar einen koscheren Schweinebraten. Ich weiß auch nicht, wie die das machen.“

II.
„Diese beiden Frauen, das waren eineiige Cousinen. Wie ist das möglich?“
„Haben die Deutschen nicht an sowas gearbeitet?“
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 22.10.2019 um 00:12 Uhr (Zitieren)
Beide Seiten müssen verlieren, damit eine Win-win-Situation entsteht.

Der amtierende serbische Präsident Vučić in einem Interview zu den Verhandlungen mit dem Kosovo über künftige Beziehungen. Der Standard, 21. Oktober 2019.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 27.10.2019 um 22:16 Uhr (Zitieren)
„Kleinmann, Sie sind völlig inkompetent.“
„Ich? Nein! Ich weiß gar nicht genug, um inkompetent zu sein!“

(Woody Allen in „Schatten und Nebel“, 1991)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 29.10.2019 um 12:59 Uhr (Zitieren)
Alle Laster sind zu etwas gut
Nur der Mann nicht, sagt Baal, der sie tut.
Laster sind was, weiß man was man will.
Sucht euch zwei aus: Eines ist zu viel!

Bertolt Brecht: Baal (Letzte Fassung 1955)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 29.10.2019 um 16:55 Uhr (Zitieren)
Ich, Borderliner

Hallo Claudia,

auf dein unfaires und gemeines Verhalten mir gegenüber in der vorigen Woche möchte ich kurz eingehen, auch wenn es mich im Grunde nicht trifft, weil du mir nämlich am Arsch vorbeigehst. Dass das, was du mit mir gemacht hast, unmöglich war, ist klar, da kannst du auch gerne Brigitte und Thorsten fragen. Die sehen das auch so, beide. Du denkst sicher, dass die mir nur schmeicheln wollen, aber da irrst du dich gewaltig. Das sind echte Freunde, nicht nur so falsche Schlangen wie du eine bist.
Wie du damals gesagt hast, ich hätte den Tisch falsch gedeckt, die Gabel auf die falsche Seite vom Teller gelegt, angeblich, da ist mir das klar geworden. Das habe ich dir nicht vergessen! Immer nimmst du dir irgendeine Kleinigkeit zum Vorwand, meinst aber eigentlich etwas ganz anderes. Schon wie du mich dabei angeschaut hast, habe ich gemerkt, dass du mich bloß fertigmachen willst und du deshalb irgendwas vorschiebst, um mir mal wieder das Gefühl zu geben, dass ich nichts richtig mache und zu nichts tauge.
Es tut mir Leid, wenn ich mal etwas falsch mache, obwohl ich die Gabel gar nicht auf die falsche Seite gelegt habe, denn rechts ist richtig, das Messer muss links. Aber natürlich mache ich manchmal Fehler. Du aber auch! Ich meine nur, dass es dir eigentlich gar nicht darum geht. Du kannst mich einfach nicht leiden, du hältst mich für unsympathisch, deshalb mache in deinen Augen alles falsch. Brigitte und Thorsten, die kennen mich besser, die mögen mich total.
Erinnerst du dich noch, wie du gesagt hast, dass es etwas wärmer sein könnte in der Wohnung? Klar erinnerst du dich. Was für eine hinterhältige Art mir zu sagen, dass ich zu geizig bin, um beim Essen mit Freunden die Heizung hochzudrehen! Aber das ist typisch für dich.
Nicht dass ich nachtragend wäre! Wenn du deine Fehler einsiehst und dich entschuldigst, dann können wir uns gerne wieder vertragen. Du darfst nur nicht glauben, dass ich darauf warte, dazu bist du mir viel zu unwichtig.
Ich bin überhaupt viel lieber allein, ich brauche keine anderen Leute, um mich toll zu fühlen. Ich weiß, daß ich Schwächen habe und nicht so ein Sympathiebolzen bin wie du. Deshalb hast du ja auch viel Erfolg bei anderen Leuten. Es kann halt nicht jeder so liebenswürdig sein wie du. Ich bin oft zu gereizt und empfindlich.
Aber manchmal bist du auch gemein, so wie bei dem Tischdecken. Dann solltest du einfach mal die Größe haben, dich zu entschuldigen.
Bei nächster Gelegenheit. Jetzt will ich erstmal meine Ruhe haben und niemanden sehen. Schon gar nicht dich. Du kommst mir sehr klein vor. Als Mensch, meine ich. Nie zeigst du Gefühle, niemals Wärme. Auf dich kann man sich einfach nicht verlassen!
Das musste ich dir mal sagen.
Barbara

***

Hallo Brigitte,

ich muss dir kurz sagen, dass ich dein Verhalten überhaupt nicht in Ordnung fand, als wir vorige Woche mit Claudia und Thorsten zusammen waren. Es ist mir zwar im Grunde egal, aber ...

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 29.10.2019 um 17:00 Uhr (Zitieren)
"Ich, Borderliner": Wolfgang Weimer, 2017
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 03.11.2019 um 10:40 Uhr (Zitieren)
Gab es diesen Satz, Heraklit zugeschrieben, schon? "Die ohne Verstand hören, gleichen Tauben; die Redensart bezeugt es ihnen: Anwesend sind sie abwesend´" (...phatis autosi marturei: pareontas apeinai. Bei Clemes Alex.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.11.2019 um 13:23 Uhr (Zitieren)
Es gibt hier, leider ziemlich versteckt, eine Suchfunktion (rechts oben bei geöffnetem Thread).


Don't trust what you know.

Von einem Priester empfohlene Klugheitsregel für das Überleben im Widerstand, die er einem Untergrundkämpfer auf den Weg durch die Nacht mitgibt. Ang Hupa (Lav Diaz, Philippinen 2019) - https://www.hollywoodreporter.com/review/halt-review-1212084.



Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 13.11.2019 um 12:57 Uhr (Zitieren)
Eine mäßig intelligente Handlung ihres Mannes kommentiert seine Frau: "Das kommentiere ich jetzt nicht."
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 13.11.2019 um 16:37 Uhr (Zitieren)
Das Auswahlparadoxon: Je mehr Wahlmöglichkeiten, desto schwieriger die Wahl.

[Quelle: Dynamische Wege aus dem Dilemma – Interview mit der Psychologin Katharina Voigt; in: Frankfurter Allgemeine vom 13. November 2019]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Platon schrieb am 13.11.2019 um 17:22 Uhr (Zitieren)
Besser und unparadox bekannt als:

Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 13.11.2019 um 18:05 Uhr (Zitieren)
Wenn man es paradox(er) will: Je mehr Wahlmöglichkeiten (wegen Vielfalt), desto weniger Wahlmöglichkeiten (wegen Qual).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 14.11.2019 um 00:19 Uhr (Zitieren)
quid velit et possit rerum concordia discors?

(Horaz, epist. I 12, 19)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 14.11.2019 um 12:26 Uhr (Zitieren)
Lebenspraktisches Paradoxon:

Wer weiß (i. S. v.: man wird schon sehen), wozu das Schlechte gut ist!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 19.11.2019 um 23:05 Uhr (Zitieren)
Fati ista culpa est: nemo fit fato nocens.

[Seneca: Oedipus, V. 1019]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 24.11.2019 um 23:21 Uhr (Zitieren)
Ich bete zu Gott und entschuldige mich bei ihm dafür, daß ich nicht an ihn glaube.

(Laura Karasek im WDR-Fernsehen am 24. November 2019)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 26.11.2019 um 13:46 Uhr (Zitieren)
Eine Vorliebe für Nahrung, an die eine Spezies eigentlich nicht angepasst ist, kommt im Tierreich so häufig vor, dass es dafür einen eigenen Begriff gibt: Liems Paradoxon. Der 2009 verstorbene Biologe Karl Liem von der Harvard University stieß in den 1980er Jahren im Norden Mexikos auf ein interessantes Phänomen: Der hier vorkommende Buntbarsch Herichthys minckleyi besitzt flache, kieselsteinartige Zähne, die sich hervorragend zum Aufknacken harter Schneckenhäuser eignen. Doch die Süßwas-serfische schwimmen an den Schnecken vorüber, wenn es weichere Nahrung gibt. Warum entwickeln sich in der Evolution Zähne, die auf weniger bevorzugtes, selten verzehrtes Futter spezialisiert sind? Solange diese Spezialisierung den Verzehr weicher Nahrung nicht behindert, stehen damit bei Bedarf mehr Möglichkeiten offen. Das Paradoxon besteht also weniger darin, dass ein Tier die Nahrung meidet, an die es angepasst ist, sondern dass eine spezialisierte Anatomie mit einer generalisierten Ernährung einhergehen kann.

(Quelle: Die wahre Steinzeitdiät; in: Spektrum der Wissenschaft 12.19, S. 37)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 28.11.2019 um 16:14 Uhr (Zitieren)
Ein Kurznachrichten-Wechsel zweier Vetter, Jacob und Tamir Bloch:
Was hat sich verändert?

Alles. Nichts.

Verstehe.

Wir sind nun mal, wer wir sind.
Dieses Eingeständnis stellt
die Veränderung dar.

Daran arbeite ich auch.

(Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Köln 2016, S. 654(
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 30.11.2019 um 13:53 Uhr (Zitieren)
Das gehört auch noch hier hinein:
τὸ κινούμενον οὔτ‘ ἐν ᾧ ἔστι τόπῳ κινεῖται οὔτ‘ ἐν ᾧ μὴ ἔστι.

Das sich Bewegende bewegt sich weder an dem Ort, an dem es ist, noch an dem, an dem es nicht ist.

(Zenon gem. Diogenes Laërtios IX 72)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 30.11.2019 um 14:44 Uhr (Zitieren)
Frauenfeindlich bin ich nicht. Das würde mir meine Frau auch gar nicht erlauben.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 04.12.2019 um 16:28 Uhr (Zitieren)
Ich bin der bekannteste unbekannte Schriftsteller der Welt.

(Ambrose Bierce)

I’m in the very first row of second class writers.

(W. Somerset Maugham)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Gast schrieb am 04.12.2019 um 18:36 Uhr (Zitieren)
bekannteste unbekannte Schriftsteller

Oxymoron, kein Paradoxon?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 05.12.2019 um 16:30 Uhr (Zitieren)
Was ist denn da der Unterschied?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 06.12.2019 um 18:31 Uhr (Zitieren)
Eine Busfahrerin im Streitgespräch mit einem weiblichen Fahrgast, der seinen Fahrschein nicht ohne weiteres vorzeigen wollte und extrem laut diskutierte:
Die Fahrerin: „Schreien Sie mich nicht so an!“
Die Frau: „Ich bin taub.“

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 07.01.2020 um 10:52 Uhr (Zitieren)
πᾶσαν μὲν οὖν φαντασίαν οὐκ ἂν εἴποι τις ἀληθὴ διὰ τὴν περιτροπήν, καθὼς ὅ τε Δημόκριτος καὶ ὁ Πλάτων ἀντιλέγοντες τῶι Πρωταγόραι ἐδίδασκον. εἰ γὰρ πᾶσα φαντασία ἐστὶν ἀληθής, καὶ τὸ μὴ πᾶσαν φαντασίαν εἶναι ἀληθῆ κατὰ φαντασίαν ὑφιστάμενον ἔσται ἀληθές, καὶ οὕτω τὸ πᾶσαν φαντασίαν εἶναι ἀληθῆ γενήσεται ψεῦδος.

Man kann nicht behaupten, daß jede Vorstellung wahr sei - weil sich der Satz umkehren läßt, wie Demokrit und Platon im Widerspruch gegen Protagoras gezeigt haben. Denn wenn jede Vorstellung wahr ist, dann ist auch der Satz, daß nicht jede Vorstellung wahr ist, wenn man sich seinen Inhalt vorstellt, wahr; und so wird der Satz, daß jede Vorstellung wahr ist, falsch.

[Überliefert von Sextus Empiricus VII 389; gr. Diels 55, 114; dt. Capelle 440, 122]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 07.01.2020 um 10:52 Uhr (Zitieren)
Ich verspreche dir X [z.B.: dich zu besuchen], aber ich kann dir nicht sagen, ob ich dieses Versprechen auch halten werde.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 07.01.2020 um 10:53 Uhr (Zitieren)
Ich glaube, hilf meinem Unglauben.

[Jahreslosung der Evangelischen Kirche Deutschlands für 2020]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 12.01.2020 um 03:07 Uhr (Zitieren)
Auf einem Spaziergang entdeckte ich neulich eine in die schwarz gestrichene Außenmauer einer Bar eingelassene chromglänzende Türklingel, darunter eine Plakette mit der Aufschrift: "This doorbell is only here to remind you to keep quiet while being outside. Never ring it." Die paradoxe Intervention gilt offensichtlich den vom Gesetz vor die Tür verbannten Rauchern, die sich nächtens dort versammeln.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 12.01.2020 um 03:14 Uhr (Zitieren)
Er hat die herzlosen Augen eines über alles Geliebten.

Elias Canetti (Die Provinz des Menschen, 1942) Geliehen unter anderem von Alexander Kluge.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικίσκος schrieb am 12.01.2020 um 18:47 Uhr (Zitieren)
ars est artem celare.

(mittelalterlichen Ursprungs)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 12.01.2020 um 19:48 Uhr (Zitieren)
Die Grammatik der Untoten

Heute ist Diner bei Flaubert: Théo [i.e.Théophile Gautier], Turgenjew und ich. [...] Théo, der, eine Hand auf seinem schmerzenden Herzen, mit leerem Blick und das Gesicht weiß wie die Maske eines Pierrots, die Treppe hinaufgestiegen ist, abwesend, stumm, taub, ißt und trinkt mechanisch, so wie man sich einen bleichen Schlafwandler vorstellt, der im Mondschein diniert ... Er hat schon etwas von einem Sterbenden, der kaum mehr erwacht und seinem traurigen und beschränkten Selbst nur entkommt, wenn er von Gedichten und Poesie sprechen hört. [...] Als wir uns vom Tisch erheben, läßt sich Gautier auf einen Diwan fallen und sagt: "Im Grunde interessiert mich nichts mehr, mir scheint, ich gehöre nicht mehr in diese Zeit. Ich bin gerne bereit, in der dritten Person von mir zu sprechen mit den Aoristen der zweiten Praeteriti [im Original unnachahmlich: avec les aoristes des prétérits trépassés] ... Mir ist, als wäre ich bereits gestorben!

Tagebuch der Gebrüder Goncourt, 2. März 1872
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
mitleser schrieb am 14.01.2020 um 20:44 Uhr (Zitieren)
Werte gewinnen an Wert, wenn sie an Wert verlieren.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.01.2020 um 16:38 Uhr (Zitieren)
Der Syrer Mustafa Khalifa wird in Syrien unter dem Vorwurf verhaftet, er sei Mitglied einer illegalen Organisation. Bei der Einlieferung ins Gefängnis wird Khalifa mit verbundenen Augen einer Bastonade unterzogen. Dabei kommt es zu folgendem Dialog:
„Bei Gott, beim Leben des Herrn, ich weiß nicht, wonach Sie fragen! Von welcher Organisation reden Sie?“
[...]
„Die Organisation der Schwuchteln wie du eine bist. Die Organisation der Muslimbrüder ... Kennst du deine Organisation etwa nicht?“
[...]
„Aber ich bin Christ, Sīdi ... ich bin Christ!“
„Was sagst du, du Hurensohn? Du bist Christ? Verdammte Scheiße ... Warum hast du das nicht vorher gesagt? Warum haben sie dich dann hergebracht? Du hast bestimmt ein ganz großes Ding gedreht! Ein Christ, sagt er?!“
„Sie haben mich ja gar nicht danach gefragt, Sīdi. Aber nicht nur das, ich bin nicht nur Christ, ich bin sogar Atheist ... ich glaube nicht an Gott!“
Bis jetzt habe ich keiner Erklärung für diesen Unsinn. Warum hatte ich diesem Ermittler gegenüber erklärt, ich sei Atheist? Ich weiß es nicht.1)
„Und Atheist sogar?!“ sagte er nachdenklich.
„Ja, wirklich. Bei Gott! Sehen Sie doch in meinem Reisepaß nach!“
Der Rotgesichtige schwieg eine Weile, die mir sehr lange vorkam. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Dann sagte er deutlich:
„Atheist, sagt der! Also so was! Aber wir sind doch ein islamischer Staat! Ayyub ... mach weiter!“
Und damit setzte Ayyubs Rohrstock seine Arbeit fort.

[Mustafa Khalifa: Das Schneckenhaus. Bonn 2019, S. 14-16)[/i]

1) Mustafa Khalifa ist Atheist; aber es erweist sich in der Folgezeit seiner dreizehnjährigen Haft als katastrophaler Fehler, das in einem islamischen Land offen gesagt zu haben – sogar im Gefängnis eines islamischen Landes

Vgl. auch:
Five years after the Good Friday Agreement (GFA), I was in Belfast again for work. This time there was no border, no indignity and no fear.
Hearing my Dublin accent, a man in his sixties asked, “Are you Catholic or Protestant?”
“Neither, I’m atheist!” I said triumphantly.
“Yes, but are you a Catholic atheist or a Protestant atheist?”
Religion in Northern Ireland is like the Hotel California, I was told. You can check out, but you can never leave.


(Tess Finch-Lees: Anyone who thinks Brexit won’t bring back violence to Ireland doesn’t understand the Good Friday Agreement. The Independent, Tuesday 10 April 2018 - tinyurl.com/y9hazyr9
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 26.01.2020 um 00:43 Uhr (Zitieren)
"Hotel California" ist ein Song von den Eagles, auf den hier angespielt wird.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 26.01.2020 um 12:32 Uhr (Zitieren)
STANDARD: Unter Ihren damaligen Bandkollegen gab es auch IM-Stasi-Spitzel (IM: Inoffizieller Mitarbeiter, Anm.). Sind Sie nicht wütend auf den repressiven Überwachungsstaat DDR?

Flake: Auf IM-Spitzel in den Bands bin ich nicht wütend. Denn die haben durch ihren IM-Status oft erst ermöglicht, dass die Bands überhaupt existieren konnten. Die Stasi hat ja nicht ihre eigenen Leute eingesperrt. Bestes Beispiel dafür ist die DDR-Band Die Firma. Die wurde von IM-Spitzeln gegründet. Der Gag bestand darin, dass "Die Firma" eigentlich ein Synonym für "Stasi" war. Von der Stasi gedeckt, haben die dann staatsfeindliche Texte gesungen. Fast schon wieder genial.

Aus einem Interview mit dem Rammstein-Keyboarder Flake in: Der Standard, 26. Jänner 2020
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.02.2020 um 14:20 Uhr (Zitieren)
Eine neue, in sich geschlossene Kultur bildete sich heraus, eine Kultur der Kopie ohne Original. [...] Das Original lügt. Diese Hauptidee der neuen Kunst besaß eine tiefere Grundlage, die aber verborgen blieb. [...] Wir sind die, denen wir ähneln. Ist es etwa so schwer, den Anschein zu erwecken, du wärest wohlhabend und gesund? Viel leichter, als tatsächlich Geld zu verdienen und tatsächlich gesund zu werden.

(Olga Slawnikowa: 2017. Berlin 2016, S. 208-210(
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.02.2020 um 17:53 Uhr (Zitieren)
Das Paradox des Lauten: Jeder, der brüllt, will auffallen, um gehört zu werden. Aber wenn alle brüllen, fällt niemand mehr auf, wird niemand mehr gehört.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 09.02.2020 um 18:17 Uhr (Zitieren)
Wir sind die, denen wir ähneln. Ist es etwa so schwer, den Anschein zu erwecken, du wärest wohlhabend und gesund? Viel leichter, als tatsächlich Geld zu verdienen und tatsächlich gesund zu werden.


Dazu passt die in gewisser Weise die Maxime unserer Tage "Fake it till you make it" - man soll also nicht bei der bloßen Vortäuschung stehenbleiben, sondern, indem man zunächst so tut als ob, sich langsam in das verwandeln, was man werden möchte. Wer z.B. kein Geld hat, so die Idee, es aber versteht, sich wie ein Reicher zu geben, kann eben dadurch Reichtum erlangen, indem sich ihm - des Matthäuseffekts wegen etwa - neue Einkommensquellen erschließen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.03.2020 um 00:22 Uhr (Zitieren)
Die Empfehlung zur Krise um das Corona-Virus, ausgesprochen am 18. März 2020: eng beieinander stehen, indem wir Abstand voneinander halten.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 03.04.2020 um 13:59 Uhr (Zitieren)
Der fünfzehnjährige, hochintelligente Andreas Wolf ist von seinem Vater, einem Staatssekretär und Mitglied des ZK der SED in der DDR, wegen exzessiven Onanierens zum Psychiater geschickt worden.
[...] Dr. Gnel fragte ihn, ob er wisse, warum sein Vater ihn hergeschickt habe.
„Er ist vernünftig und auf der Hut“, sagte Andreas. „Wenn ich mich als Sexualstraftäter entpuppen sollte, wird in den Akten stehen, dass er etwas unternommen hat.“
„Du selbst siehst also keinen Grund, warum du hier sein solltest?“
„Ich wäre wesentlich lieber zu Hause, um zu onanieren.“
Dr. Gnel nickte und kritzelte etwas auf seinen Notizblock.
„Das war ein Witz“, sagte Andreas.
„Worüber wir Witze machen, kann aufschlussreich sein.“
Andreas seufzte. „Können wir gleich mal festhalten, dass ich viel intelligenter bin als Sie? Mein Witz war nicht aufschlussreich. Er bestand darin, dass Sie ihn für aufschlussreich halten würden.“
„Aber das ist an sich schon aufschlussreich, meinst du nicht?“
„Nur weil ich es darauf angelegt habe.“
[...]

(Jonathan Franzen: Unschuld. Reinbek bei Hamburg 2015, S. 176)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 03.04.2020 um 14:01 Uhr (Zitieren)
Dummheit hielt sich für Intelligenz, während Intelligenz ihre eigene Dummheit durchschaute. Ein interessantes Paradox.

(Jonathan Franzen: Unschuld. Reinbek bei Hamburg 2015, S. 204)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
mitleser schrieb am 03.04.2020 um 15:08 Uhr (Zitieren)
Wenn man sich die Hände zuoft nass macht, trocknen sie aus.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.04.2020 um 22:59 Uhr (Zitieren)
Erdmännchenweibchen
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 10.05.2020 um 15:50 Uhr (Zitieren)
2015: „Macht die Grenzen dicht!“
2016: „Macht die Grenzen dicht!“
2017: „Macht die Grenzen dicht!“
2018: „Macht die Grenzen dicht!“
2019: „Macht die Grenzen dicht!“
2020: „Alter, wieso sind die Grenzen dicht? Ich will in Urlaub fahren!“

(Sarah Bosetti)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 14.05.2020 um 18:41 Uhr (Zitieren)
das kleine Öfchen ist groß [magna est fornacula]

(Juvenal: Satiren X 82)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 15.05.2020 um 15:54 Uhr (Zitieren)
Karikatur in der SZ, Ehepaar vorm Fernseher, er sagt:"Ist doch egal, ob er die Wahrheit sagt, kommt doch bloß darauf an, dass er Recht hat."
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 15.05.2020 um 16:43 Uhr (Zitieren)
Schön. Da ich Paradoxien sammle: Kannst Du mir den Tag der SZ-Ausgabe nennen?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
mitleser schrieb am 19.05.2020 um 17:08 Uhr (Zitieren)
Mein Sohn drückte mit drei Jahren einmal eine komplette Tube Zahnpasta auf dem Boden aus. Als ich entsetzt aufschrie: "Du machst ja alles schmutzig!", sah er mich mit großen Augen an: "Zahnpasta macht sauber!"

cf: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2020-05/aufraeumen-kinder-erwachsene-ordnung-chaos-karlsson

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 21.05.2020 um 18:15 Uhr (Zitieren)
Danke, auch für die Angabe der Fundstelle.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 22.05.2020 um 14:58 Uhr (Zitieren)
Das Element des Nichtkönnens in der Ausübung höchsten Könnens unterscheidet den Sportler grundsätzlich vom Artisten. Der Artist ist ein Virtuose dessen, was er kann; er führt sein Können vor. Der Sportler hingegen ist ein Virtuose dessen, was er nicht kann. Er zelebriert sein Unvermögen.
Das Schauspiel, das sich dabei für den Betrachter bietet, und das Vergnügen , das der Zuschauer an diesem Schauspiel hat, sind ganz wesentlich an die Lust (und natürlich das Leid) gebunden , die die Sportlerinnen und Sportler bei ihrer riskanten Zurschaustellung erfahren.

Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien. Suhrkamp (Frankfurt am Main) 1996, S. 197


Das bringt mich zur Frage, ob das der Antike grundsätzlich fremd ist, schlechterdings modern: Nicht nur über andere siegen, sondern sich am Unmöglichen versuchen, an die Grenzen des Leistungsvermögens gehen und sie immer weiter verschieben als Schauspiel. Das erklärte auch das relative Desinteresse der alten Welt an Rekorden, die ja in dieser Perspektive ein universales Vergleichsmaß für diese Virtuosität des Unvermögens darstellen, während die Gegenwart ein hochtechnisiertes Spektakel daraus macht, z.B. den Marathon unter zwei Stunden zu laufen. Gegen die Uhr oder den eigenen Körper ist in der Antike niemand angetreten.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 22.05.2020 um 15:38 Uhr (Zitieren)
So ganz fremd scheint mir das Sich-Versuchen am Unmöglichen in der Antike nicht zu sein. Ich gebe einige spontane Gedanken dazu:

1. Viele dieser schier unmöglichen physischen Leistungen hat man auf die Heroen (Halbgötter) projiziert, was immerhin eine Freude daran indiziert.
2. Die sportliche Disziplin des Marathonlaufes bezieht sich ja immerhin auf ein historisches Ereignis, auch wenn es etwas verwirrend überliefert ist.
3. Es gab zudem den Berufsstand der Schnell- oder Tagesläufer (Hemerodromoi), und die werden ihren Ehrgeiz und ihren Preis gehabt haben, der sich nach ihren Fähigkeiten richtete.
4. Im Hellenismus erkenne ich eine Sucht des Immer-Größer, Immer-Höher (bei Schiffen, Schlachttürmen etc.), die sich am scheinbar Unmöglichen erprobt (Fünfzehnruderer). Auch Schnellsegler gab es.
5. Der Versuch des Tiberius, von Pannonien aus seinen in Germanien sterbenden Bruder Drusus noch lebend zu erreichen, galt schon in der Antike als Rekord an Schnelligkeit in der Bewegung, wurde entsprechend erwähnt und bestaunt. Die Uhr, gegen die Tiberius ritt, war in diesem Falle die Lebensuhr des Drusus.
6. Zu untersuchen wäre, inwieweit die Gladiatorenkämpfe mit ihren immer neuen, einander überbietenden Attraktionen (ich sage einmal, ohne diesen Programmpunkt konkret belegen zu können: Frau gegen Elephant), für eine Attraktivität von Steigerungen ins kaum Faßliche sprechen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 22.05.2020 um 18:11 Uhr (Zitieren)
7. Vor allem in der Spätantike kam der Kult des Herakles stark in Mode, des Meisters schier unmöglicher Taten. Kaiser Commodus hat sich als Herakles darstellen lassen und soll in diesem Kostüm gar im Colosseum aufgetreten sein. Bestimmt hat er dabei Rekordtaten vollbracht, auch wenn es nur Show war.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 23.05.2020 um 13:03 Uhr (Zitieren)
Die Projektion unglaublicher Leistungen auf Heroen und sonstiges mythologisches Personal macht daraus aber noch kein Schauspiel der Virtuosität des Unvermögens. Mögen die Tagesläufer untereinander ihre kleinen, informellen Wettkämpfe, die sich an Rekorden orientierten, gehabt haben (gibt es dazu Stellen in der Literatur?), sie blieben eingespannt in ihre Tätigkeit und die war nicht die Darbietung ihres Versuchs am Unmöglichen. Citius, altius, fortius stammt auch nicht aus der Antike, sondern von einem Dominikanerpater der vorletzten Jahrhundertwende. Der moderne Marathonlauf überbringt keine andere Nachricht mehr als die von der Grenze des Leistungs(un)vermögens des menschlichen Körpers (wofür sogar ganze Straßenzüge neue asphaltiert werden).
Einzig bei den Gladiatoren könnte man vielleicht von einem exzedierenden Theater des ultimativen Scheiterns, für das eine Gesellschaft in die Arenen strömt und bereit ist, erhebliche Investitionen (Bauten, Ausbildung, Personal) zu tätigen, sprechen. Aber das ist vielleicht wieder nur eine neuzeitliche Projektion, ähnlich wie Camus' berühmte Neubewertung des zur unermüdlichen Arbeit am Scheitern verurteilten Sisyphos, die am Ende gleichsam alpinistische Züge annimmt: "Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 24.05.2020 um 13:51 Uhr (Zitieren)
In einem Artikel der Rubrik Lifestyle über einen der letzten Kupferstecher Europas, der in einer aus der Zeit gefallenen Werkstatt ohne Internetanschluss mit Grabstichel, Pantograph und Handdruckpresse seiner Berufung nachgeht, erwähnt der Verfasser beiläufig, dass er von der Schönheit der Erzeugnisse betört, sich habe hundert Visitenkarten machen lassen. Gerade die hohe Qualität (nicht unbedingt der angemessene Preis) der Arbeit hindere ihn aber, sie ihrer Bestimmung gemäß unter die Leute zu bringen, keine einzige habe er noch überreicht. Es wäre zu schade, so liegen sie wohlverwahrt in einer edlen Schachtel.

Besitzen nicht viele Menschen solche Gebrauchsdinge oder Werkzeuge, die paradoxerweise gerade durch die Qualität ihrer Ausführung ihre Nutzung hemmen und sie zu Gegenständen der bloßen Betrachtung an der Grenze zu Kunstwerken machen?



Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 24.05.2020 um 14:01 Uhr (Zitieren)
Protect me from what I want.

Text einer 1982 von der Konzeptkünstlerin Jenny Holzer in riesiger Leuchtschrift über dem Times Square projizierten Arbeit.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 24.05.2020 um 18:46 Uhr (Zitieren)
Zur Kursivschrift: Wenn doch der Webmaster, statt nur täglich das Lateinforum zu entmüllen, wenigstens einmal pro Woche hier vorbeischauen würde und nach dem Rechten sähe!

***

Wenn ich mir Gegenstände zum Zwecke ihres Gebrauchs kaufe und sie dann für zu kostbar halte, um sie zu gebrauchen, dann sind das unbrauchbare (wenngleich nicht defekte) Gebrauchsgegenstände - das hat etwas Paradoxes.

Wenn ich eine zum Lesen geschriebene Buchrolle der Ilias bekäme, läse ich sie auf keinen Fall; aber ich hätte sie auch nicht zu diesem Zwecke erworben, sondern nur als Wertgegenstand. Das ist nicht paradox.

Wenn ich auf einer Auktion einen Denar aus der Zeit des Kaisers Tiberius ersteigere, der doch zum Bezahlen gedacht war, dann bezahle ich damit nichts, sondern lege ihn in eine Schatulle. Auch dies ist nicht paradox.

Es hängt also nicht davon ab, zu welchem Zweck das Objekt geschaffen wurde, sondern davon, zu welchem Zweck es erworben wird.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 24.05.2020 um 20:10 Uhr (Zitieren)
Ja, das Desinteresse an dieser Agora ist ärgerlich. Aber hat der Schattenadministrator von nebenab überhaupt die technische Möglichkeit hier einzugreifen?

***

Jein, ich denke nicht, dass sich die Paradoxie ganz auf die Ebene der Intentionen des Erwerbs verlegen lässt. Das paradoxe Hemmnis läge in dem speziellen Fall ja in der optimalen Gestaltung für den Verwendungszweck des Gegenstandes, die eine lähmende Schönheit jenseits eines Surplus an Design erzeugt, welches Hemmnis man in der Tat nur erfährt, wenn es in der Absicht, es wirklich zu nutzen, angeschafft wurde und nicht schon als Sammlerobjekt oder dergleichen. Ich schlösse aus dieser Paradoxie jedoch umgekehrt Fälle aus, wo davon unabhängig der hohe Anschaffungspreis etwa alleinige Ursache der absichtswidrigen Nichtnutzung wäre.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 25.05.2020 um 18:12 Uhr (Zitieren)
Kant konnte nicht umhin, nach 20 Jahren Dienst seinen diebischen Kammerdiener Lampe zu entlassen. Das schmerzte ihn sehr, darum beschloss er, Lampe gänzlich zu vergessen. Um sich stets an diese Entscheidung zu erinnern, notierte er sich den Imperativ: "Lampe muss vergessen werden."
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 26.05.2020 um 12:26 Uhr (Zitieren)
Ich habe eigens die Suchfunktion bemüht - das hatten wir tatsächlich noch nicht, in keinem der beiden Threads.
Die Ankedote ist natürlich sehr schön. Ob Kant der Witz daran bewußt war?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 26.05.2020 um 17:24 Uhr (Zitieren)
Es gibt einen Typus von Paradoxien durch zirkuläre Voraussetzungen. Das bekannteste Beispiel dürfte das aus dem „Hauptmann von Köpenick“ stammen (oder sogar aus der Behördenpraxis): Um eine Wohnung zu bekommen, muß man einen Arbeitsplatz nachweisen; um einen Arbeitsplatz zu bekommen, muß man eine Wohnung nachweisen.

Von dieser Art habe ich nun zwei Fälle erlebt:
• Im Zuge der Corona-Bekämpfung werden hier auf dem Lande keine Fahrscheine mehr im Bus verkauft. Fahrscheine kann man online kaufen oder – und jetzt folgt für diejenigen, die kein Smartphone bzw. nicht die App dazu besitzen, die Paradoxie – im Vorverkauf. Um mit dem Bus fahren zu dürfen, muß man im Vorverkauf einen Fahrschein erwerben. Um zur nächsten Vorverkaufsstelle zu kommen, muß man mit dem Bus fahren.
• Eine Bekannte wohnt im Elsaß und arbeitet in Baden. Nach der Grenzschließung, ebenfalls dank Corona-Maßnahmen, durfte sie von ihrer Wohnung nur noch mit der Bescheinigung ihres deutschen Arbeitgebers (systemrelevante Tätigkeit) nach Baden zu ihrer Arbeitsstelle einreisen; um aber die Bescheinigung zu bekommen, mußte sie nach Baden zu ihrer Arbeitsstelle reisen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 26.05.2020 um 18:10 Uhr (Zitieren)
Noch zu Kant & Lampe:
Man muß bedenken, daß Kant um diese Zeit bereits dement war. Alle Details der Geschichte (das Hängen am Gewohnten, die Anrede des neuen Dieners mit dem Namen des alten, der Zettel) sind typisch für demente Menschen.

Es ist sehr traurig, wenn man in Kants "Opus postumum" oft merkt, daß er am Ende eines Satzes bereits nicht mehr weiß, wie er ihn grammatisch begonnen hat.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.06.2020 um 23:13 Uhr (Zitieren)
Der Autor hat ein langes Buch verfasst, für ein kurzes fehlte ihm die Zeit.

M. Reich-Ranicki (angeblich)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.06.2020 um 00:07 Uhr (Zitieren)
Das klingt nach einer Äußerung Goethes:
Entschuldige die Länge des Briefes, ich hatte keine Zeit, mich kurz zu fassen.

Ich kann's allerdings nicht beschwören.
Daß MRR es gekannt & übernommen hat, wäre ihm zuzutrauen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.06.2020 um 00:08 Uhr (Zitieren)
Vive la mort!

(Graffito, in "French Connection II" kurz zu sehen)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.06.2020 um 01:13 Uhr (Zitieren)
Entschuldige die Länge des Briefes, ich hatte keine Zeit, mich kurz zu fassen.


Laut http://falschzitate.blogspot.com/2017/11/lieber-freund-entschuldige-meinen.html findet sich das Zitat weder bei Voltaire noch bei Goethe, Frau von Stein, Mark Twain oder Churchill, allesamt Kandidaten der letzten 20 Jahre, wohl aber ein sehr ähnliches bei Blaise Pascal im XVI. Brief der Lettres provinciales:

Je n’ai fait celle-ci (i.e. ma lettre) plus longue que parce que je n’ai pas eu le loisir de la faire plus courte.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 04.06.2020 um 01:13 Uhr (Zitieren)
Das verweist auf den kruden nekrophilen Schlachtruf der spanischen faschistischen Falange: "Muera la inteligencia, viva la muerte."
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.06.2020 um 01:42 Uhr (Zitieren)
Vive la mort!


Bei Baudelaire kommt das auch irgendwo vor. Es wunderte mich nicht, wenn das Publikum der Hinrichtungen zu Zeiten von La Terreur den Spruch als Gegenstück zur obsolet gewordenen Heroldsformel "Le roi est mort, vive le roi!" geprägt hätte, ist doch der Tod da der neue absolute Herrscher. In der in der Revolution angesiedelten Oper Andrea Chénier von Umberto Giordano eignet sich das Paar auf dem Weg zum Schafott die Formel als Schlusswort schließlich wieder an: Viva la morte insiem!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.06.2020 um 12:53 Uhr (Zitieren)
Es hätte mich gewundert, wenn "Vive la mort" für ein Filmset kreiert worden wäre.
Danke für Eure Angaben zu den Hintergründen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
mitleser schrieb am 05.06.2020 um 20:24 Uhr (Zitieren)
Interessant ist auch, wenn Beschlüsse das Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich bewirken sollen.
Zwei Beispiele:

1.) Um mehr Sicherheit zu gewähren, soll man oft seine Passwörter wechseln. Wenn man aber oft seine Passwörter wechselt, wählt man einfachere Passwörter, um nicht durcheinander zu kommen und sie sich leichter merken zu können.

2.) Eine Linie zwischen Straße und Fahrradweg soll beide Straßen voneinander trennen und den Fahrradfahrern Sicherheit bieten. Untersuchungen haben aber ergeben, dass Autos näher an die Fahrradfahrer fahren, wenn es eine Linie gibt, als wenn es keine Linie gibt.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 06.06.2020 um 11:29 Uhr (Zitieren)
Die Paradoxie von Sicherheitsmaßnahmen kann man das wohl nennen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.06.2020 um 14:56 Uhr (Zitieren)
Windows beendet man über Start, dann über Ein/Aus, obwohl man an dieser Stelle gar nicht einschalten kann, sofern der Computer nicht bereits eingeschaltet ist.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.07.2020 um 14:12 Uhr (Zitieren)
Ein Fünfjähriger ist nicht begeistert, das letzte Eis mit seinem kleinen Bruder zu teilen. Mit Argusaugen über-wacht er die Handlung seiner Mutter. Das Messer in der ei-nen, das Eis in der anderen Hand und neben ihr das Söhnchen ...
Leicht gereizt spricht so die Mutter zum Kind: „Ich teile das genau in der Mitte und du bekommst das größere Stück.“
Das Kind war einverstanden.

(Quelle: Stelzie; https://www.keinverlag.de/438953.text, aufgerufen am 10. Juli 2020)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 15.08.2020 um 22:42 Uhr (Zitieren)
Mit der Einführung der Kinderbeichte ab dem 7. Lebensjahr zu Beginn des 20. Jhdts entsteht ein mir in einigen persönlichen Erinnerungen begegnetes Paradoxon: Das von der Situation überforderte Kind, das nicht weiß, was es beichten soll, oder seine tatsächlichen Verfehlungen für so gering achtet, dass es Gefahr zu laufen glaubt, für unaufrichtig gehalten zu werden, belügt den Beichtvater (im kindlichen Verständnis augustinischer Strenge allemal eine schwere Sünde) und erfindet Beichtwürdiges, d.h. in dieser Innenperspektive des Beichtkindes wird eine Verfehlung begangen, um Vergebung zu erlangen für Schuld, die man gar nicht auf sich geladen hat, während diese tatsächliche Verfehlung selbst unerwähnt und unvergeben bleibt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 15.08.2020 um 23:25 Uhr (Zitieren)
Das ist gut analysiert! Den Sachverhalt kenne ich aus eigenem Erleben, wobei sich das Problem nicht daraus ergab, daß ich als Kind keine "Sünden" begangen hätte, sondern daß wir die 10 Gebote entlang beichten mußten, was eine Reflexion und Angabe zu jedem Gebot erforderte.
4. Gebot: das war mit einem Streit zuhause leicht erledigt. Fürs 5. Gebot reichten feindselige Gedanken gegenüber irgendjemandem. Aber zum 6. Gebot hätte ich damals aufrichtigerweise nichts zu sagen gehabt. Da habe ich dann "unkeusche Gedanken" gestanden, ohne zu wissen, worum es sich da eigentlich handelte.

Daß der Kaplan, bei dem ich beichtete, sich später als pädophil erwies, machte - im Nachhinein - die Angelegenheit noch skurriler. Ich hoffe, er hatte einen guten Beichtvater.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 16.08.2020 um 07:00 Uhr (Zitieren)
In den so genannten Beichtspiegeln, die auswendig
gelernt werden mussten, fand sich zu meiner Zeit
auch das Delikt "Ich habe genascht".

Ganz amüsant sind modernere Beichthilfen z.B.
diese:
https://www.roemische-messe-regensburg.de/JugendmitGott/pdf/beichtspiegel.pdf

Man achte auf die Formulierungen etwa beim
6. Gebot.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 16.08.2020 um 18:03 Uhr (Zitieren)
Ja, auf dem Niveau von "ich habe genascht" befand sich das in der Kinderversion. Genau, Beichtspiegel, so hieß das. Da man vor der Erstkommunion beichten mußte, war man halt noch ein Kind.

Danke für den Link.
Wenn wir sagen, dass wir keine Sünden haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Bekennen wir unsere Sünden, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden erlasse und uns rein mache von allem Unrecht.

So haben wir denn eine weitere Paradoxie: Zu sagen: "Ich bin kein Sünder" ist sündhaft.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 19.08.2020 um 22:59 Uhr (Zitieren)
Luxus für alle.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 19.08.2020 um 23:32 Uhr (Zitieren)
Kontemplation verlangt Zerstreuung.

Martin Seel: Theorien. Nr.6. S. Fischer, 2009.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 24.08.2020 um 21:07 Uhr (Zitieren)
Wir kommen mit der Wahrheit oft in eine so sonderbare Lage, wie Nero, der dem hundert Drachmen versprach, der ihm die reine Wahrheit sagen würde. „Du gibst mir keine hundert Drachmen“, sagte einer. Gab sie ihm nun Nero, so hatte dieser ihm keine Wahrheit gesagt und gab er sie ihm nicht, so hielt er nicht Wort ...

(Karl Julius Weber: Und so verzeiht mein spöttisch Maul. [Demokritos oder Hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen] Auswahl in 2 Bdn., hrsg. v. Jürgen Rauser. Schwäbisch Hall 1966; Bd. 1, S. 243)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 25.08.2020 um 14:37 Uhr (Zitieren)
Das erinnert an den den Sophismus des Euathlos.

https://de.wikipedia.org/wiki/Euathlos
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.08.2020 um 15:04 Uhr (Zitieren)
Den Euathlos hatten wir hier schonmal; ich glaube, das war sogar die allererste Paradoxie, die ich hier vorgestellt habe.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.08.2020 um 15:05 Uhr (Zitieren)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 27.08.2020 um 15:16 Uhr (Zitieren)
[quote]O glaubt mir doch, ihr meine lieben Brüder,
Ein Dunst, ein Traum ist unser Lebenslauf,
Gesund und frisch legt ihr euch abends nieder,
und mausetot – steht ihr am Morgen auf!](quote]
(Quelle: Pater Pfeffel; zitiert nach Karl Julius Weber: Demokritos oder Hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. Hrsg. v. Wolfgang Ronner. München 1966, S. 330)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 27.08.2020 um 15:16 Uhr (Zitieren)
O glaubt mir doch, ihr meine lieben Brüder,
Ein Dunst, ein Traum ist unser Lebenslauf,
Gesund und frisch legt ihr euch abends nieder,
und mausetot – steht ihr am Morgen auf!

(Quelle: Pater Pfeffel; zitiert nach Karl Julius Weber: Demokritos oder Hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen. Hrsg. v. Wolfgang Ronner. München 1966, S. 330)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 28.08.2020 um 15:07 Uhr (Zitieren)
Kurz vor der Revolution war es bei der feinen Welt beinahe lächerlich, an Gott zu glauben; selbst Damen freigeisterten à la Voltaire, und eine Zofe schwur bei Gott, eine – Atheistin zu sein.

Karl Julius Weber: Und so verzeiht mein spöttisch Maul. [Demokritos oder Hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen] Auswahl in 2 Bdn., hrsg. v. Jürgen Rauser. Schwäbisch Hall 1966; Bd. 2, S. 135)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 29.08.2020 um 15:18 Uhr (Zitieren)
Politik ist die Kunst, Gott so zu dienen, daß der Teufel darüber nicht böse wird.

(Napoleon Bonaparte; zitiert nach Karl Julius Weber: Und so verzeiht mein spöttisch Maul. [Demokritos oder Hinterlassene Papiere eines la-chenden Philosophen] Auswahl in 2 Bdn., hrsg. v. Jürgen Rauser. Schwäbisch Hall 1966; Bd. 2, S. 151)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 20.09.2020 um 20:32 Uhr (Zitieren)
Galgen mit Blitzableiter.

Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher I, Heft L 550 (Promies)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
mitleser schrieb am 21.09.2020 um 18:40 Uhr (Zitieren)
Woran man einen Dummkopf erkennt?
Er weiß alles

Harald Schmid (*1946), Aphoristiker

PS: Irgendeiner bedient sich meines frei verfügbaren Nicknames...
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 23.09.2020 um 13:44 Uhr (Zitieren)
Sich verzeihliche Fehler erlauben:

denn eine Nachlässigkeit ist zu Zeiten die größte Empfehlung der Talente. Der Neid übt einen niederträchtigen, frevelhaften Ostracismus aus. Dem ganz Vollkommnen wird er es zum Fehler anrechnen, daß es keine Fehler hat, und wird es als ganz vollkommen ganz verurtheilen. Er wird zum Argus, um am Vortrefflichen Makel zu suchen, wenn auch nur zum Trost. Der Tadel trifft, wie der Blitz, grade die höchsten Leistungen. Daher schlafe Homer bisweilen, und man affektire einige Nachlässigkeiten, sei es im Genie, sei es in der Tapferkeit, – jedoch nie in der Klugheit, – um das Mißwollen zu besänftigen, daß es nicht berste vor Gift. Man werfe gleichsam dem Stier des Neides den Mantel zu, die Unsterblichkeit zu retten.

Baltasar Gracián y Morales: Handorakel Nr. 83 (Übersetzung: Schopenhauer)

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 26.09.2020 um 14:48 Uhr (Zitieren)
Fast is too slow.

(Bandenwerbung von adidas am 3.9.2020 beim Spiel Deutschland vs. Spanien in der Nations League)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 26.09.2020 um 14:50 Uhr (Zitieren)
Über eine Schule mit Inklusion:
Was für die Kinder das Normalste von der Welt ist, bringen sie zu Hause ihren Familien bei: Die blinde Freundin ist nicht „anders“, sie kann nur nicht sehen.

(Frankfurter Allgemeine vom 14. September 2020)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 26.09.2020 um 15:02 Uhr (Zitieren)
"A lttle bit too much is not enough for me." Inschrift in einer Altstadt-Bar in Turin
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
mitleser schrieb am 03.10.2020 um 15:49 Uhr (Zitieren)
Die einen wissen, wie es in der DDR war, und die anderen haben in ihr gelebt.

Klaus D. Koch Heute ist der 30. Jahrestag der deutschen Einheit.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 10.10.2020 um 13:31 Uhr (Zitieren)
Bist du auch ehrlich?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Y schrieb am 10.10.2020 um 20:15 Uhr (Zitieren)
Heute ist der 30. Jahrestag der deutschen Einheit

Wow, was der alles weiß!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 11.10.2020 um 10:07 Uhr (Zitieren)
Thema: DDR

"Die einen wissen, wie es in der DDR war, und die anderen haben in ihr gelebt."

Klaus D. Koch
Heute ist der 30. Jahrestag der deutschen Einheit.

(so wörtlich bei Facebook zu lesen)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 12.10.2020 um 16:03 Uhr (Zitieren)
The Flat Earth Society has members all around the globe.

(Quelle: https://twitter.com/daily_hegel/status/988097805813239808, aufgerufen am 12. 10.2020)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 14.10.2020 um 13:54 Uhr (Zitieren)
[Der Junker Western:] „Fehlt dem Mädchen [seiner Tochter] irgend etwas?“ - „Ich glaube wohl“, erwiderte sie [seine Schwester], „und etwas von nicht geringer Tragweite.“ – „Was? Sie klagt doch über nichts! Und die Blattern hat sie ja gehabt.“ – „Mein Bruder“, bemerkte sie, „junge Mädchen sind, außer den Blattern, noch andern und mitunter viel schlimmeren Krankheiten ausgesetzt.“ Hier fiel ihr Herr Western sehr ernsthaft ins Wort und bat sie, wenn seiner Tochter irgend etwas fehle, so möge sie ihm das augenblicklich sagen; er setzte hinzu, sie wisse doch, daß er seine Tochter mehr liebe als seine eigene Seele und daß er bis ans Ende der Welt nach dem besten Arzt für sie schicken wolle. „Nein, nein!“ antwortete das Fräulein lächelnd, „ganz so schrecklich ist die Krankheit doch wohl nicht; aber ich glaube, lieber Bruder, Sie sind überzeugt, ich kenne die Welt; und ich versichere Ihnen, nichts würde mich so enttäuschen, wie wenn meine Nichte nicht rasend verliebt wäre.“ – „Wie, was?“ rief Western ganz erbost, „verliebt, verliebt, ohne mir etwas zu sagen! Ich enterbe sie; ich jag sie aus dem Haus, wie sie ist, ohne einen Heller. Hab ich das von meiner Liebe und Güte, daß sie sich verliebt, ohne mich um meine Erlaubnis zu bitten?“ – „Aber Sie werden doch“, erwiderte Fräulein Western, „Ihr Fräulein Tochter, das Sie mehr lieben als Ihre eigene Seele, nicht auf die Straße setzen, bevor Sie wissen, ob Sie ihre Wahl billigen können? Dann würden Sie darüber doch nicht ärgerlich sein, hoffe ich.“ – „Nein, nein!“ rief Western, „so wär’s was anderes. Nimmt sie den Mann, den ich für sie haben möchte, so mag sie lieben, wen sie will, ich kümmere mich nicht darum!“ – „Das heiße ich vernünftig gesprochen“, sagte die Schwester.

(Henry Fielding, Tom Jones. München 1965, S. 236)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 14.10.2020 um 14:00 Uhr (Zitieren)
Wer Sport treibt, lebt länger, verschwendet aber mehr Lebenszeit für Sport.

Wenn der Sinn des Lebens für einen Menschen im X-en be-steht, dann kann er bei längerer Lebenszeit mehr x-en. Treibt er aber, um länger zu leben, mehr Sport, dann kann er weniger x-en.

Ein Mensch steht morgens auf und möchte am liebsten gleich x-en.
„Aber nein“, entgegnet seine Frau, „du mußt erst noch Sport treiben!“
„Ah“, seufzt er, „warum soll ich so viel Sport treiben?“
„Damit du gesund bleibst und länger lebst“, belehrt ihn seine Frau.
„Und wozu ist es gut, länger zu leben?“ beharrt er.
„Dann kannst du mehr x-en, und das liebst du doch!“
So behält sie recht. Oder etwa nicht?

Selig der, für den Sport und X-en dasselbe sind!

All diese Gedanken sind mir beim X-en gekommen, nicht beim Sport.

(Wolfgang Weimer)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 14.10.2020 um 14:36 Uhr (Zitieren)
In Venedig gibt es für den Venezianer nichts zu sehen.

Herman Melville: Die Reisetagebücher. Eintrag Sonntag, 5. April 1857. Achilla Presse Verlagsbuchhandlung, 2001, S. 262
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Λητώ schrieb am 14.10.2020 um 15:32 Uhr (Zitieren)
All diese Gedanken sind mir beim X-en gekommen, nicht beim Sport.


Vielleicht hatte die Frau des Autors auch die sich durch Sport verbessernde qualitative Seite des X-ens im Sinn. :)

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.10.2020 um 15:27 Uhr (Zitieren)
Torricellis Trompete:
Dabei handelt es sich nicht um ein echtes Musikinstrument, sondern um handfeste Mathematik. Torricelli untersuchte damals eine rotierende Hyperbel: Angenommen, man dreht die durch die Funktion y = 1/x – für x größer gleich 1 – gebildete Kurve um die x-Achse. Welches Volumen hat der entstehende Körper dann?
[...]
Das Ergebnis ist [...] eine endliche Zahl. Überraschenderweise ist die Oberfläche des Rotationskörpers dagegen unendlich groß. Das Resultat Torricellis erscheint paradox: Die Form, die er entdeckt hatte, gleicht einer lang gestreckten Trompete, deren Ende bis ins Unendliche reicht und dabei immer dünner wird. Obwohl das Objekt unendlich lang ist und eine unendlich große Oberfläche hat, ist das Volumen endlich.

Daraus ergibt sich das "Painter's Paradox":
Das „Painter’s Paradox“ verdeutlicht den vermeintlichen Widerspruch: Um die unendlich große Innenfläche der Trompete zu bemalen, bräuchte man ja wohl unendlich viel Farbe. Andererseits kann man das endliche Volumen des Körpers mit einer endlichen Menge Farbe füllen – womit gleichzeitig die Innenfläche komplett gefärbt sein sollte.

(Spektrum der Wissenschaft 11.20, S. 43)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.10.2020 um 15:31 Uhr (Zitieren)
Die Lösung erscheint witzig: Man kann die Trompete mit einer endlichen Menge "mathematischer Farbe" bemalen, die unendlich dünn wird.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 21.10.2020 um 14:31 Uhr (Zitieren)
[...] es mag indessen ein Paradoxon oder sogar ein Widerspruch scheinen, aber es ist gewiß, daß große Menschenliebe zuvörderst uns die Menschen meiden und verachten läßt; das nicht so sehr wegen ihrer privaten und selbstsüchtigen Laster als wegen der Laster von allgemeiner Art, wie Neid, Bosheit, Verräterei, Grausamkeit und jede andere Form des Übelwollens. Das sind die Laster, die der wahre Menschenfreund verabscheut; und ehe er sie sehen und sich mit ihnen abfinden will, meidet er lieber die Gesellschaft selbst.

(Henry Fielding: Tom Jones. München 1965, S. 407 f.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 22.10.2020 um 18:33 Uhr (Zitieren)
Ich hatte echt keine Wahl! Er oder ich.

(American Gangster, Regie: Ridley Scott 2007)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 22.10.2020 um 20:10 Uhr (Zitieren)
Das ist niedlich!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.10.2020 um 18:08 Uhr (Zitieren)
Φησὶν σιωπῶν.

(In Griechisch und auch lateinischer Entsprechung verbreitetes Sprichwort)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.11.2020 um 23:23 Uhr (Zitieren)
„Sagst du eigentlich jemals die Wahrheit?“
„Die Wahrheit? Nein.“

[i](Der große Eisenbahnraub (1978), Edward Pierce/Sean Connery)[7i]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.11.2020 um 23:23 Uhr (Zitieren)
„Sagst du eigentlich jemals die Wahrheit?“
„Die Wahrheit? Nein.“

(Der große Eisenbahnraub (1978), Edward Pierce/Sean Connery)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 06.11.2020 um 18:29 Uhr (Zitieren)
Er und sie beim Eheberater:
Er: "Ständig fällt sie mir ins ..."
Sie: "Ist ja überhaupt nicht wahr!"

(gemäß einer Zeichnung von Uli Stein)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.11.2020 um 00:06 Uhr (Zitieren)
Dieser Spieler geht hinter dir in die Drehtür und kommt vor dir wieder raus.

(Der ehemalige Fußballtrainer Max Merkel)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.11.2020 um 00:08 Uhr (Zitieren)
Der fremde Sohn

(Titel eines Films unter der Regie von Clint Eastwood, 2008)

Dazu hat Eastwood sogar die Musik geschrieben.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 02.12.2020 um 13:52 Uhr (Zitieren)

Die Bahnhofsuhr schlug Mitternacht. Die Klage in der Ferne brach mit einemmal ab, als würde sie sich nach der Uhrzeit richten. »Ein neuer Tag hat begonnen«, sagte der Mann, »in diesem Augenblick hat ein neuer Tag begon-
Ich schwieg, seine Behauptungen ließen keinen Platz für Zwischenbemerkungen. Es vergingen ein paar Minuten, und mir schien, als ob die Lichter auf dem Bahnsteig schwächer geworden wären. Der Atem meines Reisegefährten ging nun stockend und langsam, als ob er schliefe. Ich schreckte beinahe hoch, als er wieder zu sprechen begann. »Ich fahre nach Varanasi«, sagte er, »und Sie?«
»Nach Madras«, sagte ich.
»Madras«, wiederholte er, »ja, ja.«
»Ich möchte den Ort sehen, an dem der Apostel Thomas angeblich den Märtyrertod starb, die Portugiesen errichteten dort im sechzehnten Jahrhundert eine Kirche, ich weiß nicht, was davon übriggeblieben ist. Und dann muß ich nach Goa, ich muß eine alte Bibliothek aufsuchen, deshalb bin ich nach Indien gekommen.« »Ist es eine Pilgerreise?« fragte er.
Ich verneinte. Dann sagte ich, vielleicht doch, aber nicht im religiösen Sinn des Wortes. Allenfalls war es eine private Pilgerreise, wie sollte ich sagen, ich suchte bloß
Spuren.
»Sie sind wohl Katholik«, sagte mein Reisegefährte.
»Alle Europäer sind gewissermaßen Katholiken«,
sagte ich, »oder zumindest Christen, es ist praktisch dasselbe.«

Der Mann wiederholte das Adverb, das ich verwendet hatte, als ob er es kostete. Er sprach ein sehr elegantes Englisch, mit kleinen Pausen und etwas zögernden, in die Länge gezogenen Konjunktionen, wie es auf manchen Universitäten üblich war, stellte ich fest. »Practically, actually«, sagte er. »Was für seltsame Wörter, ich habe sie in England oft gehört, ihr Europäer verwendet oft diese Wörter.« Er machte eine längere Pause, aber ich verstand, daß er noch nicht zu Ende gesprochen hatte. »Es ist mir nie gelungen festzustellen, ob aus Pessimismus oder Optimismus«, fuhr er fort, »was meinen Sie?«
Ich bat ihn, sich genauer auszudrücken.
»Ach«, sagte er, »es ist schwierig, sich genauer auszudrücken. Nun, manchmal frage ich mich, ob dieses Wort Hochmut zum Ausdruck bringt oder nur Zynismus. Und vielleicht auch große Angst. Verstehen Sie mich?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich, »es ist nicht ganz leicht. Aber das Wort praktisch bedeutet praktisch nichts.«
Mein Reisegefährte lachte. Es war das erste Mal, daß er lachte. »Sie sind sehr gewitzt«, sagte er, »Sie haben mich widerlegt, und gleichzeitig haben Sie mir recht gegeben, praktisch.«
Auch ich lachte, und dann sagte ich schnell: »In meinem Fall ist es praktisch Angst.«
Wir schwiegen eine Weile, mein Gefährte bat mich um die Erlaubnis zu rauchen. Er kramte in einer Tasche, die neben seinem Bett stand, und im Zimmer verbreitete sich der Geruch jener kleinen, aromatischen indischen Zigaretten, die aus einem einzigen Tabakblatt bestehen.
»Ich habe einmal das Evangelium gelesen«, sagte er, »das ist ein sehr seltsames Buch.«
»Nur seltsam?«
Er zögerte »Auch sehr hochmütig«, sagte er dann, »aber das meine ich nicht böse.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht recht folgen«, sagte ich.
»Ich meinte Christus«, sagte er.
Die Bahnhofsuhr schlug halb eins. Ich spürte, daß ich langsam schläfrig wurde. Von dem Park hinter den Gleisen hörte man das Krächzen der Krähen. »Varanasi ist Benares«, sagte ich, »das ist eine heilige Stadt, machen auch Sie eine Pilgerfahrt?«
Mein Gefährte drückte die Zigarette aus und hustete leicht. »Ich fahre dorthin, um zu sterben«, sagte er, »ich habe nur noch wenige Tage zu leben.« Er schob sich das Kissen unter dem Kopf zurecht. »Aber vielleicht sollten jetzt schlafen«, fuhr er fort, »wir haben nicht mehr viel Zeit, mein Zug geht um fünf Uhr.«
»Meiner kurz danach«, sagte ich.
»Haben Sie keine Angst«, sagte er, »der Bahnhofsdiener wird Sie rechtzeitig aufwecken. Ich nehme an, wir werden keine Gelegenheit mehr haben, uns in der Gestalt wiederzusehen, in der wir uns kennengelernt haben, in unseren gegenwärtigen Koffern, Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«
»Auch Ihnen eine gute Reise«, antwortete ich.

Antonio Tabucchi: Indisches Nachtstück. C.Hanser 1990, S.39ff.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 02.12.2020 um 14:48 Uhr (Zitieren)
Wenn ich es recht sehe, kommt es hier auf das "Das Wort praktisch bedeutet praktisch nichts" an.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 02.12.2020 um 14:51 Uhr (Zitieren)
Die Paradoxie als Lüge: Der SS-Brigadeführer Franz Walter Stahlecker, Leiter der Einsatzgruppe A des SD, schrieb im Oktober 1941 über die Judenpogrome in Lettland:
[...] Nicht minder wesentlich war es, für die spätere Zeit die feststehende und beweisbare Tatsache zu schaffen, daß die befreite Bevölkerung aus sich selbst heraus zu den härtesten Maßnahmen gegen den bolschewistischen und jüdischen Gegner gegriffen hat, ohne daß eine Anweisung deutscher Stellen erkennbar ist.
[...]
Ebenso wurden schon in den ersten Stunden nach dem Einmarsch, wenn auch unter erheblichen Schwierigkeiten, einheimische antisemitische Kräfte zu Pogromen gegen die Juden veranlaßt. Befehlsgemäß war die Sicherheitspolizei ent-schlossen, die Judenfrage mit allen Mitteln und aller Entschiedenheit zu lösen. Es war aber nicht unerwünscht, wenn sie zumindest nicht sofort bei den doch ungewöhnlich harten Maßnahmen, die auch in deutschen Kreisen Aufsehen erregen mußten, in Erscheinung trat. Es mußte nach außen gezeigt werden, daß die einheimische Bevölkerung selbst als natürliche Reaktion gegen jahrzehntelange Unterdrückung durch die Juden und gegen den Terror durch die Kommunisten in der vorangegangenen Zeit die ersten Maßnahmen von sich aus getroffen hat.

(E. F. Zielke / H. Rothweiler, Sittengeschichte des Zweiten Weltkrieges. Hanau o.J., 2. Aufl., S. 516 f.)

Eine gelenkte und doch beweisbare Spontaneität!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 02.12.2020 um 22:01 Uhr (Zitieren)
Zitat von Γραικύλος am 2.12.20, 14:48Wenn ich es recht sehe, kommt es hier auf das "Das Wort praktisch bedeutet praktisch nichts" an.


Technically yes, practically ... könnte man z.B. einige Überlegungen anstellen, was diese paradoxe Nichtigkeit für die Verwendung in der Offenbarung, der Gebrauch sei im Fall des Erzählers praktisch ein Ausdruck der Angst, bedeutet an diesem Kreuzungspunkt einer intellektuellen Pilgerfahrt (die sich als Spurensuche nach einem anderen, der vielleicht ich ist, entpuppt, wie sich im gesamten Text immer wieder andeutet) mit einer Reise in den Tod, die auf paradoxe Weise von Routinen und Höflichkeiten eingehegt wird.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 03.12.2020 um 14:57 Uhr (Zitieren)
Was er wirklich wolle, fragt Jean Seberg in „Außer Atem“ den von Godard bewunderten Regisseur Jean-Pierre Melville. „Unsterblich werden – und dann sterben“, antwortet der.

(Quelle: Frankfurter Allgemeine vom 3. Dezember 2020: Der Zauberlehrling des Kinos)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 03.12.2020 um 15:00 Uhr (Zitieren)
Vor aller Zeit

Erst gab es keine Zeit, dann ist etwas passiert, und seitdem gibt es Zeit.

(begegnet einem häufiger, vor allem in religiösen Kontexten)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Mitleser schrieb am 03.12.2020 um 16:52 Uhr (Zitieren)
Dieses Seitdem lässt sich ermitteln.
Aktueller Stand 13,82 Milliarden Jahre.
Mit dem Urknall beginnt das, was wir ZEIT nennen.
Über das DAVOR darf man spekulieren und tut es
auch, ebenso über die Vorgänge in einem schwarzen Loch,
bei dem die Gesetze der Physik zusammenbrechen.
Singularitäten sind mathematisch nicht mehr
beschreibbar.
Ab Sekunde 10hochminus44 ist alles erklärt,
was "davor" war, entzieht sich (noch?) der methodischen
Beschreibbarkeit.
Eine Schätzung besagt, dass die Wahrscheinlichkeit,
dass es zum Big Bang
kommen konnte, bei etwa 1zu 10hoch500 liegt.
Mathematisch ist das so gut wie Null,
physikalisch bzw. realiter aber eben nicht
exakt Null.
Das biblische FIAT LUX ist gar nicht so weit
weg von der modernen Kosmologie, wenn auch
stark interpretationsbedürftig.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.12.2020 um 18:13 Uhr (Zitieren)
Mit dem Urknall begannen Raum und Zeit, so heißt es. Das macht die Frage, was davor war, allerdings obsolet, und zwar semantisch, nicht nur physikalisch.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 27.12.2020 um 17:19 Uhr (Zitieren)
1568 wurde die spanische Christin Elvira del Campo von der Inquisition verhaftet und verhört. Sie war denunziert worden, kein Schweinefleisch zu essen und samstags, d.h. am Sabbat, ihre Unterwäsche zu wechseln, also eine heimliche Jüdin zu sein. Wie üblich wurde sie mit dem Vorwurf der Anklage nicht offen konfrontiert, erst recht nicht mit den Zeugen, so daß die Frau, unter Folter aufgefordert, „die Wahrheit“ zu sagen, gar nicht wußte, was sie gestehen sollte.
„Señores“, schrie sie, „ich habe alles getan, was Sie sagen, und ich gebe falsches Zeugnis gegen mich selbst.“

(Peter de Rosa: Gottes erste Diener. Die dunkle Seite des Papsttums. München 1989, S. 210)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 27.12.2020 um 17:22 Uhr (Zitieren)
Selbst bei der Zensur gab es Spaßiges. Zuerst vollbrachte [Papst] Paul IV. [Petrus Carafa, zuvor Generalinquisitor] die Heldentat, sich selbst auf den Index zu setzen [1555]. Es ist eine merkwürdige Geschichte.

Ein paar Jahre zuvor hatte Paul III. ein halbes Dutzend Kardinäle ernannt, die unter Carafas Führung alle zu durchleuchten hatten, die in Glauben und Moral von der Orthodoxie abwichen. „Die Schuldigen und die Verdächtigen“, sagte Paul, „sind zu verhaften und vor Gericht zu stellen bis zum endgültigen Urteil (Tod).“ Carafa hatte den Befehl buchstabengetreu ausgeführt. Der Papst wurde nicht belästigt, obwohl er ein hervorragender Kandidat für Nachforschungen war – mit seiner Mätresse, seinen unehelichen Kindern, seinen Geschenken von roten Hüten an seinen Enkel und seine Neffen, die vierzehn und sechzehn Jahre zählten.

Im abschließenden Consilium oder Ratschlag an Papst Paul gab es tatsächlich offene Kritik am päpstlichen Absolutismus, Simonie, Mißbräuchen in der Verleihung von Bischofsämtern an unwürdige Kandidaten und vielem mehr. Unglücklicherweise für den Vatikan wurde dies Dokument bekannt. Die Protestanten lasen es mit Entzücken, weil es alles bestätigte, was sie je über das Papsttum gesagt hatten.

Als Carafa Papst wurde, hatte er keine Wahl, als das Consilium, das er geschrieben hatte, auf den Index zu setzen.

(Peter de Rosa: Gottes erste Diener. Die dunkle Seite des Papsttums. München 1989, S. 214 f.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 27.12.2020 um 20:09 Uhr (Zitieren)
"... befehle ich Ihnen, dass Sie ...meine Befehle nicht beachten".
Friedrich II.vor der Schlacht bei Mollwitz, aus der er übrigens türmte.

Nähere Umstände hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Mollwitz

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 28.12.2020 um 01:03 Uhr (Zitieren)
Als ein Ungeheuer [Papst Johannes XII.] aus dem Weg war, wählten die Römer Benedikt V. als Ersatz. [Kaiser] Otto [I.] war überlistet und wütend. „Niemand kann ohne Zustimmung des Kaisers Papst sein“, erklärte er. „So ist es immer gewesen.“ Seine Wahl war Leo VIII. [4. Dezember 963]

Im sechzehnten Jahrhundert behauptete Kardinal Baronius in seinen Kirchlichen Annalen, die Acton als „größte je geschriebene Kirchengeschichte“ bezeichnet hat, Benedikt sei der wahre Papst gewesen und Leo der Gegenpapst. Dies ist schwer zu widerlegen. Doch Benedikt fiel reuig zu Ottos Füßen und erklärte sich selbst zum Schwindler. Um dies zu beweisen, legte er seine Regalien ab und bekannte auf den Knien vor Leo, er sei der rechtmäßige Nachfolger Petri.

Es ist nicht klar, ob die Behauptung eines echten Papstes, er sei nicht echt, eine Übung in Unfehlbarkeit ist – doch es muß eine Botschaft an die ganze Kirche über Glauben und Moral darin liegen.

(Peter de Rosa: Gottes erste Diener. Die dunkle Seite des Papsttums. München 1989, S. 67)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 29.12.2020 um 14:57 Uhr (Zitieren)
Da staunte Galilei. Als nämlich Papst Urban VIII. zu ihm sagte:
Du magst unwiderlegbare Beweise für die Bewegung der Erde haben. Das beweist nicht, daß die Erde sich wirklich bewegt.

(Peter de Rosa: Gottes erste Diener. Die dunkle Seite des Papsttums. München 1989, S. 281)

Credo quia absurdum.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 05.01.2021 um 17:29 Uhr (Zitieren)
Papst Innozenz IV. (1243 – 1254) versuchte, seinen Neffen als Prätendenten für die Nachfolge des Bischofs Grosseteste von Lincoln zu etablieren. Grosseteste empfand das als unschicklich und schrieb dem Papst:
Als gehorsamer Sohn bin ich ungehorsam, ich widerspreche, ich rebelliere. Ihr könnt nicht gegen mich vorgehen, denn all meine Worte und Taten sind nicht wirklich rebellisch, sondern die kindliche Achtung, die man nach Gottes Gebot seinem Vater und seiner Mutter schuldet.

(Peter de Rosa: Gottes erste Diener. Die dunkle Seite des Papsttums. München 1989, S. 508)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 05.01.2021 um 17:31 Uhr (Zitieren)
Im Februar 1535 wurde der Gemeindepriester von Almodovar zahlreicher sexueller Vergehen angeklagt, darunter des Besuchs von Bordellen und der Anstiftung in der Beichte. Er hatte einer jungen Frau die Absolution verweigert, bis sie sich bereit fand, mit ihm zu schlafen. Er bekam eine kleine Geldstrafe und dreißig Tage Hausarrest.

(Peter de Rosa, Gottes erste Diener. Die dunkle Seite des Papsttums. München 1989, S. 521)

Das heißt: Ich spreche dich nicht von deinen Sünden frei, bis du zu einer Sünde bereit bist.


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 06.01.2021 um 17:54 Uhr (Zitieren)
Das Paradox ist nur allzu offensichtlich: Der Konservatismus kann ebenso eine Quelle des Fortschritts sein, wie die Faulheit die Mutter der Effizienz ist.

(Michel Houellebecq: Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen - Essays. Köln 2020, S. 9)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.01.2021 um 15:01 Uhr (Zitieren)
Das Konzept der Unendlichkeit hat schon immer zu Schwierigkeiten geführt: Philosophen und Theologen zerbrechen sich seit Jahrhunderten den Kopf darüber – ganz zu schweigen von Mathematikern, denen es erst im 19. Jahrhundert gelang, mit den unvorstellbaren Größen zu arbeiten. Tatsächlich stießen sie dabei schon früh auf verschiedene Arten von Unendlichkeiten, doch lange wussten sie nicht, wie man diese beschreiben oder miteinander vergleichen sollte. [Text fährt fort mit dem mathematischen Konzept der Unendlichkeit.]

(Das fehlende Puzzleteil; in: Spektrum der Wissenschaft 2.21, S. 14)

Man könnte es die Paradoxie der Floskel nennen - "ganz zu schweigen" davon, daß hier ein Mathematiker über Logik schreibt!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aristoteles schrieb am 18.01.2021 um 16:56 Uhr (Zitieren)
Ein schönes Beispiel für den Versuch, Unendlichkeit ein wenig
anschaulich zu machen, ist Hilberts Hotel.
https://de.wikipedia.org/wiki/Hilberts_Hotel

Ob man da wirklich von sinnvoller Veranschaulichung sprechen kann, darf
bezweifelt werden. Unser Gehirn ist für solche Vorstellungen nicht geschaffen.
Dass etwas unendlich sein kann, also kein Ende hat, widerstrebt unserer Intuition,
wohl auch deswegen, weil unser Begriff von Wirklichkeit letztlich sehr begrenzt ist.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.01.2021 um 18:02 Uhr (Zitieren)
"Hilberts Hotel" kenne ich; aber die Paradoxie, die ich hier angesprochen habe, hat nichts mit dem Begriff der Unendlichkeit zu tun, sondern mit der Phrase "ganz zu schweigen von" als Einleitung einer längeren Abhandlung.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aristoteles schrieb am 18.01.2021 um 18:13 Uhr (Zitieren)
sondern mit der Phrase "ganz zu schweigen von"

Es handelt sich hier um das Stilmittel der Praeteritio.
Daher würde ich eher von einer untypischen Paradoxie sprechen.

Mein Beitrag war nur als Zusatzinfo gedacht.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 19.01.2021 um 12:30 Uhr (Zitieren)
A: Ach, ich werde nicht verstanden.
B: Unsinn, du bist nicht unverstanden.
A: Verstehst du nicht, dass ich Verständnis erwarte für mein Gefühl, unverstanden zu sein?
B blickt A verständnislos an, A lächelt zufrieden.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.01.2021 um 14:20 Uhr (Zitieren)
Sehr schön. Zur Quellenfrage (ich möchte ein Buch über Paradoxien schreiben): Das stammt von Dir?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 19.01.2021 um 20:07 Uhr (Zitieren)
Ja, das stammt von mir.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 20.01.2021 um 01:50 Uhr (Zitieren)
»Es gab keine Intrige«, sagte William, »und ich habe sie aus Versehen aufgedeckt.«

Umberto Eco: Der Name der Rose
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.01.2021 um 15:18 Uhr (Zitieren)
Von der Struktur her (Bestätigung dessen, was zugleich verneint wird) ist das so wie "Du hast keine Chance. Nutze sie."

***

Die Jesuiten sind die einzigen Atheisten, die an Gott glauben.

(Guillermo Arriaga: Der Wilde. Stuttgart 2018, S. 223)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 31.01.2021 um 12:21 Uhr (Zitieren)
Kriton : Sokrates, du hier? Freude und Schrecken. Schloss ich dir nicht die Augen?
Was gehst du so merkwürdig im Kreis, steif der Gang, die Züge fahl, verschattet dein Blick? Was ist dir geschehen? Wo kommst du her?

Sokrates : Kriton, Freund, nicht aus Phthia, so viel ist gewiss. Mehr aber nicht. Wie im Traum wandle ich ohne zu träumen. Es ist … ich weiß nicht, ob tot ich bin oder lebe.

Kriton: Kein Geist scheinst du mir, vielmehr unter den Lebenden zu weilen, als kreuzte das Schiff aus Delos noch auf dem Meer. Aber sprich: Wie gelangst du zu dieser merkwürdigen Ansicht?

Sokrates: Die man als tot bezeichnet, habe ich mehr gesehen als mir lieb ist, aus fernster Ferne und nächster Nähe. Nun sage mir aber, Kriton, muss man nicht, um zu wissen, ob man eines von zweien ist, beides kennen. Muss, wer hungrig sich fühlt, nicht auch Sattheit erfahren haben, um sagen zu können, was ihm sein Magen gerade bestellt?

Kriton: So ist es wohl, auch geht mir das Herz auf, o Sokrates, dass du mit ernsten Fragen dein altes Spiel treibst.

Sokrates: Da du mir dies einräumst, Kriton, gibst du weiter auch zu, dass, kann ich nicht wissen, wie es ist, tot zu sein, es mir verwehrt bleibt zu vergleichen, ich also nicht ausschließen kann, schon tot zu sein? Auch könnte es solche geben, die wir als tot bezeichnen, obwohl sie es nicht sind, und umgekehrt welche, die wir unter die Lebenden rechnen, obwohl sie bereits tot sind.

Kriton: Nun, wenn du behauptest, du könntest nicht wissen, wie es sei, tot zu sein, musst du da nicht, für den Augenblick wenigstens, annehmen, dass du es nicht bist, andernfalls du ja wüsstest, wie es wäre, tot zu sein? So hätte der Zweifel darüber, ob du tot oder lebendig bist als Voraussetzung zunächst die Gewissheit, nicht tot zu sein.

Sokrates: Das gebe ich gerne zu, auch, dass du viel gelernt hast von mir, mein Kriton. Was aber wäre, stürbe ich - sonst aber merkte es keiner, ich wäre nicht, wie die, die wir Tote nennen - und stellte fest, dass es für mich keinen Unterschied machte, ob man lebt oder tot ist?

Kriton: Wie aber merktest du, dass du gestorben wärst, wenn du keinen Unterschied zu erkennen vermagst?

Sokrates : Ich sehe, du hast mich begriffen, Kriton.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 31.01.2021 um 16:35 Uhr (Zitieren)
Eine gelungene Übertragung der diskutierten Frage auf einen sokratischen Dialog.

Dein Argument erinnert mich auf eine vage Weise an Gedanken von Hilary Putnam u.a., daß weder alle Bilder eine Fälschung noch wir alle bloß Gehirne in einem Tank (übrigens auch dies eine SF-Idee von Philip K. Dick) sein können.

Dies
Wie aber merktest du, dass du gestorben wärst, wenn du keinen Unterschied zu erkennen vermagst?

leuchtet mir auch völlig ein.

Aber dies
Nun, wenn du behauptest, du könntest nicht wissen, wie es sei, tot zu sein, musst du da nicht, für den Augenblick wenigstens, annehmen, dass du es nicht bist, andernfalls du ja wüsstest, wie es wäre, tot zu sein? So hätte der Zweifel darüber, ob du tot oder lebendig bist als Voraussetzung zunächst die Gewissheit, nicht tot zu sein.

immer noch nicht, so sehr ich auch darüber nachgedacht habe.

Wir unterscheiden zwei mögliche Zustände: Leben und Totsein. Oder: Träumen und Wachsein. Kriterien zu ihrer Unterscheidung gibt es, z.B. den Vorgang des Sterbens [wie bei X und Y beobachtet] bzw. das Erlebnis des Aufwachens.
Dennoch weiß ich nicht, in welchem von beiden Zuständen ich mich befinde, weil ich (a) mich an den Vorgang meines Sterbens nicht erinnere [diese Erinnerung gehört nicht zum oben genannten Kriterium] und (b) nicht weiß, ob mir das Erlebnis des Aufwachens nicht in naher Zukunft bevorsteht.

Irgendein spezielles Wissen darüber, wie es ist, tot zu sein, ist weder für die Unterscheidung noch für meinen Zweifel Voraussetzung.

Nun ahne ich Deinen Einwand: Aber im Falle (b), also des Träumens und Aufwachens, ist doch klar ersichtlich, daß ich beides kennen muß, um zweifeln zu können, in welchem der beiden Zustände ich mich befinde.

Ja, aber das liegt an dem eingeführten Kriterium (s.o.), bei dem ich das (subjektive) Erlebnis des Aufwachens verwendet habe.
Nicht so beim Tod: Ich habe meine Eltern sterben sehen und weiß, wie die Ärzte den Tod festgestellt haben. Das habe ich als Kriterium benutzt. Was ich nicht weiß: wie sich das aus der Sicht meiner Eltern angefühlt hat bzw. heute anfühlt: tot zu sein. Also hat das Kriterium in diesem Falle keine subjektive Komponente.
Deshalb kann ich heute lediglich ausschließen, irgendeine Erinnerung daran zu haben, daß ein Arzt mich für tot erklärt hat. Vielleicht haben auch meine Eltern das nicht, obgleich sie für tot erklärt worden sind.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 01.02.2021 um 14:58 Uhr (Zitieren)
Mein Einwand hat eine zunächst simple analytische Dimension, die, denke ich, noch immer den mit Schleiermachers Version von Platons Sokrates als Revenant (oder auch nicht) spielenden Eintrag im Paradoxiethread rechtfertigt.

Ich erwidere also zunächst, dass die in der vorgestellten Argumentation gebrauchte Behauptung "Ich kann nicht wissen, wie es ist, x zu sein" impliziert, dass man zum Zeitpunkt der Äußerung x nicht ist und auch noch nie war, andernfalls sie keinen (oder schon paradoxen) Sinn ergibt. Das gilt für x = eine Katze, ein Kindersoldat in Angola, unter dem Einfluss von LSD, pansexuell, glücklich ... und offenbar auch tot, woraus sich, da tot in gewöhnlichem Verständnis in binärer Opposition zu lebendig steht (tot = ist nicht lebendig/nicht tot = lebendig), ergibt, dass der Sprecher das Reich des Todes noch nie betreten hat, also lebt. Das Modalverb steigert diesen Aspekt zusätzlich von der Faktizität (Ich weiß es nicht) zu einer grundsätzlichen Unmöglichkeit (Ich kann es nicht wissen, weiß es also auch nicht, und werde es vermutlich nie wissen).

Dieses Nichtwissenkönnen eines Subjekts über einen bestimmten Zustand unter solchen Voraussetzungen (das ich im anderen Thread dessen kognitive Impermeabilität genannt habe) wird im Argument aber im nächsten Schritt in, wie ich eben meine, paradoxer Weise so verwertet, dass besagte Implikation in ihrer Geltung aufgehoben wird, da die Folgerung zur Unentscheidbarkeit führt, pointiert verknappt: Ich kann nicht wissen, wie es ist, tot zu sein, bin es daher vielleicht oder auch nicht. Darin stecken natürlich unzählig weitere Probleme, ich sehe aber nicht, wie man in dieser Argumentation den Widerspruch so einfach abschütteln könnte.

Man müsste im Ausgang von "Irgendein spezielles Wissen darüber, wie es ist, tot zu sein, ist weder für die Unterscheidung noch für meinen Zweifel Voraussetzung" vielmehr erst einmal herausfinden, was denn die nicht-speziellen, vielmehr allerallgemeinsten Bedingungen (und nicht nur die des Wissens) für eine solchen Überlegung und die Unterscheidung darstellen, die sich nicht verwerfen lassen, ohne die Bedeutung der semantischen Impermeabilität und ihre Folgerungen zu destabilisieren.




Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 06.02.2021 um 18:36 Uhr (Zitieren)
Der Traum des Zhuang Zi

Einst träumte (meng - 夢) Zhuang Zhou (d. i. Zhuangzi), daß er ein Schmetterling wurde (wei -為), der beschwingt umherflatterte. Er hatte Freude an sich und folgte allen seinen Regungen (wtl: „er paßte zu seinen Regungen“; shi²zhi² - 適志).

Dabei wußte er nicht (buzhi - 不知), daß er Zhuang Zhou war. Plötzlich wurde er wach (jue -覺); da war er Zhuang Zhou – ganz eindeutig nur dieser. Nun weiß man nicht (buzhi - 不知), ob es Zhuang Zhou war, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling geworden, oder ob es ein Schmetterling war, der geträumt hat, er sei Zhuang geworden. Es gibt aber gewiß zwischen Zhuang Zhou und einem Schmetterling einen Unterschied. Dies ist damit gemeint, wenn gesagt wird: „Die Wesen unterliegen dem Wandel (wuhua - 物化)“.

Ist Zhuangzi der Träumer oder ist er der Traum des Schmetterkings? Das kann Zhuangzi nie mit Sicherheit wissen.


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 07.02.2021 um 12:56 Uhr (Zitieren)
Was ihm sicher ist, dem Wutz, das ist sein Tod. Es ist einer gestorben, das ist der Beleg dafür, daß er gelebt hat.

Peter Bichsel im Nachwort zu Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz, insel taschenbuch 778, S. 80



Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Sana schrieb am 07.02.2021 um 15:05 Uhr (Zitieren)
Zitat von Marcella am 6.2.21, 18:36Der Traum des Zhuang Zi

Einst träumte (meng - 夢) Zhuang Zhou (d. i. Zhuangzi), daß er ein Schmetterling wurde (wei -為), der beschwingt umherflatterte. Er hatte Freude an sich und folgte allen seinen Regungen (wtl: „er paßte zu seinen Regungen“; shi²zhi² - 適志).

Dabei wußte er nicht (buzhi - 不知), daß er Zhuang Zhou war. Plötzlich wurde er wach (jue -覺); da war er Zhuang Zhou – ganz eindeutig nur dieser. Nun weiß man nicht (buzhi - 不知), ob es Zhuang Zhou war, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling geworden, oder ob es ein Schmetterling war, der geträumt hat, er sei Zhuang geworden. Es gibt aber gewiß zwischen Zhuang Zhou und einem Schmetterling einen Unterschied. Dies ist damit gemeint, wenn gesagt wird: „Die Wesen unterliegen dem Wandel (wuhua - 物化)“.

Ist Zhuangzi der Träumer oder ist er der Traum des Schmetterkings? Das kann Zhuangzi nie mit Sicherheit wissen.

Das ist super, dass hier jemand Chinesisch kann. Ich frage mich, wofür in 則蘧蘧然周也 das doppelte qu² (蘧) steht?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 07.02.2021 um 17:34 Uhr (Zitieren)
Da muss ich leider passen, Chinesisch kann ich nicht.
Ich habe nur auf der Suche nach dem Text des "Schmetterlingstraums" dieses gefunden, garniert mit chinesischem O-Text für den Kenner. Mir sind die Zeichen Deko.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.02.2021 um 23:03 Uhr (Zitieren)
Beim "Schmetterlingstraum" habe ich den Eindruck, daß es sich da nicht um eine Paradoxie handelt, sondern um eine systematische Unsicherheit mangels Kriterium, um Traum von Wirklichkeit zu unterscheiden.

filix ist da vermutlich anderer Ansicht, weil es sich um einen analogen Fall zur Ungewißheit handelt, ob man schon tot ist.

***

Ein vergleichbarer Text:
[...] Jemand, der träumt, bei einer heiteren Tafelrunde Wein zu trinken, mag am nächsten Morgen schluchzend erwachen. Jemand, der träumt, er weine, mag am nächsten Morgen zur fröhlichen Jagd aufbrechen. Solange wir uns mitten in einem Traum befinden, wissen wir nicht, daß es ein Traum ist. Manchmal können wir sogar versuchen, noch träumend un-seren Traum zu deuten, und dann wachen wir auf und erkennen, daß es ein Traum war. Nur nach dem großen Erwachen erkennen wir, daß alles ein großer Traum war, während der Narr vermeint, wach zu sein und sich anmaßt, klar zu sehen. ‚Mein hochverehrter Fürst‘ – ‚O du demütiger Hirte!‘ ... wie verdreht wir doch sind! [...]

(Victor H. Mair (Hrsg.), Zhuangzi. Das klassische Buch daoistischer Weisheit. Frankfurt/Main 1998, S. 84)

***

Ganz ohne Zweifel paradox ist der folgende Text, weil er sich selbst aufhebt:
Erkenntnis wanderte im Norden an den Ufern des dunklen Wassers und bestieg den Berg des steilen Geheimnisses. Da begegnete sie von ungefähr dem schweigenden Nichtstun.
Erkenntnis redete das schweigende Nichtstun an und sprach: „Ich möchte eine Frage an dich richten. Was muß man sinnen, was denken, um den SINN zu erkennen? Was muß man tun und was lassen, um im SINN zu ruhen? Welche Straße muß man wandern, um den SINN zu erlangen?“
Dreimal fragte sie, und das schweigende Nichtstun antwortete nicht. Nicht daß es absichtlich die Antwort verweigert hätte; es wußte nicht zu antworten. So konnte Erkenntnis nicht weiter fragen und kehrte um. Da kam sie im Süden an das weiße Wasser und bestieg den Berg der Zweifelsendung. Da erblickte sie Willkür. Erkenntnis stellte dieselben Fragen an Willkür.
Willkür sprach: „Oh, ich weiß es; ich will es dir sagen.“
Aber während sie eben reden wollte, hatte sie vergessen, was sie reden wollte, und Erkenntnis konnte nicht weiter fragen. Da kehrte sie zurück zum Schloß des Herrn, trat vor den Herrn der gelben Erde und fragte ihn.
Der Herr der gelben Erde sprach: „Nichts sinnen, nichts denken: so erkennst du den SINN; nichts tun und nichts lassen: so ruhst du im SINN; keine Straße wandern: so erlangst du den SINN.“
Erkenntnis fragte den Herrn der gelben Erde und sprach: „Wir beide wissen es, jene beiden wußten es nicht. Wer hat nun recht?“
Der Herr der gelben Erde sprach: „Schweigendes Nichtstun hat wirklich recht; Willkür kommt ihm nahe; wir beide erreichen es ewig nicht ...“
Erkenntnis fragte den Herrn der gelben Erde: „Wieso erreichen wir es nicht?“
Der Herr der gelben Erde sprach: „Das schweigende Nichtstun ist wirklich im Recht, deshalb, weil es kein Erkennen hat; Willkür kommt ihm nahe, weil sie Vergessen hat; wir beide erreichen es ewig nicht, weil wir Erkennen haben.“
Willkür hörte es und meinte vom Herrn der gelben Erde, daß er zu reden verstehe ...

(Dschuang Dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Hrsg. von Richard Wilhelm. Düsseldorf/Köln 1969, S. 226 f.)

(Der wird wohl im Parallelthread schonmal vorgekommen sein.)

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 08.02.2021 um 11:57 Uhr (Zitieren)
Im Traum des Zhuang Zi, so wie er oben in dt. Übersetzung steht, stellt sich die paradoxe Struktur m.E. zunächst nicht so unvermittelt her, da im Grunde nur Behauptungen eines externen Beobachters oder, genauer gesagt, eines auktorialen Erzählers (Nullfokalisierung nach Genette) dargeboten werden, nicht aber das Subjekt im Text selbst die kognitive Impermeabilität bezüglich seiner selbst in der Ich-Form feststellt. Der erkenntnistheoretische Status eines solchen allwissenden oder wenigstens mit dem vom Leser gewöhnlich akzeptierten Anspruch, ungehindert die Innenschau der Figuren schildern zu können, auftretenden Erzählers, verknüpft sich allerdings mit dem Peritext (in diesem Fall mit der Verfasserangabe), der nahelegt, dass Erzähler und von ihm behandelte Figur ein- und derselbe sind. Aus dieser Konstellation kann man eine Menge Paradoxien generieren.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 08.02.2021 um 13:37 Uhr (Zitieren)
So gesehen führt uns Zhuang Zi in ein Spiegelkabinett der "Realitäten"
Das macht perplex mindestens wie Sokrates.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 08.02.2021 um 13:41 Uhr (Zitieren)
Der Buddhismus kam erst lange nach meister Zhuangzi nach China, fand aber offenbar die Lehre von Illusion des Seins, der Maya, bestens vorbereitet.

[Domain de.wikipedia.org/wiki/Zhuangzi durchsuchen] https://de.wikipedia.org/wiki/Zhuangzi
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 08.02.2021 um 13:43 Uhr (Zitieren)
meister > Meister; Lehre von der Illusion
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 08.02.2021 um 22:53 Uhr (Zitieren)
Eine Rangerin aus Namibia berichtet über das Problem der Elefanten, bei zunehmender Trockenheit noch genügend Wasserstellen zu finden, und das Problem der Gartenbesitzer, bei denen die Elefanten auf der Suche nach Wasser eindringen. Nun baut man spezielle Wasserbecken für Elefanten. Die Feststellung der Rangerin:
Das minimiert das Problem maximal.

(Weltspiegel in der ARD am 7.2.2021)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.02.2021 um 14:02 Uhr (Zitieren)
Ich gehe nochmals auf das "Ich weiß nicht, wie es ist, tot zu sein" ein:

Es gibt eine Reihe von Sätzen, die man nicht aussprechen kann, ohne sich selbst zu widersprechen:
• Ich existiere nicht.
• Ich bin bewußtlos.
• Ich kann kein Wort Deutsch.
• Ich zweifle an allem.
Die Frage ist, ob „Ich bin tot“ dazugehört. Das ist abhängig davon, ob man über eine Definition und ein Kriterium dafür verfügt, was Totsein bedeutet. Bei Bewußtsein bzw. Bewußtlosigkeit z.B. ist das der Fall, da hat man ein Kriterium.

Wenn man nun Totsein so versteht wie Epikur, dann ist „Ich bin tot“ in der Tat paradox. Seine Vorstellung der Nichtexistenz und Bewußtlosigkeit wird aber vielfach bestritten (von denen, die an ein Leben nach dem Tod glauben) und kann deshalb nicht ohne weiteres der Beurteilung zugrunde gelegt werden. Deshalb sage ich, daß ich nicht weiß, was es bedeutet, tot zu sein. Und dann ist der Satz „Ich bin tot“ ebensowenig paradox wie „Ich weiß nicht, ob ich tot bin“.

filix will wohl darauf hinaus, daß der letztere Satz ähnlich zu beurteilen ist wie „Ich weiß nicht, ob ich eine Erkältung habe“: Wenn man nicht weiß, ob man eine Erkältung hat, dann hat man keine. Das liegt aber nur daran, daß Erkältetsein mit der Empfindung, erkältet zu sein, verbunden ist. Hingegen „Wenn man nicht weiß, ob man einen Herzinfarkt (gehabt) hat, dann hat man keinen (gehabt)“ ist falsch. We-gen der Möglichkeit des stillen, nicht von einer Empfindung begleiteten Herzinfarkts kann man nicht ausschließen, einen (gehabt) zu haben.

Und wegen der Möglichkeit (!), daß nach dem Tod eine Art von Leben folgt, dessen Eigenschaften wir nicht kennen, ist es nicht paradox zu sagen: „Ich weiß nicht, ob ich schon gestorben und in diesem Sinne tot bin.“ Daß ich keine Erinnerung daran habe, gestorben zu sein, ist kein Einwand, denn es muß nicht so sein, daß das Leben nach dem Tod mit einer solchen Erinnerung verbunden ist.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 09.02.2021 um 23:23 Uhr (Zitieren)
Ich sehe nicht ein, warum man den Zustand, tot zu sein, nach Art einer unentdeckten Krankheit (eine literarisch gewiss reizvolle Idee) betrachten sollte, die erstens nicht die Existenzweise des sprechenden Subjekts in toto angreift (denn das gehört doch zu beiden Seiten der Differenz tot/lebendig wohl dazu), zweitens, um in einem Satz vom Typ "Ich weiß nicht, ob ich einen (stillen) Herzinfarkt hatte" Sinn zu ergeben, für spezielle Vorstellungsinhalte und Entscheidungskriterien offen sein muss, also nicht vollständig kognitiv impermeabel ist. Kurzum, der Verführung zum nachfolgenden Analogieschluss nachzugeben, sehe ich mangels eines Arguments für diesen Zwischenschritt vorerst keinen Anlass.

Eine Krankheit, für die es keinerlei innerlichen oder äußerlichen Anzeichen welcher Art immer, keine Untersuchungsmethoden und Diagnosekriterien usf. gibt, verwandelt sich schnell in ein ähnlich paradoxes Unding wie der von allen speziellen Inhalten gereinigte und allen Kriterien für seinen Eintritt begrifflich entzogene Tod, der nur noch eine wissens- und erfahrungsmäßig unerreichbare Seite einer in binärer Oppostion angelegten Differenz markiert (tot ist nicht lebendig, lebendig ist nicht tot).

Was sollte der sonst noch sein, weisen wir alle psychischen und physischen Empfindungen, alles sozial vermittelte Wissen, die stumme Einrede der Leichen, die Versicherungen der Nächsten und Umstehenden wie der Ärzte, Priester und Verwalter, die auf Unterscheidung beharren, zurück? Ist er begrifflich nicht mehr, impliziert, dabei bleibe ich, "Ich weiß nicht, wie es ist, tot zu sein", dass ich es nicht bin. Oder die Rede wird überhaupt sinnlos. Deshalb schrieb ich weiter oben, man müsse erst einmal die allerallgemeinsten Voraussetzung einer solchen Epoché widerstehenden Definition von tot/lebendig analysieren.


"Und wegen der Möglichkeit (!), daß nach dem Tod eine Art von Leben folgt, dessen Eigenschaften wir nicht kennen, ist es nicht paradox zu sagen: „Ich weiß nicht, ob ich schon gestorben und in diesem Sinne tot bin.“

Was möglich ist, ist gewöhnlich nicht wirklich, soll hier aber offenbar heißen: möglicherweise schon eingetreten, also wirklich, jedoch unentdeckt. Ich bin folglich womöglich schon tot, weiß es nur noch nicht. Die in diesem Lichte eigenartige Rede von "nach dem Tod" markiert dann bloß eine Wissensdifferenz. Wäre der Tod sozusagen eine Art stiller Herzinfarkt der Existenz, müsste, um die Analogie zu bemühen, es Kriterien geben, herauszufinden, dass er sich in der Vergangenheit ereignet hat. Der Sinn einer solchen Rede liegt darin, das Ereignis vom Wissen zu trennen. Das Wissen schafft nicht das Ereignis, man hat also nicht einen stillen Herzinfarkt dadurch erlitten, dass man um ihn weiß. Entsprechendes gilt für das womöglich schon eingetretene Leben nach dem Tod, es müsste also Kriterien geben, um herauszufinden, dass es schon eingetreten ist, die aber als unverfügbar behauptet werden. Sind sie es, weil man noch nicht gestorben ist, so entsteht in der Argumentation die Paradoxie, dass weil man noch nicht tot ist, nicht wissen kann, ob man es schon ist. Wird hingegen eine prinzipielle Unmöglichkeit angesetzt, durch irgendeine eine vom Wissen unterschiedene Existenztransformation in den Besitz solcher Kriterien zu gelangen, stellt sich die Frage, wie man das argumentieren sollen, ohne in allerlei Paradoxien zu geraten? Wie soll in solchen Verhältnissen ein Nichtwissenkönnen um den Eintritt eines fundamentalen Existenzustandes anders begründet werden als unter der Implikation seines Nichteintritts?



Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 09.02.2021 um 23:26 Uhr (Zitieren)
argumentieren sollen kann

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 10.02.2021 um 01:47 Uhr (Zitieren)
Hier kann man, Stichwort Cotard-Syndrom, nachlesen, welche zersetzende Kraft entfaltet, was hier als unterhaltsame Spekulation auftritt, wird es empfunden und zur Überzeugung:

tinyurl.com/2su3umy6






Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 10.02.2021 um 16:32 Uhr (Zitieren)
Der Hinweis auf das Cotard-Syndrom ist interessant. Er erinnert mich an folgendes Erlebnis: Mit einer Schülergruppe habe ich eine psychiatrische Klinik besucht, wo uns der Chefarzt Informationen zu verschiedenen Geisteskrankheiten gegeben hat. „Das Auffallende an einer Psychose“, so sagte er unter anderem, „besteht darin, daß die Betroffenen vollkommen sicher sind, in der Wirklichkeit zu leben, und wir, die anderen, seien die mit der verzerrten Wahrnehmung.“

Dazu kam von mir spontan die Frage: „Wie können wir, die wir genau diese Überzeugung haben, dann sicher sein, nicht psychotisch zu sein?“

Ob dem Chefarzt diese Frage schonmal gekommen war, weiß ich nicht; er wirkte jedenfalls nicht allzu überrascht und meinte: „Wenn Sie daran zweifeln, ob Sie psychotisch sind, dann sind Sie es nicht. Denn für den Psychotiker ist gerade die vollkommene Sicherheit typisch.“

Nun, das ist ein empirisches, kein logisches Kriterium; und doch erinnert es mich an Deinen Standpunkt: Wenn ich daran zweifle, ob ich tot bin, dann kann ich es nicht sein.
Das Argument des Arztes habe ich verstanden; das ist ein Kriterium, und es hat weitreichende Folgen.

Ich weiß immer noch nicht, ob Du das Werk Philip K. Dicks kennst, dessen Lebensthema das war. Unter Umständen schreibe ich jetzt also etwas, das Dir schon bekannt ist.

PKD hat eines Tages am Himmel ein großes, metallenes, böses Gesicht gesehen, und diese Wahrnehmung blieb ihm für mehrere Tage. (Diese Erfahrung hat er zu seinem Roman „The Three Stigmata of Palmer Eldritch“ verarbeitet.) Später hat er zweimal ein Gotteserlebnis gehabt – ein Wesen, das er VALIS (Vast Active Living Intelligent System) nannte (Grundlage seiner VALIS-Trilogie). Auffallenderweise hat er immer, lebenslang, daran gezweifelt, ob er etwas Wirkliches erlebt hatte oder einer Wahnvorstellung erlegen war. Im VALIS-Fall hat das zu ca. 10000 Seiten Reflexionen (nur in Auszügen veröffentlicht) geführt, in denen er Pro und Contra abgewogen hat, aber nie unreflektiert davon ausgegangen ist, daß es Wirklichkeit war. (Ich frage mich, ob Moses und Mohammed ähnlich skrupulös mit ihren Erfahrungen umgegangen sind.)

Nach dem eben erwähnten Kriterium kann PKD nicht psychotisch gewesen sein – und es ist auch nie eine Psychose bei ihm diagnostiziert worden. Neurosen schon, in Menge, aber keine Psychose. Daß PKD immer wieder seinen eigenen Vorstellungen, auch den entsetzlichsten, eine (galgen-)humorige Seite abgewinnen konnte, spricht im Sinne des Chefarztes ebenfalls gegen eine Psychose. („Daß ich an Verfolgungswahn leide, heißt noch lange nicht, daß sie nicht hinter mit her sind.“) Psychotiker sind humorfrei, was ihre Grundüberzeugungen angeht.

Post mortem ist bei PKD eine Schläfenlappen-Epilepsie vermutet worden; aber auch dies ist nicht das Resultat irgendeiner medizinischen Diagnose zu Lebzeiten.

Der als „Bladerunner“ verfilmte PKD-Roman basiert auf der Frage, ob die verschiedenen Akteure Menschen oder Androiden sind – wobei wir Leser bzw. Zuschauer im Laufe der Handlung immer unsicherer werden, wer was ist und ob wir nicht am Ende selbst Androiden sind. Zur Unterscheidung gibt es den sog. Voigt-Kampff-Test, der die Frage angeblich beantworten soll; in einer Schlüsselszene wird der Androiden-jäger, der sich mit großer Selbstverständlichkeit für einen lupenreinen Menschen hält, zu seiner Verblüffung gefragt: „Haben Sie eigentlich den Voigt-Kampff-Test schonmal mit sich selber machen lassen?“

Und dann in dem Roman UBIK das Problem eines Menschen, der sich für lebendig hält, im Laufe der Zeit jedoch herausfindet, daß er in Wahrheit tot ist. Die Kriterien dafür werden im Verlauf der Handlung nach und nach durch seltsame Ereignisse entwickelt, die nicht in die ursprüngliche Annahme passen.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Aussage (ich weiß nicht mehr, bei wem ich sie gelesen habe), daß Alan Turing den Turing-Test vor allem deshalb entwickelt habe, weil er selbst den Verdacht gehabt habe, ein Computer-Programm zu sein.

In allen diesen Fällen geht es für uns primär um eine unterhaltsame Spekulation – für Dich vielleicht noch mehr als für mich, der ich durch diese Möglichkeiten schon existentiell etwas beunruhigt bin. Und es geht, intellektuell gesehen, um mögliche Kriterien, durch die wir den Unterschied feststellen können. Ich wäre beruhigter, wenn ich sie klarer erkennen könnte ... oder wenn wir uns auf welche einigen könnten.

Wie gesagt, die Äußerung des Chefarztes erschien und erscheint mir zumindest klar verständlich: Wer zweifelt, ist weder wahnsinnig noch gar tot. Das ist zunächst beruhigend. Aber ob es zutrifft? Gerne hätte ich das Gespräch mit dem Arzt fortgesetzt, wenn er denn die Zeit dazu gehabt hätte: Was ist, wenn jemand ein riesiges Gesicht am Himmel sieht (sieht!), aber daran zweifelt, ob das wirklich oder ob er wahnsinnig geworden ist?

Das ist mir noch nicht passiert. Ebenso hatte ich noch nicht ernsthaft das Gefühl, tot zu sein. Falls ich aber eines Morgens am Badezimmerspiegel links unten einen kleinen Klebezettel sehen sollte, auf dem „UBIK“ steht, dann ahne ich, daß es jetzt losgeht. Mit dem Wahnsinn oder mit dem Totsein.

Die Erlebnisse in meinem Leben, für die ich keinerlei Erklärung habe und die sich nicht recht in die naturgesetzlich geregelte Weltordnung fügen wollen, sind zum Glück bisher episodischer Natur und zu selten, als daß ich ernsthaft in Betracht ziehen müßte, daß mit meinen Annahmen über mich und die Welt etwas grundlegend nicht stimmt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 10.02.2021 um 16:44 Uhr (Zitieren)
Bekannt dürfte sein die Verfilmung einer PKD-Kurzgeschichte: "Total Recall".
Darin weiß der Protagonist nicht (und wissen wir nicht), ob er ein Bauerarbeiter auf der Erde ist, der sich für einen Mars-Agenten hält, oder ein Mars-Agent, der sich für einen Bauarbeiter auf der Erde hält.

Klingt wie die SF-Version des Schmetterlingstraums.
PKD kannte sich gut genug in asiatischem Denken aus, um ihm hier ein Anleihe zuzutrauen. "The Man in the High Castle" (kürzlich von Amazon verfilmt) hat er nach dem I Ging geschrieben. Da taucht die 'wirkliche' Vergangenheit (daß Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg verloren haben) als fiktive Version innerhalb einer Fiktion (daß Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben) auf.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 10.02.2021 um 21:40 Uhr (Zitieren)
Mit PDK habe ich mich nur wenig befasst, die kursorische Lektüre hat mich nie so gefesselt, dass das Bedürfnis sich eingestellt hätte, sie zu vertiefen. Die Sache mit dem Turing-Test ist natürlich wunderbar - se non è vero, è molto ben trovato - und eine Nährlösung für allerlei Überlegungen zu Paradoxien im Zusammenhang mit solchen Verfahren.

Ich denke, die tiefere Ursache, warum wir uns nicht einig sind, hängt mit einer Bedeutungsdimension von Sätzen des Typ „Ich existiere“, „Ich lebe“ usf. zusammen, die gewissermaßen über aller vorgetragenen Argumentation schwebt.

Zu sein, zu leben ist eben auch eine Art unhintergehbares Grundgefühl, das diskursiv nicht herzustellen oder einzuholen, jedoch Voraussetzung aller Kriteriologie ist, gerät das Subjekt in eine Krise, die es daran zweifeln lässt, ob es lebt oder tot ist.

Diese Krise wird hier, mit unterschiedlichem Beunruhigungspotenzial, spielerisch evoziert, bricht beim Cotard-Syndrom und Verwandtem aber offenbar vor aller Überlegung unf Argumentation, deren Verständnis es mitbedingt, aus.

Metaphorisch gesprochen spielen wir auf hoher See aus Abenteuerlust ein bisschen mit der Steuerung, um die Orientierung zu verlieren und vom Kurs abzukommen, während im Ernstfall ein Brand im Maschinenraum das Schiff auf eine äußerst unangenehme, unkontrollierbare Reise durch die Meere des Wahnsinns schickt.

Ich vermute, dass dir aus angedeuteten existenziellen Motiven mehr daran gelegen ist, diese resistente Krise des Grundgefühls, die im Satz „Ich kann nicht wissen, ob ich tot bin oder lebe“ sich abzeichnet, als solche einzuholen und sichtbar zu machen, wogegen ich mich mehr mit der Methode ihrer vermittelnden Herstellung durch Argumentation, in der ich besagte Widersprüche orte, befasse. Dass diese sich als argumentativ defekt oder paradox erweist, ändert natürlich nichts daran, dass die Krise des Grundgefühls virulent bleibt, von diesem Zweifel kann man so nicht abgebracht werden. So gesehen reden wir wahrscheinlich aneinander vorbei.

Man könnte jedenfalls den fiktiven sokratischen Dialog mit all diesen Aspekten spielend erweitern, einschließlich des Auftritts eines antiken Psychiaters avant la lettre.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 17.02.2021 um 15:43 Uhr (Zitieren)
In der Abenddämmerung kam ein Mann ins Dorf und sagte, er sei der Prophet. Die Bauern aber glaubten ihm nicht. „Beweise es!“, forderten sie. Der Mann zeigte auf die gegenüberliegende Festungsmauer und fragte: „Wenn diese Mauer spricht [...], glaubt ihr mir dann ?“ „Bei Gott, dann glauben wir dir“, riefen sie. Der Mann wandte sich der Mauer zu, streckte die Hand aus und befahl: „Sprich, o Mauer!“ Da begann die Mauer zu sprechen: „Dieser Mann ist kein Prophet. Er täuscht euch. Er ist ein Lügner.“

(Zülfü Livaneli: Der Eunuch von Konstantinopel)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 17.02.2021 um 20:45 Uhr (Zitieren)
Wow!

Ist das ein Paradoxon? Das wahre Wort ist nicht schön, das schöne Wort ist nicht wahr. Lao Dse
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.02.2021 um 12:46 Uhr (Zitieren)
(Gedicht 81 in der üblichen Zählung)
Das ist m.E. nur dann paradox, wenn der Verfasser behauptet, seine Worte seien nicht nur wahr (was wir ihm unterstellen dürfen), sondern auch schön.

Eindeutiger liegt der Fall in Gedicht 56:
Wer weiß, redet nicht.
Wer redet, weiß nicht.

Das ist einer der (redenden) Texte, wie sie auch im Zhuangzi vorkommen: die sich nämlich selbst dementieren.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.02.2021 um 16:03 Uhr (Zitieren)
Man sagt: Wer behauptet, nichts wissen zu können, widerspricht sich selbst; denn er beansprucht, das zu wissen, was er behauptet, nämlich nichts wissen zu können; und aus diesem Widerspruch folgt, daß er etwas weiß.

Diese Schlußweise ist nicht stichhaltig. Es widerspricht sich allerdings, wenn jemand zu wissen behauptet, daß er nichts weiß; aber aus diesem Widerspruch folgt keineswegs, daß er etwas weiß, sondern es folgt nur, daß er das, was er zu wissen vorgibt, nämlich nichts zu wissen, nicht weiß.

Der Widerspruch liegt nicht in der skeptischen Annahme, daß wir nichts wissen, sondern erst in der anderen Annahme, daß wir dieses wissen können. Nicht das Urteil A: „Ich weiß nichts“, sondern das Urteil B: „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ schließt einen logischen Widerspruch ein; es folgt daher auch nur die Falschheit des Urteils B und nicht die des Urteils A. Die erkenntnistheoretische Widerlegung des Skeptizismus beruht also nur auf einer Verwechslung dieser beiden Urteile.

(Leonard Nelson: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. Vortrag vom 11. April 1911; in: Leonard Nelson, Vom Selbstvertrauen der Vernunft. Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik. Hrsg. v. Grete Henry-Hermann. Hamburg 1975, S. 55 f.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.02.2021 um 16:34 Uhr (Zitieren)
[...] Wir glauben mit unserm Verstand von einer Menge von Dingen, daß wir sie nicht glauben, aber unser Organismus glaubt noch an sie; und er ist allemal der Stärkere.

(Egon Friedell; zitiert nach: Kultur ist Reichtum an Problemen. Extrakt eines Lebens gezogen und vorgesetzt von Heribert Illig. Zürich 1989, S. 20)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Mitleser schrieb am 21.02.2021 um 11:16 Uhr (Zitieren)
aber unser Organismus glaubt noch an sie

Was soll damit gemeint sein?
Wie glaubt ein Organismus?
Beispiel?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 21.02.2021 um 23:56 Uhr (Zitieren)
Den Gedanken, daß der Leib "glaube" und darin stärker sei als der Geist, hat Friedell vermutlich von Nietzsche übernommen.

Im Volksmund läßt man sich vom Herzen oder vom Bauchgefühl leiten, und nach heutigem Verständnis sind es die im Darm oder noch tiefer gebildeten Hormone, die uns steuern. Zumindest was Männer angeht, hat der Volksmund auch dafür eine Bezeichnung.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 22.02.2021 um 11:31 Uhr (Zitieren)
Also nicht nur Bauchhirn-und -intelligenz, sondern auch Bauchglauben.
Das würde ja so manches erklären. Damit könnte eine Flatulenz religiöse Wirkungskraft gewinnen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.02.2021 um 16:47 Uhr (Zitieren)
Warum will alle Welt immerzu Erfolg haben? Ich möchte mal jemand kennenlernen, der scheitern will. Nur im Scheitern ist Erhabenheit.

(John Dos Passos: Manhattan Transfer. Reinbek ²2016, S. 231)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 10.03.2021 um 10:22 Uhr (Zitieren)
Die "Glaubensgewissheit" oder auch die "Glaubenstatsache":
(so die "Erkenntnis (!) dieser dreifachen Glaubenstatsache: Christus im Vater, wir in Christus, Christus in uns" usw., leicht zu googlen.)
Geht´s paradoxer?

Oder meinen die Theologen lediglich, es sei gewiss und unbezweifelbar, dass ich glaube? Die Erkenntnis wäre ein cogito. Das führt jedoch nicht weit.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
a schrieb am 10.03.2021 um 13:20 Uhr (Zitieren)
Der Tatsachenbegriff hat auf der Ebene des
Glaubens eine eigene Bedeutung, die von der
üblichen abweicht. So wird ein Theologe wohl
argumentieren.
Die Auferstehung ist kein historisch festzumachendes Faktum,
für den Glaubenden dennoch ein Faktum, ein Faktum sui generis.
Glaubenstatsachen sind "Fakten" für den, der
glaubt, weil sie zur Basis seines Glaubens zählen.
Nimmt man die Auferstehung weg, bricht das
Christentum in sich zusammen.
Der von dir zitierte Satz wird spätestens nach dem 1. Komma
problematisch. Denn
was soll das dann Folgende bedeuten?
"Christus in uns" spielt auf das paulinische
"Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt
in mir" an.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 10.03.2021 um 13:47 Uhr (Zitieren)
Der Tatsachenbegriff hat auf der Ebene des
Glaubens eine eigene Bedeutung, die von der
üblichen abweicht. So wird ein Theologe wohl
argumentieren.
Die Auferstehung etwa ist kein historisch festzumachendes Faktum,
für den Glaubenden dennoch ein Faktum, ein Tatsache sui generis.
Glaubenstatsachen sind "Fakten" für den, der
glaubt, weil sie zur Basis seines Glaubens zählen.
Nimmt man die Auferstehung weg, bricht das
Christentum in sich zusammen.
Der von dir zitierte Satz wird spätestens nach dem 1. Komma
problematisch. Denn was soll das dann Folgende bedeuten?
"Christus in uns" spielt auf das paulinische
"Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt
in mir" an (Gal 2,20).
Hier gilt: In einer Fachsprache können Begriffe Bedeutungen haben,
die sie im Alltag so nicht haben, ja dieser sogar widersprechen.
Sagt nicht sogar ein berühmter Theologe?
Credo, quia absurdum. (Tertullian)
Als Argument wird auf das Geheimnis bzw.
die Unbegreiflichkeit Gottes verwiesen, was
immer das konkret bedeuten mag.
In kurzer Blick in die Dogmengeschichte zeigt, wie schwer man sich
mit klaren Begriffsdefinitionen tat mit fatalen, blutigsten
Konsequenzen (Ketzervefolgung).
vgl:
Franz Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 10.03.2021 um 13:52 Uhr (Zitieren)
ein Faktum sui generis

Ein hübscher Ausdruck, irgendwie postfaktisch.

Ich kann mir eine objektive Faktizität (physikalische Tatsachen: es regnet jetzt hier) und daneben eine subjektive Faktizität (psychische Tatsachen: ich habe Schmerzen) vorstellen.
"Ich glaube etwas" wäre dann eine subjektive Tatsache. Aber von einem objektiven Sachverhalt: der physikalischen 'Tatsache' der Wiederauferstehung eines Toten?
Klingt komisch. Klingt wie eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 10.03.2021 um 15:12 Uhr (Zitieren)
Aber von einem objektiven Sachverhalt: der physikalischen 'Tatsache' der Wiederauferstehung eines Toten?

Das sagt die moderne Exegese zu diesem Thema:

http://www.fischer-welt.de/religion/jesus-aus-nazareth/auferweckung/

vgl:
https://de.wikipedia.org/wiki/Auferstehung
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 10.03.2021 um 15:29 Uhr (Zitieren)
Für meinen Vater war es eine wichtige Frage, ob er seine Frau wiedersehen werde. Der Priester hat ihm gesagt: ja.
Die theologische Antwort hätte ihm nicht geholfen. Theologen sind das eine, Seelsorger das andere.

Mit Marcella meine ich allerdings, daß dieser Glaube von Gewißheit unterschieden werden sollte. (Auch ich bin kein Seelsorger.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 11.03.2021 um 23:25 Uhr (Zitieren)
Ich sehe viele Leute, die diese Position [sc. des Bundestrainers] gerne machen und gut ausfüllen können. [...] Ich weiß, dass mein Name gespielt wird, aber ich beschäftige mich mit diesem Thema absolut nicht.

(Lothar Matthäus in der Frankfurter Allgemeine vom 10. März 2021)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 12.03.2021 um 06:39 Uhr (Zitieren)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 17.03.2021 um 12:32 Uhr (Zitieren)
Das viele Lesen hat uns eine gelehrte Barbarei beschert. Lichtenberg - eher Oxymoron

Wenn ich nichts mehr zu leben habe, schreib´ ich mein Leben. Jean Paul
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 17.03.2021 um 18:48 Uhr (Zitieren)
Ich freue mich über alle Beiträge zu diesem Thema ... möglichst mit Angabe der Fundstelle.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 17.03.2021 um 20:09 Uhr (Zitieren)
Lichtenberg: Sudelbücher Heft F (1085). Die Angabe stammt aus dem Internet. Selber fand ich es in meinem Scrap-book - ohne Quellanngaben.

Jean Paul: Ideengewimmel 389
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 17.03.2021 um 23:22 Uhr (Zitieren)
Danke für die Information.
Jetzt habe ich aber noch eine neue Frage: Was ist ein Scrap-book?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 19.03.2021 um 13:07 Uhr (Zitieren)
Das Scrapbook (scrap= u.a.Zeitungssausschnitt)
benutze ich, um allerlei interessante Zitate,Zeitungsausschnoitte,Einfalle festzuhalten. U.a.existiert darin schon eine schöne Sammlung von "suprema verba morientium" .
Frappierende Todesanzeigen sammle ich ebenfalls ,u.a.findet sich bei einer der Spruch "Den Holocaust überlebte sie, sie starb unter der Corona-Diktatur".
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.03.2021 um 14:04 Uhr (Zitieren)
Verstehe. Zu den letzten Worten könnte ich Dir eine eigene Sammlung (als Word-Datei) schicken, möchte allerdings angesichts unseres Trolls derzeit meine E-Mail-Adresse hier nicht angeben.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.03.2021 um 14:08 Uhr (Zitieren)
An Todesanzeigen habe ich nur einige paradoxe gesammelt:

1.
Seien wir Realisten und versuchen das Unmögliche.

[FAZ am 14.1.2015, Todesanzeige des Managers Günther Cramer]

2.
Du bist nicht mehr da, aber überall wo wir sind.

[Todesanzeige Wolfgang Theile, FAZ vom 10. Oktober 2020]

3.
auf dem rücken liegend

manchmal genügt es
einem fluss zuzusehen
die augen geschlossen

urs jaeggi

[Todesanzeige für Urs Jaeggi in der FAZ vom 20. Februar 2021]

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.05.2021 um 13:06 Uhr (Zitieren)
Ich fühle mich denen überlegen, die sich anderen überlegen fühlen.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 09.05.2021 um 13:50 Uhr (Zitieren)
Worin genau soll die Paradoxie bestehen?

Leute, die sich gern überlegen glauben, irren sich oft.
Wenn du ihren Irrtum durchschaust, kannst du dich zu Recht
überlegen fühlen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.05.2021 um 13:59 Uhr (Zitieren)
Gemeint: Ich fühle mich all denen überlegen, die ... (und bin doch einer von ihnen --> ich fühle mich mir selbst überlegen).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.05.2021 um 14:42 Uhr (Zitieren)
they come
different and the same
with each it is different & the same
with each the absence of love is different
with each the absence of love is the same

elles viennent
autres et pareilles
avec chacune l’absence d’amour est autre
avec chacune l’absence d’amour est pareille

sie kommen
andere und gleiche [anders und gleich]
bei jeder ist es anders und [ist es] gleich
bei jeder ist das Fehlen der Liebe anders
bei jeder ist das Fehlen der Liebe gleich

(Samuel Beckett, Gedichte. Wiesbaden 1959, S. 54 f.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.07.2021 um 17:30 Uhr (Zitieren)
Stan Laurel zu spielenden Kindern: „Wenn ihr schon laut seid, dann seid es wenigstens leise!“

(Quelle: Das Kind in der Wanne)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 31.07.2021 um 14:07 Uhr (Zitieren)
Ein Richter lebte – sagt uns Seneca –
Der zornig war. Und eines Tags geschah,
Daß von zwei Rittern, die durch Zufall grade
Zusammen zogen auf demselben Pfade,
Der eine heimkam und der andre nicht.
Gleich schleppte man den Ritter vor Gericht,
Und der erwähnte Richter sprach sodann:
Du tötetest den andern Rittersmann!
Drum mußt Du sterben! – Und darauf gebot
Er einem andern Ritter, ihn zum Tod
Zu führen. – Doch, vom Richtplatz nicht mehr fern,
Sah auf dem Wege man denselben Herrn,
Den man für tot gehalten, noch lebendig.
Und mithin dachten sie, es sei verständig,
Sie abermals dem Richter vorzustellen,
Und sprachen: Herr, er hat den Mitgesellen
Nicht umgebracht. Hier steht er lebend noch!
Bei Gott! – rief er – des Todes seid ihr doch!
Eins, zwei und drei, ihr alle, Mann für Mann!
Du bist – fuhr er den ersten Ritter an –
Des Todes, weil Dein Urteil schon gefällt!
Du aber wirst ihm gleichfalls beigesellt,
Denn jenes Ersten Tod liegt Dir zur Last.
Und zu dem Dritten sprach er: Und Du hast
Nicht ausgeführt, wozu Befehl gegeben!
Und so verloren alle drei ihr Leben.

(Geoffrey Chaucer: Die Canterbury Tales. München 1974, S. 391 f.)

Der Verweis auf Seneca ist mir rätselhaft.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filx schrieb am 31.07.2021 um 20:57 Uhr (Zitieren)
As seith Senek in De ira 1,18,3.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 01.08.2021 um 07:35 Uhr (Zitieren)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 01.08.2021 um 10:33 Uhr (Zitieren)
Ach, Gn. Calpurnius Piso, bekannt durch seinen tödlichen Konflikt mit Germanicus, war der "Richter"!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 18.08.2021 um 15:06 Uhr (Zitieren)
Der Folterer Dulics, der eben Ostojin grausam zu Tode gequält hat mit der Angst im Nacken, dass sein Sohn, Igelchen genannt, zuhause durch Gottes rächende Hand an einer Krankheit sterben könnte, erfährt am Telefon von seiner vor Glück schluchzenden Frau, dass es mit dem Jungen aufwärts gehe, das Fieber nachgelassen habe.

Er legte auf, ihren Redeschwall wollte er nicht mehr hören. Er fühlte, wie durch eine unmerkliche Berührung die Last von ihm genommen wurde, wie die Übelkeit verging und sein Kopf klar wurde. Alles kommt wieder in Ordnung, dachte er oder fragte sich eher, ob das möglich wäre. Das Leben ging also weiter, als sei nichts geschehen, er blieb ein Mensch, er hatte einen Sohn, eine Zukunft, eine unendlich lange Zukunft vor sich. Leben! In einem übermächtigen Gefühl, einer Mischung aus Rührung und Verzweiflung, wandte sich Dulics zu Tür, verschloß sie, kehrte zurück, fiel auf die Knie, faltete die Hände, hob den Blick zur Decke und rief laut, befreit: »Ich danke dir, Gott! Es gibt dich nicht, Gott! Nein, es gibt dich wirklich nicht. Ich danke dir!«

Aleksandar Tišma: Die Schule der Gottlosigeit. Hanser 1993, S.70f.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 19.08.2021 um 13:18 Uhr (Zitieren)
Zu formelhaften Paradoxien in der Musikkritik:

Der rasende Stillstand der Szene findet seine musikalische Entsprechung dadurch, dass fast jede Phrase durch Akzentuierungen, Schwellungen und Beschleunigungen zugespitzt wird: Schock um Schock mit dem Ergebnis von Monotonie.

Jürgen Kesting: Zur Macht gelangter Schwadroneur, FAZ 28.7.2021


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 31.08.2021 um 15:38 Uhr (Zitieren)
Im Rahmen der Konflikte zwischen Indern und Schwarzen in Südafrika flammen immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen auf, speziell in dem von beiden Bevölkerungsgruppen bewohnten Ort Phoenix. So hat die linksradikale Oppositionspartei „Economic Freedom Fighters (EFF)“ zu einer Demonstration aufgerufen unter dem Motto:
Marsch nach Phoenix gegen rassistische Inder!

[Quelle: Frankfurter Allgemeine vom 31. August 2021]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 06.09.2021 um 16:54 Uhr (Zitieren)
Das Paradox des Kreters Epimenides findet sich auch bei Paulus (Titus-Brief 1, 12) angedeutet:
Es sagte ja einer von ihnen als ihr eigener Prophet: „Kreter sind immerdar Lügner, schlimme Bestien, faule Bäuche.“

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 07.09.2021 um 07:55 Uhr (Zitieren)
Im Netz findet sich eine Übersicht über Paradoxien und Antinomien aus vielen Gebieten:
https://www.wikiwand.com/de/Liste_von_Paradoxa
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.09.2021 um 14:34 Uhr (Zitieren)
Das ist eine gute Übersicht. Danke für den Hinweis.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.09.2021 um 18:36 Uhr (Zitieren)
Das Marathon-Paradox: Ausdauersport verlängert die Lebenserwartung, der Wettkampf verkürzt sie durch Schädigung des Immunsystems.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 08.09.2021 um 15:13 Uhr (Zitieren)
Das tragische Paradox:
SOPHOKLES
Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen,
Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.

(Friedrich Hölderlin: ΠΡΟΣ ΕΑΥΤΟΝ)

Toren darf man sie nennen, nicht Weise,
Die damals die herrlichen Lieder erfanden
Zum Klange der Becher, zur Würze des Mahls.
Keiner erfand es, mit Lied und mit Leier
Die stygischen Qualen des Todes zu bannen,
Wenn strahlende Häuser versinken in Nacht.
Heilen müßten die Lieder die Leiden!
[καίτοι τάδε μὲν κέρδος ἀκεῖσθαι
μολπαῖσι βροτούς]
Warum zu Gelagen die Sänger bemühen,
Wo Fülle des Mahls schon die Herzen erhebt?

(Euripides: Medea V. 190-203)

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.10.2021 um 13:50 Uhr (Zitieren)
πάντες διαγράφουσι, ἐγὼ μόνος οὐδὲν ἔγραφα,
πυγίζω πάντες τούτ<ους οἳ> ἐπί τοίχο γράφουσι.

[Graffito aus Ostia; CIL 4, 2254; zitiert nach: Detlev Fehling, Phallische Demonstration; in: Ethologische Überlegungen auf dem Gebiet der Altertumskunde (Zetemata 61). München, S. 7-38; Nachdruck in: Sexualität und Erotik in der Antike. Hrsg. v. Andreas Karsten Siems. Darmstadt 1988, S. 233-323, hier: S. 304 f.]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 25.10.2021 um 21:45 Uhr (Zitieren)
Ich hoffe, das muß man nicht übersetzen, auch wenn man πυγίζω nicht im Schulgriechisch lernt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 26.10.2021 um 11:23 Uhr (Zitieren)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 01.12.2021 um 16:46 Uhr (Zitieren)
Das logische Prinzip: Von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Sätzen muß einer wahr, der andere falsch sein.
Nehmen wir den Satz: „Dieser Satz besteht aus sieben Wörtern.“
Dieser Satz ist falsch.
Dann müßte sein kontradiktorisches Gegenteil wahr sein.
Prüfen wir das: „Dieser Satz besteht nicht aus sieben Wörtern.“
Das sind aber sieben Wörter – also ist auch dieser Satz falsch.


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 01.12.2021 um 17:39 Uhr (Zitieren)
Es geht wieder um dieses Problem:
https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstreferenzialit%C3%A4t

Man müsste nur sagen:
Der zuvor genannte Satz besteht nicht aus sieben
Wörten. Problem beseitigt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 01.12.2021 um 18:08 Uhr (Zitieren)
Den Satz durch einen anderen zu ersetzen, löst m.E. das Problem nicht bzw. nur dann, wenn man die Paradoxie unbedingt vermeiden will.

Der metasprachliche und typentheoretische Ansatz zur Vermeidung von paradoxer Selbstreferenzialität hat mich noch nie befriedigt.
Aber es führt vielleicht zu weit, das hier in extenso auszuführen. Sagen wir: Das Problem ist umstritten und offen. Es gibt sogar eine (formalisierbare) "parakonsistente Logik". Ferner ist mir noch Gotthard Günther mit "Idee und Grundriß einer nicht-aristotelischen Logik" in Erinnerung - beides nach und trotz Russell & Tarski.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
aurora schrieb am 02.12.2021 um 09:08 Uhr (Zitieren)
Neulich las ich Folgendes:
Es gibt Fragen, die man zwar klar mit Ja oder Nein beantworten könnte,
aber nie damit beantworten würde?
Wie könnte eine solche lauten?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 02.12.2021 um 10:49 Uhr (Zitieren)
Ist es der Typ: Ist es wahr, dass Sie vor zwei Wochen Ihre Frau zum letzten Mal geohrfeigt haben?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 02.12.2021 um 23:13 Uhr (Zitieren)
Da kann ich mir viele Fragen vorstellen, z.B. der von Marcella genannte Typ.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.12.2021 um 12:13 Uhr (Zitieren)
Den Satz durch einen anderen zu ersetzen, löst m.E. das Problem nicht …


Die heimliche Ersetzung des Referenten erzeugt es ja erst, für den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ist der Satz der Selbstidentität Voraussetzung, der durch die Hinzufügung der Negationspartikel verletzt wird, i.e. A = A hieße "Dieser Satz besteht aus sieben Wörtern" = "Dieser Satz besteht nicht aus sieben Wörtern".
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.12.2021 um 12:51 Uhr (Zitieren)
Ein gewisser junger Mann erfreute sich bei den Leuten seines Dorfes großer Zuneigung, denn wenn sie sich bei Einbruch der Dunkelheit um ihn versammelten und Fragen an ihn richteten, erzählte er ihnen stets von den vielen merkwürdigen Begebenheiten, die ihm tagsüber widerfahren waren. So sagte er etwa: »Ich sah drei Meerjungfrauen am Meeresufer, die ihr grünes Haar mit einem goldenen Kamm kämmten.« Und wenn sie ihn dann beschworen, ihnen doch mehr davon zu erzählen, erwiderte er: »Neben einem hohlen Felsen erspähte ich einen Kentauren, und als sein Blick sich mit meinem traf, wandte er sich langsam ab und entfernte sich, wobei er traurig über die Schulter zu mir zurückblickte.« Und wenn sie mit ihren eifrigen Fragen fortfuhren: »Sag uns! Was hast du sonst noch erlebt?«, so erzählte er ihnen: »In einem kleinen Wäldchen musizierte ein junger Faun auf einer Flöte vor den Waldbewohnern, die zu seinem Spiele tanzten.« Eines Tages jedoch, als er das Dorf hinter sich gelassen hatte, erhoben sich aus den Wellen drei Meerjungfrauen, die ihr grünes Haar mit einem Goldkamm kämmten, und als sie wieder verschwunden waren, warf ein Kentaur hinter einem hohlen Felsen verstohlene Blicke auf ihn, und etwas später dann, als er an einem kleinen Wäldchen vorüberkam, erblickte er einen Faun, der auf seiner Flöte den Waldbewohnern vorspielte. Und als sich abends bei Einbruch der Dunkelheit die Dorfbewohner versammelten und sagten: »Erzähle! Was hast du heute erlebt?«, da versetzte er traurig: »Heute habe ich nichts erlebt.«

Oscar Wilde: Tischgespräche. Karl Blessing Verlag, München 2002, S. 74f.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 09.12.2021 um 00:38 Uhr (Zitieren)
Wilde was not at all impressed when Rémy de Gourmont, citing the ancient historian Josephus, pointed out that Wilde, in all his tales, was confusing two separate people both called 'Salome' – one the daughter of Herod, the other the fatal dancer. Poor Gourmont,' Wilde remarked to Gómez Carrillo. 'What he told us was the truth of a professor of the Institute. I prefer the other truth, my own which is that of the dream. Between two truths, the falser is truer.'

Matthew Sturgis: Oscar Wilde: A Life. Knopf, 2021. S. 404
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.12.2021 um 11:23 Uhr (Zitieren)
Orhan Pamuk schreibt über die vier Istanbuler Schriftsteller Abdülhak Șinasi Hisar, Yahya Kemal, Ahmet Hamdi Tanpınar sowie Reşat Ekrem Koçu:
Um sich ihre innere Freiheit zu bewahren, entschieden die vier Schriftsteller sich instinktiv dafür, sich den Anforderungen zu entziehen, die vom Staat, den Institutionen und den diversen Volksgruppen an sie gestellt wurden, und bestanden darauf, „orientalisch“ zu sein, wenn man sie „westlich“ haben wollte, und „westlich“ aufzutreten, wenn man ihnen „Orientalisches“ abverlangte.

(Orhan Pamuk: Istanbul. Frankfurt/Main ³2010, S. 192)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 09.12.2021 um 14:38 Uhr (Zitieren)
Netflix, das keinen konventionellen Kinovertrieb besitzt und mitverantwortlich gemacht wird für das Verschwinden jenes magischen Ort der Moderne, des Saalkinos oder Filmtheaters nämlich, hat David Finchers Huldigung Voir: a collection of visual essays about the love of cinema produziert. Schon der Teaser zeigt jede Menge Versatzstücke dieser Magie untermalt von den unvermeidlichen Klangflächen der minimal music: lange Sitzreihen voller gespannter Kinogeher, große Leinwände, den Lichtkegel des Projektors, in dem der Staub tanzt & c., nichts jedoch, was an die fragmentierte Privatheit des Streamers erinnert:

https://m.youtube.com/watch?time_continue=15&v=D_0vHst5670&feature=emb_logo

Mit Prince Paradox zu reden: Yet each man kills the thing he loves, bisweilen auf kulturinstitutioneller Ebene.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.12.2021 um 23:25 Uhr (Zitieren)
Καὶ τόδε Φωκυλίδου. Λέριοι κακοί. οὐχ ὃ μέν, ὃς δ‘ οὔ.
πάντες πλὴν Προκλέους. καὶ Προκλέης Λέριος.

Phokylides sagt auch: Die Lerier sind übel, keinen gibt es, der es nicht ist;
alle außer Prokles – und Prokles ist ein Lerier.

(Theognis – Mimnermos – Phokylides. Frühe griechische Elegien. Hrsg. v. Dirk Uwe Hansen. Darmstadt 2005, S. 14 f.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 28.01.2022 um 14:11 Uhr (Zitieren)
Duo cum faciunt idem, non est idem.

Eine popularisierte Kurzversion von:
duo quom idem faciunt saepe, ut possis dicere
"hoc licet inpune facere huic, illi non licet",
non quo dissimili' res sit sed quo is qui facit.

(Terenz: Adelphoe V. 823-825)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 28.01.2022 um 14:47 Uhr (Zitieren)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 17.02.2022 um 23:46 Uhr (Zitieren)
Caesaren werden meist von ihren Freunden getötet. Denn sie sind ihre Feinde.

(Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken. Hrsg. v. Karl Dedecius. München/Wien 1996, S. 43)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 18.02.2022 um 00:10 Uhr (Zitieren)
Ich habe schon als Kind gelernt, dass man Sätze nicht mit ,ich‘ beginnen soll.


(Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie. Aufbau Verlag, Berlin 2017, Prolog)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 04.03.2022 um 10:39 Uhr (Zitieren)
"Wenn das menschliche Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so einfach, dass wir es nicht verstehen würden".
Emerson Pugh 1977, Motto der Ausstellung "Das
Gehirn" in der Bundeskunsthalle.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.03.2022 um 14:56 Uhr (Zitieren)
Das ist sehr schön, dafür bedanke ich mich. Ich sammele Paradoxien.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 05.03.2022 um 00:23 Uhr (Zitieren)
Dann hätte ich noch einen für Dich, schon als Dankeschön für die bemerkenswerten altchinesischen Gedichte:

"Wenn alle Stricke reißen, häng´ich mich auf, aber erst dann." Nestroy
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 05.03.2022 um 13:15 Uhr (Zitieren)
Kannst Du mir, bitte, dafür die Fundstelle angeben?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 05.03.2022 um 15:13 Uhr (Zitieren)
Leider nein.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 05.03.2022 um 20:07 Uhr (Zitieren)

Wenn alle Strick reißen, so gib ich mir ein gutes Wort und häng’ mich selbst auf.

Nestroy: Zampa der Tagdieb oder Die Braut von Gyps, 1. Act, 15te Scene:
https://www.nestroy.at/neu/wp-content/uploads/2019/05/zampa.pdf
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 06.03.2022 um 14:02 Uhr (Zitieren)
Das ist schön, ich danke.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 07.03.2022 um 14:56 Uhr (Zitieren)
filix bringt´s mal wieder. Das Zitat fand ich so in meinem Scrapbook vor. Die durchaus sinnvolle Zuspitzung ist nicht von mir, das hat ein anderer "verbrochen" . Zum Trost ein belegtes Zitat.
Kafka wird in einem Artikel von Nils Minkmar in der SZ vom 25.2.22 bezeichnet als der "zum Verrücktwerden klarsichtige Prager Jurist" . Ist das aber nicht eher ein Oxymoron?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 08.03.2022 um 14:27 Uhr (Zitieren)
Alone Together

[Jazz-Standardtitel aus dem Broadway-Musical „Flying Colors” (1932)]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 08.03.2022 um 14:27 Uhr (Zitieren)
kleines Omega
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 12.03.2022 um 09:23 Uhr (Zitieren)
Die EU gibt der Ukraine weitere 500 Millionen Euro
aus einem Friedensfond für den Kauf von Waffen wie immer und des Menschen Gier
sowieso nicht.

Der einen Tod, der anderen Dividende und Rendite.
Der Markt kennt keine Moral.

Das Geld für die militärische Unterstützung kommt aus der sogenannten Europäischen Friedensfazilität. Sie ist ein neues Finanzierungsinstrument der EU, das auch genutzt werden kann, um die Fähigkeiten von Streitkräften in Partnerländern zu stärken. Für den Zeitraum von 2021 bis 2027 ist die Friedensfazilität mit rund fünf Milliarden Euro ausgestattet.


Gleichzeitig werden Aktien von Rüstungsfirmen
als Geldanlage von Börsenprofis empfohlen.
Stell dir vor: Sie wollen dir Rüstungsaktien
verkaufen und keiner will sie haben!
Schön wär's.

vgl:
https://www.focus.de/finanzen/boerse/ruestungsaktion-kaufen-niemals-und-das-hat-nicht-nur-mit-moral-zu-tun_id_61217887.html
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 12.03.2022 um 12:20 Uhr (Zitieren)
*Der Markt kennt keine Moral wie immer und des Menschen Gier
sowieso nicht.

Da muss etwas verrutscht sein.
Gut, dass ich nochmal reingeschaut habe.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 12.03.2022 um 13:42 Uhr (Zitieren)
WORDING STATT WARNUNG

Wie die frühere Landesumweltministerin und heutige Bundesfamilienministerin Spiegel bei der Ahr-Katastrophe agierte

Von Julian Staib

Am Morgen des 15. Juli [2021] bot sich an der Ahr ein Bild der Verwüstung: Die Häuser waren zerstört, in den Bäumen hingen Autos, im noch hoch stehenden Fluss trieben Gascontainer. Zu dem Zeitpunkt war das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe unklar, doch es wurden bereits Dutzende Menschen vermisst, auch gab es Hinweise auf Tote. Bei der rheinland-pfälzischen Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) sowie einem ihrer Mitarbeiter stand jedoch offenbar vor allem die Sorge im Vordergrund, Spiegel könnte eine Verantwortung für die Katastrophe angelastet werden und sie könnte innerhalb der Landesregierung an den Rand gedrängt werden. Das legen nichtöffentliche Akten aus dem Untersuchungsausschuss zur Ahrtal-Katastrophe nahe, die die F.A.Z. einsehen konnte.
Um kurz nach sechs Uhr morgens am 15. Juli schrieb demnach eine Mitarbeiterin der Pressestelle des Umweltministeriums an Spiegel per SMS, die Lage sei „sehr ernst“, es sei in mehreren Landkreisen der Katastrophenfall ausgerufen worden, es würden Menschen vermisst. An Spiegels damaligen Pressesprecher Dietmar Brück, mittlerweile stellvertretender Sprecher der rheinland-pfälzischen Landesregierung, ging eine fast gleichlautende Nachricht. Brück schrieb daraufhin an Spiegel sowie die Pressemitarbeiterin: Das Starkregenereignis werde „das beherrschende Thema“, „Anne braucht eine glaubwürdige Rolle“, es dürfe aber „nicht nach politischer Instrumentalisierung aussehen“. Die „Anteilnahme macht MP“ (Ministerpräsidentin Malu Dreyer, SPD), aber vom Umweltministerium könnten Informationen zur Hochwasserlage und zu Warnungen kommen. Es gelte aufzupassen, „dass MP und Roger“ (gemeint sind Dreyer und der SPD-Innenminister Roger Lewentz) „jetzt nicht Fünf-Punkte-Plan gegen Starkregen entwickeln“.
„Das deckt sich mit meinen Überlegungen“, antwortete Spiegel kurz darauf. „Das Blame Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, wir alle Daten immer transparent gemacht haben, ich im Kabinett gewarnt habe, was ohne unsere Präventionsmaßnahmen alles noch schlimmer geworden wäre etc.“ Weiter schrieb Spiegel: „Ich traue es Roger zu, dass er sagt, die Katastrophe hätte verhindert werden können oder wäre nicht so schlimm geworden, wenn wir als Umweltministerium früher gewarnt hätten.“
Vom Umweltministerium hieß es dazu am Dienstag auf Nachfrage, Spiegel werde als Zeugin im Untersuchungsausschuss „zu allen Fragen, die ihre persönliche Wahrnehmung betreffen, Stellung nehmen“. Auch aus Respekt vor dem parlamentarischen Verfahren wolle man diesem Vorgang nicht vorgreifen.
[...]

(Frankfurter Allgemeine vom 9. März 2022)

Hier kann man sehen: Die Sorge um das Ansehen beschädigt das Ansehen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Bukolos schrieb am 12.03.2022 um 20:19 Uhr (Zitieren)
Die eigentliche Paradoxie besteht doch darin, dass ein Organ der Mediendemokratie dadurch, dass es Politiker:innen als bewusste Akteure im PR-Spiel vorführt, suggeriert, es sollte anders sein.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 12.03.2022 um 21:06 Uhr (Zitieren)
Daß es anders sein sollte, hat Frau Spiegel heute im Untersuchungsausschuß dadurch bestätigt, daß sie es geleugnet hat, so vorgegangen zu sein.

(Es ist keine geringe Bestätigung einer Norm, wenn selbst der, der gegen sie verstößt, versichert, sich daran zu halten.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.04.2022 um 14:32 Uhr (Zitieren)
Die Option „In Kürze verfügbar“ wird in Kürze nicht mehr verfügbar sein.

[Meldung von „Outlook“ über seine Tastenkombinationen am 10.4.2022]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.04.2022 um 14:34 Uhr (Zitieren)
Der Pazifismus befindet sich unaufhaltsam auf dem Vormarsch.

[Teolein; https://keinverlag.de/457816.text; aufgerufen am 10. April 2002]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.04.2022 um 14:35 Uhr (Zitieren)
Krieg dem Kriege! Guerre à la Guerre! War against War! Oorlog aan den Oorlog!

[Ernst Friedrich, 1924]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 20.04.2022 um 07:00 Uhr (Zitieren)
Oder: Fighting for peace is like fucking/raping for virginity.

War dieser 68er Spruch tatsächlich noch nicht im Thread?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.04.2022 um 13:08 Uhr (Zitieren)
Nein, der ist hier noch nicht vorgekommen. Deine Erwähnung bringt erst jetzt diese Erinnerung bei mir wieder hoch.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 05.05.2022 um 14:17 Uhr (Zitieren)
Noch lach ich, mach mein Ding ... und sing ... ich, der Lebendigste! leb nicht mehr gerne.

(Wolf Biermann: Elegie im 86. Jahr; zitiert nach: Nun schließt mein Lebenskreis sich höllenwärts, Frankfurter Allgemeine vom 5. Mai 2022)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.05.2022 um 14:59 Uhr (Zitieren)
Ein bemerkenswertes Verhältnis eines Sohnes zu seinem Vater spricht aus folgendem Leserbrief (FAZ vom 7.5.2022):
Zu „Außenminister Lawrow empört mit Hitler-Vergleich“ (F.A.Z. vom 3. Mai) und Lawrows Äußerung, Hitler sei jüdischer Abstammung: Weit vor Anschluss des Hitler-süchtigen Österreichs an Deutschland beauftragte Hitler meinen Vater – den Massenmörder Dr. Hans Frank, der als Hitlers Generalgouverneur des besetzten Polens dort für jeden Mord politisch verantwortlich war – nachzuforschen, ob in seinem geliebten Führer etwa auch noch jüdisches Blute seiner Ahnen brodeln würde.
Nach umfangreichen Recherchen durch Untergebene meines Vaters wurde nichts gefunden. Wenn doch, hätte mein Vater es Hitler sicher nicht gebeichtet, aber es lauthals während des Nürnberger Prozesses verkündet, in dem er zu Recht zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.

Niklas Frank, Ecklak

Einerseits maximale Distanz ("mein Vater, der Massenmörder"), anderseits ein Bekenntnis zur Nähe ("mein Vater, der Massenmörder"). In diesem Paradox von Nähe und Distanz liegt unendlich viel.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 15.05.2022 um 15:12 Uhr (Zitieren)
Das Paradox des Fortschritts am Beispiel des antiken Rom: Ein zunehmender Wohlstand verlängerte die Lebenserwartung (keine Mangelerkrankungen), verkürzte sie aber zugleich (Krankheitskeime in öffentlichen Bädern, Brunnen usw.).

[Geheimnisse der Antike, Teil 3: Der Untergang von Rom; Buch und Regie: Jonathan Drake, GB 2021]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.09.2022 um 16:20 Uhr (Zitieren)
Aristoteles wünscht König Alexander Wohlergehen.

Du hast mir über die esoterischen Abhandlungen [περὶ τῶν ἀκροατικῶν λόγων] geschrieben in der Meinung, ich hätte sie unter den Geheimnissen bewahren sollen. Wisse, daß sie sowohl herausgegeben wie auch nicht herausgegeben sind [Ἴσθι οὖν αὐτοὺς καὶ ἐκδεδομένους καὶ μὴ ἐκδεδομένους]. Verständlich sind sie nämlich nur jenen, die uns gehört haben.

Möge es dir gut gehen, König Alexander.

(Aulus Gellius: Noctes Atticae XX 5)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.09.2022 um 16:45 Uhr (Zitieren)
Vgl. Plutarch: Alexander 7
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.11.2022 um 18:33 Uhr (Zitieren)
dum tacent, clamant

(Cicero in seiner ersten Rege gegen Catilina 8, 21)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 20.11.2022 um 14:25 Uhr (Zitieren)
War das schon erwähnt: Die Kindersterblichkeit erfolgreich zu bekämpfen, war ein Segen für die Menschen, führte aber andererseits mit dazu, dass wir jetzt acht Milliarden Exemplare davon haben. Und das ist doch eher ein Fluch?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2022 um 22:33 Uhr (Zitieren)
Die Medizin als Segen und Fluch - nein, das kam meiner Erinnerung nach noch nicht vor.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 24.11.2022 um 17:21 Uhr (Zitieren)
Das sog. Jevons-Paradoxon, erstmals 1865 beschrieben durch William Stanley Jevons, beschreibt den merkwürdigen Effekt, dass, wenn Ressourcen effektiver genutzt werden, der Nutzen oft zunichte gemacht wird, indem umgehend mehr verbraucht wird. Effizientere Dampfmaschinen führen zu mehr und wuchtigeren Dampfmaschinen. Effizientere Motoren brachten es, das die Autos mehr und größer wurden; breitere Straßen bedeuten mehr Verkehrs-Folgeproblem usw. Das nennt man heute meist den "Rebound"-Effekt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 25.11.2022 um 13:44 Uhr (Zitieren)
Die Kindersterblichkeit erfolgreich zu bekämpfen, war ein Segen für die Menschen, führte aber andererseits mit dazu, dass wir jetzt acht Milliarden Exemplare davon haben. Und das ist doch eher ein Fluch?

vor allem, wenn die denselben Lebensstandard
anstreben wie wir oder gar die Amerikaner.

https://de.statista.com/infografik/10574/benoetigte-erden-je-lebensstil-ausgewaehlter-laender/

https://www.ardalpha.de/wissen/umwelt/nachhaltigkeit/earth-overshoot-day-welterschoepfungstag-klima-oekologischer-fussabdruck-100.html
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.02.2023 um 15:07 Uhr (Zitieren)
[...] ein Witzklassiker [...], demzufolge der Bayer auf die Frage nach der besten Staatsform stets die Anarchie nenne – vorausgesetzt, sie werde von einem starken Anarchen regiert.

(Frankfurter Allgemeine vom 7. Februar 2023)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 27.02.2023 um 22:06 Uhr (Zitieren)
Im Westjordanland herrscht Anarchie.

(arte Journal am 27. Februar 2023)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 28.02.2023 um 10:53 Uhr (Zitieren)
28.2.23 im WDR 5: Die Flutung der jungen Menschen mit Sex und Porno in den sozialen Medien führt manifest dazu, dass viel weniger Realsex stattfindet und das "Erste Mal" später.

Ein interessante Lösungsmöglichkeit für das Überbevölkerungsproblem?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 28.02.2023 um 14:31 Uhr (Zitieren)
Bildung, Wohlstand, Emanzipation der Frau und Pornographie senken die Geburtenrate - eine interessante Kombination!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.04.2023 um 14:46 Uhr (Zitieren)
Bei der Lektüre eines FAZ-Artikels über Sexshops in Ostdeutschland ist mir heute eine schöne Paradoxie aufgefallen:

Sexshops packen ihre Ware in neutrale Einkaufstüten, um ihre Kunden nicht zu beschämen. Da alle anderen Läden Einkaufstüten mit Werbeaufdruck verwenden, weiß man beim Anblick einer neutralen Einkaufstüte: Der hat im Sexshop eingekauft.

Die Tarnung als identifizierendes Merkmal!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 18.04.2023 um 16:54 Uhr (Zitieren)
Der clevere Kunde bringt seine eigene Tüte
mit, die er von einem anderen, unverfänglichen
Geschäft bekommen hat.
Mit Aldi-Tüte in den Beate-Uhse-Shop.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.04.2023 um 13:31 Uhr (Zitieren)
Daran erkennt man, daß kluge Leute einen Sinn für paradoxe Kommunikation haben.

Überlegt habe ich mal, wie man aus der Sicht von Sexshops das Problem vermeiden kann. Einkaufstüten mit dem Aufdruck anderer Firmen (Aldi etc.) dürfen sie ja nicht verwenden.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 19.04.2023 um 15:51 Uhr (Zitieren)
Dass sämtliche Läden, die keine Sexshops sind, auf den Werbeträger Tragebehälter oder Transportverpackung nicht verzichten, halte ich für ein Gerücht, schließlich gibt es noch andere Motive: Irrelevanz, Werbung bei der Zielgruppe im Verhältnis zu Mehrkosten zu betreiben (der kleine Gemüsehändler um die Ecke) oder Schutz vor die Hemmschwelle für kriminelle Handlungen senkenden Hinweisen auf den Inhalt (Notebook auf dem Versandweg) et cetera.
Es kommt also eher darauf an, dass das spezifische Aussehen einer sogenannten neutralen Verpackung nicht nur für einen Nutzer typisch ist, welcher Verrat in Zeiten industrieller Massenproduktion - siehe Link - als unwahrscheinlich gelten kann.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.04.2023 um 13:37 Uhr (Zitieren)
Um von meinem Standpunkt noch etwas zu retten, muß ich sagen:
Den Postversand hatte ich nicht im Sinn, sondern die Erinnerung an frühere Zeiten (heute lebe ich in einem Dorf, in dem es keinen Sexshop gibt), in denen ich Leute mit schwarzen Plastiktüten ohne jeden Aufdruck aus Sexshops habe herauskommen sehen. Die Packpapiertüten kamen meiner Erinnerung nach erst später auf. Und ja, diese mögen auch von anderen Händlern benutzt werden.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 09.07.2023 um 16:00 Uhr (Zitieren)
A significant proportion of people paid to train AI models may be themselves outsourcing that work to AI, a new study has found.

https://www.technologyreview.com/2023/06/22/1075405[/quote]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 29.08.2023 um 16:31 Uhr (Zitieren)
Bill Clinton gab im Präsidentschaftswahlkampf 1992 zu, er habe „ein bis zwei Mal“ Marihuana probiert. Aber: „I didn’t inhale and I didn’t try it again.” Comedian Johnny Carson soll daraufhin gesagt haben: „Das ist das Problem mit den Demokraten: Sogar wenn sie etwas Falsches machen, machen sie es nicht richtig.“

(„Nicht high wie die Hölle“; in: Frankfurter Allgemeine vom 22.8.2023)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 29.08.2023 um 16:34 Uhr (Zitieren)
[...] Schließlich heißt der Staat, der 1979 aus einer Revolution hervorgegangen ist, „Islamische Republik Iran“. Schließlich beschränken seither die Machthaber im Namen des Islams Freiheiten und Menschenrechte, begründen mit dem Islam die Diskriminierung der Frauen, verbieten Freizeitspaß wie Tanzen, Musik und selbst das Lachen als unislamisch.
Und doch: Wer regelmäßig nach Iran reist, sieht selbst, wie leer die Moscheen sind. Wer mit den Menschen redet, stellt fest, wie viele sich völlig vom Islam abgewandt haben. Vergleicht man Iran mit seinen muslimischen Nachbarn, erkennt man auch ohne empirische Studien, dass die Islamische Republik die am meisten säkularisierte Gesellschaft im Nahen und Mittleren Osten hervorgebracht hat. [...]

(Rainer Hermann, Rezension von „Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat“ von Katajun Arnipur; Frankfurter Allgemeine vom 8.8.2023)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 31.08.2023 um 11:23 Uhr (Zitieren)
Darum sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt (πιστεύετε ὅτι ἐλάβετε), dann wird es euch zuteil (καὶ ἔσται ὑμῖν). Mk 11,24


The degree of certainty envisaged for the petition is conveyed grammatically by the proleptic use of the aorist ἐλάβετε in the ὅτι clause indicating that the outcome is regarded with such certitude that it is assumed to have been realised even before the request is made. (Christopher D. Marshall: Faith as a Theme in Mark's Narrative. Cambridge University Press, 1994, S. 170f.)


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 31.08.2023 um 12:08 Uhr (Zitieren)
The degree of certainty envisaged for the petition is conveyed grammatically by the proleptic use of the aorist ἐλάβετε in the ὅτι clause indicating that the outcome is regarded with such certitude that it is assumed to have been realised even before the request is made.

Könnte hier nicht auch Perfekt stehen?

Dieser wohl ungewöhnliche Aorist wird auch hier erklärt und weitere Beispiele werden genannt:

https://docplayer.org/186529695-Das-tempus-aorist-im-griechischen.html
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 31.08.2023 um 23:23 Uhr (Zitieren)
Alles in allem blieb alles, wie es war, nur viel schlechter, als es vorher war.

(Alexander Sinowjew: Gähnende Höhen. Zürich 1981, S. 380)

Einer der seltsamsten Romane, die ich kenne. Lauter kleine Szenen, die metaphorisch die Gesellschaft der UdSSR analysieren, ohne durchgehende Handlung, das aber über 1000 Seiten.
Wie es heißt, hat Sinowjew so geschrieben, weil er ständig damit rechnete, daß seine Arbeit vom KGB unterbrochen bzw. beendet wurde.
Auf jeden Fall liebt der Autor Paradoxa.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 02.09.2023 um 13:59 Uhr (Zitieren)
aus dem Netz:
Mit ›Gähnende Höhen‹ wurde Alexander Sinowjew über Nacht als einer der klügsten und gleichzeitig humorvollsten Kritiker der Sowjetunion bekannt. Ein einzigartiger, vielgestaltiger Roman, dessen Faszination und Zeitlosigkeit sich der logischen Schärfe verdankt, mit der das System Sowjetunion seziert und spielerisch ins Satirische gekippt wird
.

eine Rezension:
https://www.spiegel.de/kultur/horst-bienek-ueber-alexander-sinowjew-gaehnende-hoehen-a-4b3614b6-0002-0001-0000-000014323979
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 03.09.2023 um 15:57 Uhr (Zitieren)
Zu Andreas' Frage:
Könnte hier nicht auch Perfekt stehen?

Ich bin kein Spezialist (oder Altphilologe vom Fach), aber mir will scheinen, das Perfekt wäre hier fehl am Platze. Es hat immer - in der Benennung eines Ergebnisses der abgeschlossenen Handlung - einen konkreten Bezug zur Gegenwart (hier also das konkrete In-der-Hand-Halten / die Verfügbarkeit des Erbetenen). Dies aber steht m. E. zum Futur des ἔσται in Widerspruch.
Der Aorist dürfte hier zu Recht stehen: er benennt ja die Aktion an sich, ohne deren Auswirkung zu bestimmen: Concomitant zur Aktion des Bittens ist zwar die des Erhaltens, aber durch das Futur als Haupttempus wird signalisiert, daß die Szene zunächst einmal (nur) in der Vorstellung stattfindet (wenn als Bedingung dafür das πιστεύειν gegeben ist).

Es würde mich interessieren, ob meine Erklärung (mein Empfinden) einem fachlichen Urteil (Bukolos, oder sonst ein Altphilologe?) standhalten kann.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Bukolos schrieb am 04.09.2023 um 12:30 Uhr (Zitieren)
Ob sich die Verwendung eines der beiden Tempora hier ausschließen ließe, kann ich nicht sagen. Es wäre, denke ich, in erster Linie eine Frage der Perspektivierung, ob man mit dem Aorist vom Empfangenhaben oder mit dem Perfekt vom Empfängersein spräche. Paradox in seiner Vorgängigkeit zum προσεύχεσθε καὶ αἰτεῖσθε dürfte beides sein.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 04.09.2023 um 15:51 Uhr (Zitieren)
Danke für Deinen Kommentar, Bukolos.

Du meinst also, das Perfekt (= Empfängersein) wäre (hier ) so etwas wie die Beschreibung eines Zustands (z. B.: ich habe gegessen -> ich bin satt)?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Bukolos schrieb am 04.09.2023 um 22:07 Uhr (Zitieren)
Ja, das ist wohl die häufigste Funktion des Perfektindikativs.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.09.2023 um 12:18 Uhr (Zitieren)
Mein Verlag teilt mir mit:
Lieber Herr Dr. Weimer,

heute habe ich mal geprüft, wie anschlussfähig eigentlich Ihr Titel „Barfußschuhe und Holzeisenbahnen“ ist. Vom Ergebnis war ich einigermaßen verblüfft:

Ausgabe 01/2023 der Zeitschrift „OrganisationsEntwicklung“ (Handelsblatt): „Paradoxien bewusst gestalten“
16. Oktober 2023, Tagung an der Uni Stuttgart „Denkfallen und Paradoxien: Kritisches Denken in der Wissenschaft“
Bei Brill/Mentis erscheint im November 2023 der Titel Bauer / Damschen / Siebel: „Paradoxien. Grenzdenken und Denkgrenzen von A(llwissen) bis Z(eit)“
Von Slavoj Zizek erschien 2023 ein Buch „Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten“

Das Jahr 2023 scheint das Jahr der Paradoxien zu sein und Sie sind sozusagen mittendrin, einer der Trendsetter.[...]


Zur Erinnerung:
Wolfgang Weimer
BARFUSSSCHUHE UND HOLZEISENBAHNEN
Unsere paradoxe Kommunikation

Verlag Karl Alber, Baden-Baden 2023
ISBN 978-3-495-99678-2 | ISBN 978-3-495-99679-9 (E-Book)
broschiert, 237 Seiten, 39,00 Euro

Im Gegensatz zur Auffassung von Logik und Wissenschaft zeigt unsere Lebenswirklichkeit keine Scheu vor Paradoxien; vielmehr sind sie dort allgegenwärtig und werden oft gar nicht als Fehler verstanden. Sie wirken anregend, wecken unsere Aufmerksamkeit und lassen uns über die menschliche Lage lachen.
Den Beginn bildet eine Sammlung von paradoxen Aussagen aus der Antike. Im Hauptteil folgt eine nach Lebensbereichen gegliederte Zusammenstellung von zahlreichen Beispielen, aus der die weite Verbreitung des Phänomens hervorgeht. Daran schließen sich einige Beschreibungen aus der schönen Literatur sowie zum Witz an. Abschließend wird die Frage behandelt, wann und in welchen Grenzen Paradoxien sinnvoll eingesetzt werden können.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 19.09.2023 um 10:54 Uhr (Zitieren)
Theologische Paradoxa gehen zum Beispiel so: Gott hat einige Menschen, gar nicht mal so wenige, mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung ausgestattet. Aber simultan hat er sie, Rom zufolge, mit dem Auftrag ausgestattet, dieser gottgewollten Gabe zu widerstehen.

Hinterfragt man als Christ die Sinnhaftigkeit solcher Aufträge und "Erwählungen", landet man meist beim "unerforschlichen Ratschluss". Das heißt, die Nutzung der Gottesgabe des Verstandes ist freiwillig aufzugeben, will man Gottes mutmaßlichen Willen folgen. Nicht so einfach.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 19.09.2023 um 14:54 Uhr (Zitieren)
will man Gottes mutmaßlichen Willen folgen

Es ist, wie du sagst, eine reine Mutmaßung.
Weder Gott Vater noch Gott Sohn haben sich
zu diesem Thema je dezidiert geäußert.

Die Verurteilung der Homosexualität durch Paulus in Röm 1,26ff.
beruht u.a. auch auf der Unkenntnis, dass diese genetisch
oder erziehungsbedingt verursacht ist.

Wenn Gott die Vielfalt liebt, wie die Kirche
behauptet, muss diese auch für die Sexualität gelten.
Zudem ist Gott ein Vater-Mutter-Gott.
Woher sollte sonst das Weibliche theologisch sonst kommen?
Wenn Gott die Liebe ist, wer sind dann ICH und DU bei ihm?

Mir fällt dazu dieses Buch ein:
Christa Mulack,
Die Weiblichkeit Gottes. Matriarchale Voraussetzungen des Gottesbildes, 1983.

https://de.wikipedia.org/wiki/Christa_Mulack

Schon im AT hat Gott viele, nachweisbar weibliche Züge.
Der Geist Gottes z.B., die Ruah, ist ein Femininum, rechem = liebevolles Erbarmen, ebenfalls.
https://brigwords.com/category/worterklaerungen-hebraeisch/page/2/

Das Missbrauchsdrama indes geht weiter:
Soeben gelesen:

https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kirche-missbrauchsvorwuerfe-kardinal-hengsbach-100.html

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.09.2023 um 15:57 Uhr (Zitieren)
Weder Gott Vater noch Gott Sohn haben sich zu diesem Thema je dezidiert geäußert.

Nun, wo sollte Gott Vater sich dazu äußern, wenn nicht im Pentateuch? Und dort sind die Äußerungen doch sehr eindeutig, etwa Leviticus 20, 13:
Wohnt ein Mann seinesgleichen wie einem Weibe bei, so haben beide Abscheuliches getan; sie sollen des Todes sterben; Blutschuld [sic!] belastet sie.

Vgl. Leviticus 18, 22 und Deuteronomium 22, 5.

Ich habe mal im Netz eine hübsche Satire zum Thema "Leben nach der Bibel" gefunden, in der auch auf Homosexualität - und manches andere - Bezug genommen wird:
Der Hintergrund zu folgendem Text: Laura Schlessinger ist eine US-Radio-Moderatorin, die Leuten, die in ihrer Show anrufen, Ratschläge erteilt. Kürzlich sagte sie als achtsame Christin, dass Homosexualität unter keinen Umständen befürwortet werden könne, da diese nach Leviticus 18:22 ein Greuel sei. Der folgende Text ist ein offener Brief eines US-Bürgers an Dr. Laura, der im Internet verbreitet wurde:

Liebe Dr. Laura

Vielen Dank, daß Sie sich so aufopfernd bemühen, den Menschen die Gesetze Gottes näher zu bringen. Ich habe einiges durch Ihre Sendung gelernt und versuche das Wissen mit so vielen anderen wie nur möglich zu teilen.
Wenn etwa jemand versucht seinen homosexuellen Lebenswandel zu verteidigen, erinnere ich ihn einfach an das Buch Mose 3, Leviticus 18:22, wo klargestellt wird, daß es sich dabei um ein Greuel handelt.

Ende der Debatte.

Ich benötige allerdings ein paar Ratschläge von Ihnen im Hinblick auf einige der speziellen Gesetze und wie sie zu befolgen sind:

a) Wenn ich am Altar einen Stier als Brandopfer darbiete, weiß ich, daß dies für den Herrn einen lieblichen Geruch erzeugt (Lev. 1:9). Das Problem sind meine Nachbarn. Sie behaupten, der Geruch sei nicht lieblich für sie. Soll ich sie niederstrecken?

b) Ich würde gerne meine Tochter in die Sklaverei verkaufen, wie es in Exodus 21:7 erlaubt wird. Was wäre Ihrer Meinung nach heutzutage ein angemessener Preis für sie?

c) Ich weiß, daß ich mit keiner Frau in Kontakt treten darf, wenn sie sich im Zustand ihrer menstrualen Unreinheit befindet (Lev. 15:19-24). Das Problem ist, wie kann ich das wissen? Ich hab versucht zu fragen, aber die meisten Frauen reagieren darauf pikiert.

d) Lev. 25:44 stellt fest, daß ich Sklaven besitzen darf, sowohl männliche als auch weibliche, wenn ich sie von benachbarten Nationen erwerbe. Einer meiner Freunde meint, das würde auf Mexikaner zutreffen, aber nicht auf Kanadier. Können Sie das klären? Warum darf ich keine Kanadier besitzen?

e) Ich habe einen Nachbarn, der stets am Samstag arbeitet. Exodus 35:2 stellt deutlich fest, daß er getötet werden muß. Allerdings: bin ich moralisch verpflichtet ihn eigenhändig zu töten?

f) Ein Freund von mir meint, obwohl das Essen von Schalentieren, wie Muscheln oder Hummer, ein Greuel darstellt (Lev. 11:10), sei es ein geringeres Greuel als Homosexualität. Ich stimme dem nicht zu. Könnten Sie das klarstellen?

g) In Lev. 21:20 wird dargelegt, daß ich mich dem Altar Gottes nicht nähern darf, wenn meine Augen von einer Krankheit befallen sind. Ich muß zugeben, daß ich Lesebrillen trage. Muß meine Sehkraft perfekt sein oder gibt es hier ein wenig Spielraum?

h) Die meisten meiner männlichen Freunde lassen sich ihre Haupt- und Barthaare schneiden, inklusive der Haare ihrer Schläfen, obwohl das eindeutig durch Lev. 19:27 verboten wird. Wie sollen sie sterben?

i) Ich weiß aus Lev. 11:16-8, daß das Berühren der Haut eines toten Schweines mich unrein macht. Darf ich aber dennoch Fußball spielen, wenn ich dabei Handschuhe anziehe?

j) Mein ***** hat einen Bauernhof. Er verstößt gegen Lev. 19:19, weil er zwei verschiedene Saaten auf ein und demselben Feld anpflanzt. Darüber hinaus trägt seine Frau Kleider, die aus zwei verschiedenen Stoffen gemacht sind (Baumwolle/Polyester). Er flucht und lästert außerdem recht oft. Ist es wirklich notwendig, daß wir den ganzen Aufwand betreiben, das komplette Dorf zusammenzuholen, um sie zu steinigen (Lev. 24:10-16)? Genügt es nicht, wenn wir sie in einer kleinen, familiären Zeremonie verbrennen, wie man es ja auch mit Leuten macht, die mit ihren Schwiegermüttern schlafen? (Lev. 20:14)

Ich weiß, daß Sie sich mit diesen Dingen ausführlich beschäftigt haben, daher bin ich auch zuversichtlich, daß Sie uns behilflich sein können. Und vielen Dank nochmals dafür, daß Sie uns daran erinnern, daß Gottes Wort ewig und unabänderlich ist.

Ihr ergebener Jünger und bewundernder Fan

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.09.2023 um 16:16 Uhr (Zitieren)
Ich meine übrigens, daß, auch wenn Jesus sich tatsächlich nicht explizit zur Homosexualität geäußert hat, sein Verständnis von Ehe und Ehebruch, wie er es in der Bergpredigt artikuliert, schwerlich mit homosexueller Praxis in Einklang zu bringen ist - es sei denn, er hätte eine Ehe auch für Homosexuelle ins Auge gefaßt (was aber wohl jenseits seines Horizontes gelegen haben dürfte).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 19.09.2023 um 18:56 Uhr (Zitieren)
wie er es in der Bergpredigt artikuliert,

Diese wurde nie gehalten, sie ist eine Kompilation
und Interpretation seiner Grundansichten
und Lebensmodells.

Vom historischen Jesus wissen wir fast nichts,
wie schon Albert Schweitzer konstatierte.
Alles ist Produkt der nachösterlichen Gemeinden.
Außerdem war auch er ein Kind seiner Zeit
und religiösen Vorprägung, die er aber in
vielerlei Hinsicht gesprengt hat.

Dazu ein neueres Buch:
Martin Ebner:
Jesus von Nazaret: Was wir von ihm wissen können, 2012.
als Sonderausgabe Taschenbuch (2018)


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 19.09.2023 um 21:35 Uhr (Zitieren)
Die Aussagen des Pentateuch über Homosexualität sind ja ganz eindeutig. Gegen mein Verständnis der Bergpredigt hast Du an sich keinen Einwand, hältst jedoch fest, daß sie kein authentisches Jesus-Wort sei, nicht zur "ipsissimia vox" gehöre.

Aber was soll denn dann die biblische Grundlage einer christlichen Beurteilung von Homosexualität sein?
Soetwas wie eine 'zeitgemäße Neudeutung' mag zwar menschenrechtlich sinnvoll sein, aber inwiefern ist sie biblisch? Inwiefern ist es noch christlich, wenn man sich vom "sola scriptura" freimacht? Vor allem dann, wenn wir, wie Du schreibst, fast nichts über den historischen Jesus wissen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 20.09.2023 um 14:15 Uhr (Zitieren)
hältst jedoch fest, daß sie kein authentisches Jesus-Wort sei, nicht zur "ipsissimia vox" gehöre.

Ja, in dem Sinn, dass die BP die Grundintentionen Jesu komprimiert
und interpretiert,
die auf einem (noch nie dagewesenen ??) Biophilie-Prinzip basiert,
der bedingungslosen Akzeptation jedweden
menschlichen Lebens und Forderung, dieses
zu mehren und nicht zu schädigen.
Die Welt ist der Raum, in dem sich dieses
Leben maximal entfalten soll unter Wahrung
und Schutz dessen materieller Grundlagen
(Wahrung derSchöpfung).

Aber was soll denn dann die biblische Grundlage einer christlichen Beurteilung von Homosexualität sein?

Die Bibel ist zeitbedingt.
Kein seriöser Theologe hält am Wortlaut fest.
Sie ist Gottes Wille in menschlicher Sprache
mit irrtumsanfälligkeit aus Mangel an
oder Fehlinterpretation von (vermeintlichen) Wissen.
Sie muss im Kontext ausgelegt werden.

Soetwas wie eine 'zeitgemäße Neudeutung' mag zwar menschenrechtlich sinnvoll sein,

Sie ist unumgänglich.
Mit der modernen Religionspsychologie sollte das
kein großes Problem sein.
(vgl. Drewermann)
Man muss an das Wesen der Botschaft ran,
und bei dem geht es im Zentrum um Liebe.
Jede Form von Liebe, die mit Achtung vor dem
anderen und echter Humanität praktiziert wird,
kann nicht verwerflich sein.
Wenn Gott die Vielfalt will und liebt,
dann gilt das auch und gerade für die Liebe.
Denn die Liebe ist das Motiv der Schöpfung -
laut Christentum.

Homosexualität kann nicht verwerflich sein,
weil sie im evolutionären Rahmen möglich ist.
Die Evolution ist ein Geschehen in absoluter Freiheit
ohne das Telos Mensch, aber mit der
Potentialität den Menschen als liebesfähiges
Wesen hervorzubringen um damit dem
Prinzip Liebe auch in der Materie die Möglichkeit
zu geben sich fortzusetzen.
Liebe will und braucht ein Gegenüber.
In monadischer Gott kann per definitionem
kein liebender Gott sein.

Auf diesem Hintergrund muss man sich m.E.
das Wirken Jesu vorstellen, der um sich herum
"einen Raum der bedingungslosen Liebe" schuf,
wie Rahner hier sagt:
„Der Mensch kommt nur wirklich in echtem Selbstvollzug zu sich, wenn er
sich radikal an den anderen wegwagt. Tut er dies, ergreift er (unthematisch
oder explizit) das, was mit Gott als Horizont, Garant und Radikalität solcher
Liebe gemeint ist, der sich in Selbstmitteilung (existenziell und geschicht-
lich) zum Raum der Möglichkeit solcher Liebe macht. Diese Liebe ist intim
und gesellschaftlich gemeint und ist in der radikalen Einheit dieser beiden
Momente Grund und Wesen der Kirche.


Liebe ist in diesem Sinn kein Gegenstand der
historisch kritischen Forschung, sondern der
konkreten praktischen Erfahrung und der
psycholologischen Frage:
Wie hat Jesu auf Menschen damals gewirkt,
was hat er bei und in ihnen ausgelöst, was
hat in so faszinierend gemacht,
dass ein Religion daraus entstehen konnte?
Und: Wie sehr hat die Kirche in der Geschichte
dieses Eigentliche zugeschüttet, pervertiert
und fast ad absurdum geführt.
Ich verstehe immer mehr, warum immer mehr sagen:
Jesus ja, Kirche nein!
Nur welchen Jesus meinen diese Menschen damit letztlich?
Was ist für sie das Zentrale
und Wichtigste bei ihm.
Für welche Idee steht er und wie plausibel
ist diese?
Hat Liebe eine (absolute) Zukunft, ja oder nein?
Egal, wie man sich das konkret vorstellen mag.
Hat es einen Sinn zu leben, wenn eh alles
im Nichts endet, kosmologisch in ultra-
langwelliger Strahlung?
Nur von daher macht der Aufstehungsgedanke
Sinn: Liebe endet nicht im Nichts, sagen
Gläubige, sondern bei dem, von dem sie ausging,
jener Liebe, die Christen Gott nennen
und ein "unfassbares Geheimnis" ist. (Rahner)
Dass damit jeder kritische Philosoph Probleme haben muss,
liegt in der Natur der Sache,
die auf Glauben beruht.
Man kann es glauben oder eben nicht.
Es ist die freie Entscheidung jedes einzelnen
wie bei der Liebe: Man kann niemanden dazu zwingen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.09.2023 um 18:38 Uhr (Zitieren)
Mich interessiert jetzt am meisten die Frage, wie diese Grundintention Jesu (über den wir historisch so gut wie nichts wissen) ermittelt wird. Da ist ja auffallend, daß alles, was an biblischem Text damit nicht in Einklang steht (der hart richtende Gott, der den Feigenbaum verfluchende Jesus etc.), eliminiert wird, so daß nur noch das übrigbleibt, was man darin sehen möchte. Ist das nicht eine Projektion eigener Vorstellungen in einen Text hinein? Als Historiker habe ich da ein ganz ungutes Gefühl.
Als Philosoph stört mich die einseitige Dominanz der Liebe, während mir das Universum eher im Symbol des Yin und Yang erfaßt zu sein scheint, d.h. daß ohne sein Gegenteil nichts existiert und nichts bewußt bzw. erkannt werden kann.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 21.09.2023 um 13:13 Uhr (Zitieren)
Da ist ja auffallend, daß alles, was an biblischem Text damit nicht in Einklang steht (der hart richtende Gott, der den Feigenbaum verfluchende Jesus etc.), eliminiert wird,

Es wird nicht eliminiertt, sondern muss in Gesamtkontext
der "Guten Nachricht" interpretiert werden.
Der Rachegott des AT ist ein Gedankenkonstrukt,
das v.a. eine soziale Funktion hatte.
Strafe ist notwendig, um zum Wohlverhalten zu
motivieren.
Auch ein eigentlich Liebender kann mal ausrasten,
wenn der andere lieblos oder extrem
egoistisch handelt.
Die Vertreibung der Händler ließ Jesus ausrasten,
weil mit Gott Geschäfte gemacht wurden,
was mit seinem Gottesbegriff unvereinbar ist.
Alle antiken Opferpraktiken nach dem
DO-UT-DES-Prinzip lehnt Jesus ab. Er steht in der
Tradition der Propheten, die dasselbe bereits
gefordert hatten: keine Brandopfer will Gott,
sondern konkrete, helfende Nächstenliebe.
Zudem lässt sich Gott nicht kaufen, er ist
transzendent souverän.
Das Handeln Gottes beruht auf Gnade.

d.h. daß ohne sein Gegenteil nichts existiert und nichts bewußt bzw. erkannt werden kann.

Das gilt auch für Liebe und Hass.
Gäbe es den Hass/Ablehnung nicht, wüssten wir nicht, was
Liebe/Akzeptation ist.
Der Kosmos basiert auf Bipolarität.
A ist ohne Nicht-A nicht zu haben.
Ohne Spannung wäre alles im "langweiligen"
Gleichgewicht wie im völlig symmetrischen
Quantenvakuum, in dem sich "nichts tut".
Ohne Asymmetrie und Spannung entsteht nichts Neues.
er herrschte ewiges Einerlei, Vielfalt ist nicht
möglich. Es gibt keine Bewegung,
kein Streben nach Ausgleich und bewusst gewollter Harmonie,
die mit Liebe zu tun hat.
Die Evolution zeigt, welch hohen Preis diese Vielfalt
hat nach menschlicher Beurteilung.

Mir fällt dazu ein kleines Büchlein, über das
man sicher wieder trefflich streiten könnte:

Gisbert Greshake,
"Der Preis der Liebe - Besinnung über das Leid", Freiburg 979.
vgl:
https://www.lesejury.de/media/samples/362/9783451378362_leseprobe.pdf
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 21.09.2023 um 14:00 Uhr (Zitieren)
Die Vertreibung der Händler ließ Jesus ausrasten, weil mit Gott Geschäfte gemacht wurden,
was mit seinem Gottesbegriff unvereinbar ist.
Alle antiken Opferpraktiken nach dem
DO-UT-DES-Prinzip lehnt Jesus ab.

Was ich immer noch nicht verstehe: Hier berufst Du Dich erneut den Bibeltext, und das, obwohl
- Du das an anderer Stelle ablehnst (Jesus spricht in den Evangelien ca. 70 mal von der Hölle) und
- obendrein zugibst, daß wir über den historischen Jesus (fast) nichts wissen, also auch gar nicht sagen können, was er wirklich gemeint hat.

Wo ist das Kriterium, nach dem Du festlegst, was an den Evangelien zählt und was nicht? Es sollte doch nicht so sein, daß sich jede Epoche ihren "own personal Jesus" sucht und sich dabei der Evangelien wie eines Steinbruchs bedient, oder?

Notabene: Ich plädiere nicht für ein fundamentalistisches Bibelverständnis, sondern für eine irgendwie rationale Art des Umgangs mit ihr gemäß nachvollziehbaren Kriterien. Und das erfüllt in meinen Augen nicht ein Jesus, den sich die moderne Theologie, Jahrhunderte der Bibel- und Religionskritik im Magen, als 'letzte Festung' zurechtgelegt hat.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 21.09.2023 um 17:14 Uhr (Zitieren)
Hier berufst Du Dich erneut den Bibeltext,

Weil er Rückschlüsse auf den historischen Jesus
zulässt. Man kann an die Psyche des Nazareners
durchaus rankommen, meine ich zumindest
und Drewermann sicher auch:
vgl. E. Drewermann, Jesus von Nazareth
Befreiung zum Frieden, 1996.
Man muss keine Eisegese betreiben, wenn
eine plausible psychoanalytische Exegese möglich ist.
Das gilt v.a. für das AT, um den Rache-Gott
auf-und abzulösen, den Jesus überwunden hat
und in 1 Joh komprimiert in der Gleichung
zum Ausdruck kommt: Gott ist (die) Liebe.

Dass wir wenig wissen über ihn, heißt nicht,
dass die nachösterliche Gemeinde ihn nicht richtig
verstanden hat.
In den Evangelien wird die Mentalität und die
Gesinnung Jesu erkennbar, die eine Logik in sich hat.
Der Tenor ist herauslesbar, wenn man
die Interessen herausfiltert, die noch zusätzlich
im Spiel sind (Judenfeindlichkeit bei Matthäus etc.)

Wo ist das Kriterium, nach dem Du festlegst, was an den Evangelien zählt und was nicht?

Dazu Gerd Theißen, Das Neue Testament,
C.H. Beck -Reihe Wissen
Am Ende nennt Theißen Kriterien für das, was
den christl. Glauben ausmacht.

Das Neue Testament ist die Schriftensammlung einer kleinen religiösen Subkultur im Römischen Reich, die durch Neuinterpretation der jüdischen Religion entstand und sich binnen 100 Jahren zu einer selbständigen Religion entwickelte. Zwei historische Gestalten haben sie geprägt: Jesus und Paulus. Die vorliegende Einführung stellt die Entstehung der durch sie (direkt und indirekt) hervorgerufenen Schriften im Zusammenhang mit der Geschichte des Urchristentums dar. Sie setzt einen besonderen Akzent auf die Entwicklung der Formensprache der neutestamentlichen Schriften und die Bearbeitung ihres religiösen Grundproblems, wie in einem monotheistischen Milieu eine menschliche Gestalt neben Gott gerückt werden konnte. Die dabei sichtbar werdenden formalen und inhaltlichen Besonderheiten erklären, warum diese Schriften in den Kanon der Alten Kirche aufgenommen wurden.


Ansonsten empfehle ich die wissenschaftlichen
Kommentare der EKK-Reihe:

https://www.theologische-buchhandlung.de/ekk.htm

Es gibt schon klare Kriterien und eine nachvollziehbare Logik, was und wie
man etwas von Jesus herleiten kann.
Wie du weißt, ist keine Schrift der Antike so
zerpflückt worden wie die Bibel v.a. das NT.
Und es gibt weltweit viele Lehrstühle nur für
das NT.
Warum wohl?
Man will so nah wie möglich an den historischen
Jesus und v.a. seine Lehre ran, so wie die
Astrophysik mittels des Lichts an den Urknall
ran möchte.
M.W. fehlen nur noch wenige 100.000 Jahre.
Der Zeitpunkt des Knalls wird nun mit 13,82
Milliarden Jahre vor heute angegeben.
Vlt. wissen wir bald den exakten Zeitpunkt
mit Jahr, Monat, Tag, Stunde, Minute, Sekunde,
Nanosekunde.
Und vlt. können uns Exegeten klar sagen, wie
Liebe heute "geht" in immer egoistischeren
und materiell orientierten Gesellschaften,
in denen es immer schwieriger wird,
ein liebevoller Mensch zu sein und zu bleiben
- trotz allem und wegen allen, weil ein humane
Gesellschaft ohne Vertrauen und Liebe nicht
auskommen kann.
Die Liebe ist gewiss nicht alles, aber ohne sie
ist alles nichts, was analog für die Gesundheit
gilt, von der A. Schopenhauer dasselbe sagte.
Er hat übrigens heute seinen 163. Todestag.

Die volle Logik darfst du natürlich nicht erwarten nach heutigen Maßstäben.
Doch ist Liebe logisch?

Schopenhauer sagte über die Welt u.a. dies:
"Der Welt liegt ein irrationales Prinzip zugrunde."

Wenn er Recht hat, warum wundern wir und dann noch?
Die Evolution bestätigt genau diese Anschauung
und hat dennoch das hervorgebracht, wonach
sich alle Menschen immer schon gesehnt haben,
das Phänomen LIEBE.
Die Literatur, Musik, Kunst quillt über von
diesem Motiv,
das zusammen mit Leid und Tod die conditio
humana wesentlich und existentiell bestimmt,
wie der Logotherapeut Viktor Frankl u.a.
auf einem Symposium zusammenfasste,
das ich im Sommer 1983 miterlebte,
in dem auch der Satz fiel:
Wer ein Wofür zu leben hat, erträgt fast jedes
Wie.
Frankl hat zwei KZs überlebt.
Mutter, Bruder und Ehefrau wurde von den Nazis
als Juden ermordet.
Menschen leben und sterben für die Liebe,
Christen in dem Bewusstsein, dass sie sogar
den Tod überwinden kann - in welcher Form
auch immer.
"Alle Lust will Ewigkeit".
Für welche Lust sollte das mehr gelten als
die Lust immer wieder neu zu lieben bzw.
es immer wieder mit Liebe zu versuchen.lll

PS:
Man kann auch aus Steinbruchmaterial schöne
Gesamtkompositionen zusammenbauen
mit dem nötigen Geschick und erforderlichen
Abschleifarbeiten an sperrigen Einzelteilen.
;)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 27.09.2023 um 22:40 Uhr (Zitieren)
Das Interview des Sängers

Sehr fern und hoch oben
lebt im Vorhof zum Paradies
einsam in familiärer Eintracht
ein begabtes talentloses Volk.
Vor Klugheit schier töricht,
bis zur Faulheit strebsam,
ein unglückliches glückliches Volk.
Ein majestätisches unansehnliches,
ein volles und leeres,
ein rätselhaftes durchschaubares,
ein kompliziertes einfaches,
unwissend gebliebenes
- trotz mancher Siege und Mißgeschicke –
lebt es im Vorhof zum Paradies,
ein nichtsnutziges hervorragendes Volk.
Ein vor Feigheit mutiges,
bis zum Geiz großzügiges,
gehorsames aufrührerisches Volk.
Rachsüchtig gar nicht nachtragend,
übermäßig bescheiden und ebenso prahlerisch,
ungeschickt äußerst findig,
zaudernd und eilfertig,
hoffend auf paradiesisches Glück
keinen Tag, auch nicht zwei, und kein Jahr.
Ohne Glauben an fremde Anteilnahme
fault und erblüht das Volk.
Ein vor Schläfrigkeit munteres,
bis zur Bosheit gütiges,
ein liebedienerisches stolzes Volk.
Leichtsinnig vorsichtig,
begriffsstutzig scharfsinnig,
betrügerisch zuverlässig
und nachdenklich schwatzhaft
wird es sein Ziel erreichen
und sich sorgsam geführt hineindrängen ins Paradies.
Aus Freude vor Kummer berauscht es sich dann,
dieses arbeitswütige faulenzende Volk.
Ein vor Lachen weinerliches,
zum Grausen glückliches,
freies unterdrücktes Volk.
Das offene verschlossene,
allem zugehörende nirgends hinpassende,
ausgehungerte satte,
alles sehende ewig blinde.
Und kommt deinem Geist in Erinnerung
eine Eigenschaft, ein spezieller Charakter,
mach keinen Fehler, leg ihn ganz ruhig,
auch ihn noch, zur Last diesem Volk.
Laß ja nicht dir einfall’n, einfach ne Idee
Ihm aus ganz anderer Sicht unterzujubeln.
Denn es wird dich am Kragen packen,
rausexpedieren auf immer.
Pflichterfülltes,
ohne Sinn und Verstand
stets unterdrücktes Volk Hegemon.

(Alexander Sinowjew: Gähnende Höhen. Zürich 1981, S. 856-858)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 28.09.2023 um 08:52 Uhr (Zitieren)
Ob das nur auf die UdSSR zutraf?
Oder den ganzen Ostblock und westliche Länder?
Einiges davon trifft sicher auch heute nach
auf westliche Staaten zu.


Mit ›Gähnende Höhen‹ wurde Alexander Sinowjew über Nacht als einer der klügsten und gleichzeitig humorvollsten Kritiker der Sowjetunion bekannt. Ein einzigartiger, vielgestaltiger Roman, dessen Faszination und Zeitlosigkeit sich der logischen Schärfe verdankt, mit der das System Sowjetunion seziert und spielerisch ins Satirische gekippt wird.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 28.09.2023 um 14:48 Uhr (Zitieren)
Andreas hatte das schon am 2.9. zitiert ... und ich kann dem in allem zustimmen. Ein außergewöhnlicher, bemerkenswerter Roman.

Und Sinowjew liebt den Einsatz von Paradoxa. Hier ist ein weiteres:
[...] Anläßlich der Entgegennahme eines Grußtelegramms betreffend die vorfristige Übererfüllung von Anregung und Initiative sagte der Universaldreher: Wir versichern unserer geliebten und weisen Führung und unserem geliebten und genialen Chef persönlich, daß wir sogar an das glauben, woran wir in Wirklichkeit nicht glauben, und alles erfüllen werden, was wir in Wirklichkeit nicht erfüllen werden. Der Chef war gerührt und würdigte dies als ein Beispiel für ein außergewöhnlich hohes Bewußtseinsniveau. Mit solchen Leuten, sagte er, werden wir nicht bloß den totalen Ismus, sondern irgendwas noch Dolleres aufbauen. Man muß uns nur Zeit lassen. [...]

(Alexander Sinowjew: Gähnende Höhen. Zürich 1981, S. 597)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 29.09.2023 um 22:17 Uhr (Zitieren)
Plakat Die Grünen in Hessen zur Landtagswahl am 8.10.2023:
Verändern! Damit es bleibt, wie es ist.

(ZDF heute am 29.9.2023)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 29.09.2023 um 23:10 Uhr (Zitieren)
Müssen bei diesem Einsatz der Paradoxa diese eigentlich paradoxerweise gelten und nicht gelten, damit satirische Deutung sich noch einstellen kann, weil sonst sich ja z.B. die Lesart, dass hier ein eitler Vorgesetzter sich mit dialektischem Bullshit düpieren lässt, auflöste?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 30.09.2023 um 14:45 Uhr (Zitieren)
Gebet eines gläubigen Gottlosen

Die Welt quillt über schon von Elektronen,
sie steuern das Büro und das Labor.
Mit Chromosomen und mit Zyklotronen
hat man dich ausgesperrt, Du stehst davor –
ein Überbleibsel, Popenbodensatz;
in dieser, Deiner Welt, Gott, hast Du keinen Platz.
Und doch: Ich fleh zu Dir, für mich sei noch ein bißchen da!
Gar nicht allmächtig, gern ein bißchen schwächlich;
auch um die Liebe, Gott, mach nicht zuviel Trara;
sei kein Prophet – ein alter Mann und schon gebrechlich.
Doch sei nicht dickfellig und taub auf einem Ohr,
enttäusch uns nicht, die mit der kleinen Bitte kommen,
wir kommen uns von Dir sonst ganz verraten vor:
Sei doch allsehend nur, in Gottes Namen!
Ich fleh Dich an, Gott, bitte sieh!
Sieh einfach hin und sei ganz Auge
und frag Dich nicht, ob dieser Mensch und wie
auf Deiner Welt zum Leben tauge.
Sieh nur, was läuft, mehr muß ja gar nicht sein;
und Deine einzige Sorge, Gott, sei die
(ich weiß ja, gegen Deine ist die meine winzig klein):
Sieh bitte, was ich tue und was – sie!
Ich bin bereit, ein Zugeständnis Dir zu machen:
Alles zu sehn ist schwer, das weiß ich ja,
doch für ein Hundertstel der schlimmen Sachen,
die sie uns antun, sei zumindest da!
Darum aus zugeschnürter Brust mein Schrei.
Und hör: Ich bitte nicht, ich fordere: Sei!!!
Ja, dieses Flüstern, Vater, dieses Röcheln, es meint Dich.
Ich fordere es nicht, verzeih,
ich bitte flehentlich:
Sei!!!!!

(Alexander Sinowjew: Gähnende Höhen. Zürich 1981, S. 901 f.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 01.10.2023 um 21:28 Uhr (Zitieren)
Das Exil war zu Ende, und jetzt war es, als habe es uns doch einen Halt gegeben, und als ginge uns der Boden erst verloren, als es darauf ankam, irgendwo Fuß zu fassen


(Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes, Suhrkamp 1981, Bd 3., S. 261)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 02.10.2023 um 15:17 Uhr (Zitieren)
Und da nun mal in dieser Gesellschaft jeder ein Freund ist, gibt es hier keinerlei Freunde.

(Alexander Sinowjew: Gähnende Höhen. Zürich 1981, S. 945)

Erinnert mich an Aristoteles: "Wer viele Freunde hat, hat keinen Freund." (Eudemische Ethik 1245b 20)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.10.2023 um 22:53 Uhr (Zitieren)
Einige Dramatiker des Siglo de Oro, darunter Calderón, fügen ihren Autographen insbesondere religiöser Stücke und Komödien am Ende eine durch Unterschrift beglaubigte Entlastungsformel hinzu: Si quid dictum contra fidem et bonos mores quasi non dictum, et omnia sub correctione Sanctae Matris Ecclesiae - Wenn irgendetwas gegen den Glauben und die guten Sitten gesagt (wurde), (wurde) es gleichsam nicht gesagt und alles der Berichtigung durch die Heilige Mutter Kirche unterstellt.

Von der inhärenten Paradoxie, dass der Inhalt des Gesagten erst darüber entscheidet, ob etwas gesagt wurde oder nicht gesagt wurde, abgesehen, kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Klausel selbst gegen die insbesondere im Christentum als verwerflich angesehene Doppelzüngigkeit (Mt 5,37, 2 Kor 1,12ff. 1 Tim 3,8 et cetera) verstößt, sich also konsequenterweise als ungesagt selbst aufheben müsste.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.10.2023 um 22:58 Uhr (Zitieren)
… gegen das Verbot insbesondere im Christentum als verwerflich angesehener Doppelzüngigkeit verstößt …
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 05.10.2023 um 13:46 Uhr (Zitieren)
Die Idee bzw. das Problem ist anscheinend der christlichen (katholischen?) Theologie inhärent.
Peter de Rosa (Gottes erste Diener. München 1989) erwähnt einen echten Papst (Benedikt V.), der geschworen hat, ein falscher zu sein, sowie einen anderen Papst (Paul IV.), der sich gezwungen sah, seine eigenen Werke auf den Index zu setzen.

Zu erwähnen ist auch der Grundsatz, daß die Überzeugung, kein Sünder zu sein, sündhaft ist.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 10.10.2023 um 13:23 Uhr (Zitieren)
Das Höchste

Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren:
Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ists!

(Schiller)

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 11.10.2023 um 00:05 Uhr (Zitieren)
Wörtlich sagte [Verteidigungsminister Yoav] Gallant nach einer Lagebeurteilung in der Stadt Beer Sheva: »Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff. Alles ist geschlossen«. Weiter sagte er: »Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.«


(Jüdische Allgemeine online, 9.10.2023)

Das Adjektiv macht die dehumanisierende Abwertung paradox, denn gerade, was es ausdrückt, will diese den (sonst gewöhnlich nur)als Tiere Bezeichneten ja gerade absprechen.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 11.10.2023 um 00:07 Uhr (Zitieren)
gerade
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 11.10.2023 um 12:06 Uhr (Zitieren)
Zu erwähnen ist auch der Grundsatz, daß die Überzeugung, kein Sünder zu sein, sündhaft ist.

Warum soll ein Irrtum Sünde sein?
Non peccare non posse humanum est, oder?

Die Frage ist zudem: Was ist das Wesen von Sünde?
Meine Antwort: Jede Form von Lieblosigkeit v.a. da, wo sie vermeidbar wäre.

Umfassend und immer liebevoll zu sein überforderte jeden Menschen.
Vlt. besteht das Göttliche bei Jesus genau darin, nie lieblos gewesen zu sein und einen
Raum authentischer Liebe um sich herum geschaffen zu haben wie es in jenem Rahner-Zitat heißt:
Der Mensch kommt nur wirklich in echtem Selbstvollzug zu sich, wenn er
sich radikal an den anderen wegwagt. Tut er dies, ergreift er (unthematisch
oder explizit) das, was mit Gott als Horizont, Garant und Radikalität solcher
Liebe gemeint ist, der sich in Selbstmitteilung (existenziell und geschicht-
lich) zum Raum der Möglichkeit solcher Liebe macht.

Nur abgehobenes Theologengeschwätz oder
illusorisches Wunschdenken?
Oder eine Möglichkeit gegen die Brutalität der
Evolution anzukämpfen als homo bonae voluntatis?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 11.10.2023 um 16:05 Uhr (Zitieren)
Nach katholischer Auffassung - die kenne ich noch - ist das sogar eine Todsünde: die des Hochmuts (superbia).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udo schrieb am 11.10.2023 um 16:18 Uhr (Zitieren)
eine Todsünde: die des Hochmuts (superbia
.
Wo fängt er an, wo hört er auf? Was wäre die Steigerung davon, was kommt vorher?
Was eine Todsünde?
Hochmut führt doch nicht sofort zum Tod?

Wenn sich jemand für den Stellvertreter Gottes auf Erden hält, ist das Bescheidenheit?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 11.10.2023 um 18:21 Uhr (Zitieren)
Die Päpste oszillieren in ihrem Selbstverständnis zwischen "Stellvertreter Gottes auf Erden" und "Diener der Diener Gottes". In den mittelalterlichen Höllenvisionen finden sich nicht wenige Päpste.

Eine Todsünde ist eine Sünde, in deren Stand (also ungebeichtet, nicht absolutiert) man im Todesfalle schnurstracks in die Hölle geht; das andere sind läßliche Sünden.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 12.10.2023 um 06:44 Uhr (Zitieren)
So sieht die christliche Hölle aus:
https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6lle#Christentum

Seit dem Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart wird die Hölle als angstauslösende Vorstellungswelt kritisiert bzw. verworfen, die für weltliche Zwecke oder zur Unterwerfung der Gläubigen eingesetzt worden sei – mit Hilfe ihrer Furcht vor dem Tod und dem, was danach kommt. Bezeichnend ist der Satz, „die erfunden werden müsste, wenn es sie nicht gäbe“ (Nicolas Sylvestre Bergier in der Encyclopédie Française von Denis Diderot, im Jahr 177
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 14.10.2023 um 00:23 Uhr (Zitieren)
Es ist nicht wahr, daß wir in einer Zeit ohne Dramen leben, die Behauptung ist so unhaltbar wie jede andre, auch die meine vielleicht, daß es sie gibt. Aber ich fürchte, da ich hier mein Buch zu vertreten habe, für dieses Buch zu fürchten habe, daß die andre Behauptung und die anderen Theorien die unwahreren sind.


(Ingeborg Bachmann: Das Buch Franza (Todesarten) - Vorstufe III: Vorreden. Piper, München 2004. S. 201)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 14.10.2023 um 08:24 Uhr (Zitieren)
Zum Buch:

Der Fall Franza ist ein unvollendeter Roman von Ingeborg Bachmann, den sie 1966[1] abbrach. Im selben Jahr las die Autorin im NDR Hannover aus dem Werk[2]. Ingeborg Bachman hat in dem Fragment unter anderem ihre Reise durch Ägypten und Sudan im Frühjahr 1964 verarbeitet[3]. Der Text aus dem Romanzyklus „Todesarten“ erschien 1978 im Piper Verlag.[4] Das Werk wurde 1986 von Xaver Schwarzenberger für das Fernsehen verfilmt. Elisabeth Trissenaar spielte die Franza und Gabriel Barylli ihren Bruder Martin (Drehbuch: Rolf Basedow)[5].

Franza sehnt sich nach dem Tode. Nachdem sie am Fuße der großen Pyramide von Gizeh von einem Weißen[6] vergewaltigt worden ist, schlägt sie sich an einem der Quader den Kopf ein und stirbt anderntags in Kairo.


Daraus 2 Zitate:
"Die Angst ist... der massive Angriff auf das Leben.“
„Wieviel hält ein Mensch aus, ohne zu krepieren?

Wieviel hält der Staat Israel aus, wieviel seine
Gegner?
Nach der Bodenoffensive wissen wir ein wenig mehr.

Im Radio hörte ich gerade, dass Israel 1 Mio Menschen aufgefordert hat,
den Gaza-Streifen zu verlassen.
Wo soll diese Mio. auf dei Schnelle untergebracht und versorgt werden?
Wann hört dieser Völkerhass auf?
Wohl nie.
Der Teufelskreis der Rache hat neuen, gewaltigen Schwung bekommen.
Quo vadis, Welt und deine friedlosen, aufgeklärten Völker?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 14.10.2023 um 13:30 Uhr (Zitieren)
In Plautus' Bacchides (788ff.) will der Sklave Chrysalus in einem schon fortgeschrittenen betrügerischen Verwirrspiel seinem Herren Mensilochus helfen, dessen Vater Nicobolus weiter Geld herauszulocken, er diktiert ihm dazu einen Brief an den Alten, in dem er selbst böser Absichten beschuldigt wird, um in weiterer Folge gerade dadurch das eigentliche Ziel zu erreichen. Bei der Übergabe des versiegelten Briefs an den Vater stellt er sich ahnunglos:


Chrysalus

nunc hasc’ tabellas ferre me iussit tibi.
orabat, quod istic esset scriptum ut fieret.

(Nun, er hat mir aufgetragen, dir diesen Brief zu bringen.
Er hat darum gebeten, dass, was darin stehe, geschehen soll.)


Nicobolus

cedo.
(Her damit.)

Chrysalus

nosce signum.
(Beachte das Siegel.)


Nicobolus

noui. ubi ipse est?
(Habe ich. Wo ist er selbst?)

Chrysalus

nescio.
nil iam me oportet scire. oblitus sum omnia.
scio me esse seruom. nescio etiam id quod scio.

(Weiß ich nicht. Es muss so sein, dass ich nichts mehr weiß.
Ich habe alles vergessen. Ich weiß, dass ich ein Sklave bin. Ich weiß sogar nicht einmal mehr das, was ich weiß).
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udo schrieb am 14.10.2023 um 14:26 Uhr (Zitieren)
Wenn Sokrates sagt: Ich weiß, dass ich nichts weiß,
ist das auch paradox.
Woher soll er sein Nichtwissen wissen, wenn er nichts weiß?

Oder kann man das auflösen?

Erklärungen findet man hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ich_wei%C3%9F,_dass_ich_nichts_wei%C3%9F#Die_Interpretation_Poppers

So recht verstehen. fällt mir nicht ganz leicht.
Vlt. kann es jemand prägnanter und anschaulicher?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 14.10.2023 um 15:04 Uhr (Zitieren)
Danke für die Plautus-Stelle.
Hier ist eine andere:
Amans quod suspicatur, vigilans somniat.
Der Liebe Argwohn ist ein Traum im Wachen.

(Publilius Syrus A 16; vgl. Plautus, Pseudolus V. 387)

***

Ein anderer griechischer Philosoph hat sogar gesagt: "Ich weiß nicht einmal, daß ich nichts weiß."
Den Namen weiß ich nicht mehr.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 14.10.2023 um 15:46 Uhr (Zitieren)
Itaque Arcesilas negabat esse quicquam quod sciri posset, ne illud quidem ipsum quod sibi Socrates reliquisset, ut nihil scire se sciret. sic omnia latere censebat in occulto, neque esse quidquam quod cerni aut intellegi posset.


Daher leugnete Arkesilaos, dass es irgendetwas gebe, das man wissen könne. Selbst nicht einmal das, was Sokrates ihm hinterlassen hatte, nämlich, dass er wisse, dass er nichts wisse. Er war also der Ansicht, dass alles im Dunkel verborgen liege und es nichts gebe, was (deutlich) wahrgenommen oder erkannt werden könne.


(Cicero:Academica I,45)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udo schrieb am 14.10.2023 um 15:54 Uhr (Zitieren)
Der Liebe Argwohn ist ein Traum im Wachen.

Was will das genau sagen?
Welcher Argwohn?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Andreas schrieb am 14.10.2023 um 15:59 Uhr (Zitieren)
Er war also der Ansicht, dass alles im Dunkel verborgen liege und es nichts gebe, was (deutlich) wahrgenommen oder erkannt werden könne.

Wie lebt so ein Mensch?
Welches Lebensgefühl mag er haben?
Wie kann man mit soviel Misstrauen durch die
Welt gehen?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 14.10.2023 um 16:20 Uhr (Zitieren)
Amans ... = Was der Liebende argwöhnt/sich einbildet, davon träumt er im Wachen. Das beschreibt vermutlich u.a. den deliranten Zustand, in den manchen Eifersucht versetzt, wo zwischen Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden schwerfällt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udo schrieb am 14.10.2023 um 16:46 Uhr (Zitieren)
Ja,das macht Sinn.
Danke.
Du kennst dich offensichtlich sehr gut in der Literatur und den alten Sprachen aus,
wie mir beim Blättern im Forum aufgefallen ist.
Bist du Hochschullehrer (gewesen)?
Graeculus hat ebenfalls verdammt viel auf dem Kasten.
Ihr habt eine umfassende Bildung, wie man sie heute selten antrifft.
Bewunderns- und beneidenswert!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 14.10.2023 um 18:15 Uhr (Zitieren)
Ja, filix gehört gewiß nicht zu denen, die einzig wissen, daß sie nichts wissen.
Ich für meine Person bin mir da nicht so sicher.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 14.10.2023 um 18:17 Uhr (Zitieren)
Die größte Gefahr für das Wissen ist, so scheint mir, eine, die Sokrates gar nicht auf dem Zettel hatte: das Vergessen. Was ich schon alles vergessen habe!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 01.11.2023 um 16:16 Uhr (Zitieren)
FAS vom 29.10.2023: Hauck & Bauer - Am Rande der Gesellschaft (im Original mit Zeichnungen):
Ja, ich bin jetzt seit einem Jahr mein eigener Chef.

Also wenn mir was nicht passt, muss ich nur an meine eigene Tür klopfen und sagen: Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.

Also das ist schon von Vorteil!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udo schrieb am 01.11.2023 um 17:16 Uhr (Zitieren)
Was heißt selbstständig?
Ständig alles selbst machen müssen, positiv: machen dürfen

Ich denke an die Ich-AGs, die sich für viele zum Fiasko entwickelt haben, weil ihnen die kufmännischen Grundlagen fehlten.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 03.11.2023 um 10:14 Uhr (Zitieren)
Entsprechend dem Grabstein des deutsch-russischen Komponisten Alfred Schnittke auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau

https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Schnittke

kann man sich einen Grabstein für einen Schriftsteller vorstellen:
"




"
Seite 1 bis ∞
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 03.11.2023 um 10:16 Uhr (Zitieren)
(Das 2. Anführungszeichen nach rechts unten, "Seite 1 bis ∞" zentriert.)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.11.2023 um 13:02 Uhr (Zitieren)
Philologengrab oder der Versuch, Schweigen zu zitieren.


»«


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 03.11.2023 um 14:16 Uhr (Zitieren)
re "Grabstein des deutsch-russischen Komponisten Alfred Schnittke"

Da ist ja kein Schlüssel vorgezeichnet - wie, bitte, soll man das spielen?!? ;-)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 03.11.2023 um 14:57 Uhr (Zitieren)
An filix:

Deine Version für den Grabstein eines Schriftstellers oder Philologen ist besser.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 03.11.2023 um 22:33 Uhr (Zitieren)
Ohne deine Version hätte ich mir vermutlich nie die Frage gestellt, ob und wie man Schweigen im Original zitieren kann und was eine unendliche Fußnote und das Unendliche als Fußnote bedeuten mag.

Apropos paradoxe Friedhöfe - in einer historischen Randnotiz zur Siedlungsgeschichte in Hearings, Reports and Prints of the Senate Committee on Interior and Insular Affairs (1968) im Vorfeld des Central Arizona Project, eines der größten amerikanischen Wasserbauvorhaben des 20. Jhtds., heißt es über Paradox Valley in Colorado, ein Talbecken, das seinen Namen einem ungewöhnlichen Flussverlauf verdankt:


The local cemetery was established in 1886 - "The Valley was such a healthy place we had to shoot a man to start a cemetery."



Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 04.11.2023 um 10:58 Uhr (Zitieren)
Es fehlt noch ein Pendant zu den fff, dem Fortissimo furioso. Ich denke da an drei Ausrufungszeichen hinter der Leerstelle.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.11.2023 um 13:54 Uhr (Zitieren)
Der etwas leisere Linguist im Nachbargrab:


[ˈ∅]
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 04.11.2023 um 14:05 Uhr (Zitieren)
Wieso "leere Menge"?
Mathematisch ist das ein Intervall mit der leeren Menge,
was keinen Sinn macht und verboten ist.
Möglich wäre die Menge {O}
O soll die leere Menge symbolisieren, weil ich das Zeichen erst
suchen müsste, das filix verwendet hat.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.11.2023 um 14:09 Uhr (Zitieren)
In linguistics, a zero or null is a segment which is not pronounced or written. It is a useful concept in analysis, indicating lack of an element where one might be expected. It is usually written with the symbol "∅", in Unicode U+2205
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.11.2023 um 23:37 Uhr (Zitieren)
Se voi cristiani vi preoccupaste di Dio tanto quanto me ne preoccupo io che sono ateo, sareste tutti santi.


(Michelangelo Antonioni: Comincio a capire. Girasole 1999, S. 31)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 05.11.2023 um 10:45 Uhr (Zitieren)
Ich verstehe den Satz nur, wenn ich Gott = Liebe setze.
Ansonsten wäre zu fragen, was Antonioni mit Gott meint.
Dass sich viele Christen mit der Liebe, konkret als
Nächstenliebe, schwer tun, ist bekannt, ebenso
wie die gern Wasser predigen und Wein trinken v.a.
ihre Funktionäre und Verkünder der Frohbotschaft,
die die längste Zeit defacto eine Drohbotschaft war
mit verheerenden, heute noch nachwirkenden Folgen.

Wie verstehen andere diesen Satz, wie du, filix?

Als Übersetzung fand ich, die Italienisch nicht gelernt hat:
Wenn euch Christen Gott genauso am Herzen liegen würde wie mir als Atheist, würdet ihr alle Heilige sein.


PS:
Neulich hörte ich im Rahmen einer sehr kirchenkritischen Sendung,
dass viele Heilige nach heutigen Maßstäben Verbrecher waren.
U.a. wurde Karlheinz Deschner zitiert
(Kriminalgeschichte des Christentums, 1986)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 05.11.2023 um 11:35 Uhr (Zitieren)
„Er [Jelzin] ließ ein Parlament zusammenschießen, um die Demokratie zu retten“ - jedenfals, wenn man der "Welt" glaubt.
(Links funktionieren bei mir bekanntlich leider nicht komplett.)

https://www.welt.de › geschichte › kopf-des-tages › article241337289 › Boris-Jelzin-Um-die-Demo
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 05.11.2023 um 14:06 Uhr (Zitieren)
Marcella,

ohne Dir zunahetreten zu wollen, aber es ist wirklich eine Kleinigkeit, den Beitrag mit einem Link, den Du mitteilen möchtest und der nach dem Copy-Paste bei Dir bspw. so aussieht:

https://www.welt.de › geschichte › kopf-des-tages › article241337289 › Boris-Jelzin-Um-die-Demo

nicht einfach so abzuschicken, sondern ihn zunächst in der Vorschau zu redigieren, indem Du [ › ] durch [/] ersetzest, also das:

https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article241337289/Boris-Jelzin-Um-die-Demo...

daraus machst - dann fluppt et :-)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
στρουθίον οἰκιακόν schrieb am 05.11.2023 um 14:21 Uhr (Zitieren)
... in dem Falle natürlich nicht, weil der Link abgeschnitten ist - darauf ist eben auch zu achten.

Jedenfalls fände ich es schade, wenn wegen einer fehlenden kleinen Mühewaltung Deinerseits Dein Beitrag nicht alles enthielte, was Du mitzuteilen beabsichtigst.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Marcella schrieb am 05.11.2023 um 21:02 Uhr (Zitieren)
Ist das die Lösung? Ich werde es so versuchen, danke sehr für den Tipp!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 07.11.2023 um 12:35 Uhr (Zitieren)
Den Eintrag im Paradoxiethread zu rechtfertigen, genügt es, denke ich, zu sehen, dass der selbsterklärte Atheist Antonioni die Christen mangelnden religiösen Eifers zeiht. Gewöhnlich erwartete man, dass er doch froh darüber oder wenigstens gleichgültig dagegen sein sollte.


Um die vorgeschlagene Mühewaltung in Sachen Links zu vereinfachen, habe ich in Codepen ein Tool aufgesetzt, das zumindest die Ersetzung der Zeichen automatisiert - https://tinyurl.com/MarcellasLinx

Das sollte aus ins Eingabefeld kopiertem https://www.welt.de › geschichte › kopf-des-tages › article241337289 › Boris-Jelzin-Um-die-Demo einen Link wie
https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article241337289/Boris-Jelzin-Um-die-Demo erzeugen - Feedback zur Funktionailität und Fehlern natürlich erwünscht.


Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 07.11.2023 um 13:34 Uhr (Zitieren)
Gewöhnlich erwartete man, dass er doch froh darüber oder wenigstens gleichgültig dagegen sein sollte.

Atheismus und das tun, was der christl. Gott fordert, schließt sich nicht aus.
Es gibt viele Atheisten, radikale Humanisten, die
christlicher handeln als Taufscheinchristen und
die deshalb als anonyme Christen bezeichnet werden. Der Begriff stammt von Karl Rahner.
Wie sagte Jesus: An den Früchten werdet ihr sie
erkennen?
Warum sollen nicht auch Atheisten humanitäre Früchte bringen, bessere und größere als die
offiziellen Gottgläubigen?
Mit Gott kann er also mMn nur das meinen,
was für die Forderung nach Mitmenschlichkeit
und aktiver Nächstenliebe steht.
Wenn ihm als Atheisten Gott am Herzen liegt,
dann meint er damit, was seiner Ansicht nach
vom Menschen gefordert ist und das ist nichts
anderes als das Doppelgebot zu erfüllen.
Was sonst?
Der hohle Begriff HEILIGE meint konkret nichts anderes als die,
die dieses Gebot in einer besonderen und fast übermenschlichen Weise erfüllt haben.
Dass es darunter wohl auch schwarze Schafe gab oder Pervertierer, Neurotiker
bis hin zu Kriminellen, ändert nichts am Problem.
Nur wissen viele nicht, was das wirklich für Leute sind,
Sie beten zu ihnen, weil die Kirche sie zu Heiligen gemacht hat, die hofft, das keiner genauer nachforscht und die Aureole beschmutzt oder gar als Absurdum in Einzelfällen enttarnt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 07.11.2023 um 18:53 Uhr (Zitieren)
Bei einem Regisseurs, der sich so sehr mit der Kehrseite des Sichtbaren, dem Versuch, das Bildlose in die Bilder eindringen zu lassen, dem Verschwinden, der Entleerung, der Auflösung, kurz der wenigstens negativ bestimmten Transzendenz, beschäftigt hat, der weder Erzähler noch Prediger sein wollte, scheint eine solche auf Moral beschränkte Vorstellung der Religion oder des Göttlichen mir kaum wahrscheinlich. Ich sehe indes nicht, wieso selbst unter dieser Annahme die Sache dadurch weniger paradox würde. Der Vorwurf des Mangels an eifriger Beschäftigung mit dem Gegenstand, an dessen Existenz zu glauben oder nicht zu glauben, gleich wie er definiert sein mag, die Differenz markiert, von der Seite, die Abwesenheit oder Ablehnung dieses Glaubens als wesentliches Kennzeichen hat, an die andere, für die das Vorhandensein oder die Bejahung desselben entscheidend ist, bleibt in sich widersprüchlich.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 07.11.2023 um 19:56 Uhr (Zitieren)
Wenn euch Christen Gott genauso am Herzen liegen würde wie mir als Atheist,

Wie verstehst du das?
In welcher Hinsicht liegt ihm Gott am Herzen?
Was sind für ihn Heilige? Was zeichnet sie aus?

Das Thema Liebe scheint ihm sehr wichtig gewesen zu sein:

Seine Anfang der 1960er Jahre entstandene Trilogie, bestehend aus Die mit der Liebe spielen (1960), Die Nacht (1961) und Liebe 1962 (1962), handelt in erster Linie von der inneren Entfremdung und der Zerrissenheit der Protagonisten, die ausschließlich in den oberen Gesellschaftsschichten verkehren.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.11.2023 um 14:54 Uhr (Zitieren)
Der gebürtige Albaner Elysea Bazna arbeitete im Zwei Weltkrieg unter dem Decknamen Cicero als Spion für Deutschland. In seiner Stellung als Kammerdiener des britischen Botschafters in Ankara lieferte er dem deutschen Sicherheitsdienst 400 Photokopien von Protokollen der alliierten Gipfelkonferenzen und Anweisungen für die Invasion in Frankreich.

Der Sicherheitsdienst stufte das Material als Fälschung ein, obwohl es echt war.
Er bezahlte Cicero mit 300000 Pfund Sterling. Und die schienen echt, waren aber falsch.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.11.2023 um 15:00 Uhr (Zitieren)
Zwei Weltkrieg --> Zweiten Weltkrieg

Quelle: Hanns Kurth/Hans Martin Stückelberger, Welt- und Kulturgeschichte. 10000 Daten nach Kalendertagen geordnet. Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf 1974, S. 778
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 09.11.2023 um 18:38 Uhr (Zitieren)
Elysea Bazna --> Elyesa Bazna (alban. Iliaz Bazna)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 18.11.2023 um 21:16 Uhr (Zitieren)
Am 3. Juni 1924 atmet der todkranke Franz Kafka so schwer, dass er Robert Klopstock, der ihn zusammen mit Dora Diamant im Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg betreut, auffordert, ihm die versprochene Dosis Pantopon (ein Opium-Vollpräparat) zu injizieren:

»Töten Sie mich, sonst sind sie ein Mörder.«

(Max Brod: Franz Kafka - eine Biographie (Erinnerungen und Dokumente, Schocken Books NY 1946, S.258)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 18.11.2023 um 23:54 Uhr (Zitieren)
Das ist gut! Aber so richtig paradox nur, wenn man das zweite "sie" großschreibt. Ach, wo bleibt die Editierfunktion?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 19.11.2023 um 19:12 Uhr (Zitieren)
Σύμφημι. Was die Editierfunktion angeht - für eine secessio sind wir leider zu wenige und zu sentimental.

—-

Ein im Jahre 2013 gefälltes Urteil des Supreme Court der Vereinigten Staaten (Salinas vs. Texas) stellte fest, dass es bei informellen Befragungen durch die Polizei, ehe man in Gewahrsam oder festgenommen wurde und einem die berühmten, den meisten aus Filmen und Serien bekannten Miranda-Rechte (das Recht zu schweigen, einen Anwalt hinzuzuziehen usf.) verlesen wurden, nicht genügt, einfach zu schweigen, um vom im Fifth Amendement geregelten Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen.

Vielmehr muss man sich seither bei jedem Schweigen nach einer Frage in so einer Situation ausdrücklich auf dieses Recht berufen, um eine Verwertung des Schweigens als Beweis in einem Prozess auszuschließen.

In der Praxis führt das dazu, dass sich die Befragten verkürzter, die Paradoxie noch verstärkender Formeln bedienen wie "remaining silent", "I remain silent" usf.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2023 um 00:31 Uhr (Zitieren)
"I remain silent", dem entspricht in der Umgangssprache: "Dazu sage ich jetzt nichts." Eine sehr vielsagende Bemerkung.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udoὧ schrieb am 20.11.2023 um 12:08 Uhr (Zitieren)
"Dazu sage ich jetzt nichts."

Ich denke, das ist die sprachökonomische Kurzform für:
Ich sage nur, dass ich dazu jetzt nichts sagen möchte.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2023 um 14:07 Uhr (Zitieren)
Ich verstehe es als "donnerndes Schweigen".
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 20.11.2023 um 15:29 Uhr (Zitieren)
Das führt zur Frage nach der weiteren kommunikativen Bewertung des Schweigens, näherhin im Kontext des Aussageverweigerungsrechts als Einlösung des Prinzips nemo tenetur se ipsum accusare ergibt sich das Problem, dass gerade das Schweigen insbesondere als Reaktion auf dezidiert anklagende Vorhaltungen als belastend bewertet wird, weil man gewöhnlich die Leugnung oder Bestreitung erwartet und andere Motive als Schuld für das Schweigen auszublenden geneigt ist. Ist also, von einem Recht, das die Selbstbelastung vermeiden soll, Gebrauch zu machen und sich gerade dadurch unter bestimmten Voraussetzungen mehr zu belasten als durch Verzicht darauf, paradox?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2023 um 15:50 Uhr (Zitieren)
Meines Wissens darf das Schweigen des Angeklagten auf keinen Fall in der Urteilsbegründung als verschärfender, belastender Umstand auftreten.
Was sich dennoch un- oder halbbewußt in den Köpfen von Richtern und Geschworenen abspielt, ist eine Frage der Psychologie.
Immerhin halte ich das juristische Tabu für einen gewissen Schutz, zumal Verteidiger auf seine Einhaltung achten.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 20.11.2023 um 17:03 Uhr (Zitieren)
Bedingt, denn partielles Schweigen, wenn man also nur zu für einen nicht belastenden Aspekten eines Sachverhalts etwa aussagt, sonst aber schweigt, kann meines Wissens sehr wohl in der Urteilsbegründung verwertet werden, sofern wir von Deutschland sprechen.

Überhaupt gibt es global betrachtet zu diesem Grundprinzip einen Haufen Ausnahmen - am Beispiel Indiens (~18% der Weltbevölkerung): https://www.lawyersclubindia.com/articles/silence-may-sometimes-amount-to-admission-16204.asp

Daher die Einschränkung unter bestimmten Voraussetzungen.

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2023 um 18:44 Uhr (Zitieren)
Ich bin mir sicher, daß in Staaten, in denen der Grundsatz gilt "Das Geständnis ist die Krone der Beweisführung" (Andrej Wischynskij), das Schweigen des Angeklagten als belastend gilt, aber in einem Rechtsstaat, das ist mir neu.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 20.11.2023 um 19:20 Uhr (Zitieren)
Zur besagten Einschränkung in D kurz etwa https://www.hegewerk.de/recht-zu-schweigen/
unter Die Ausnahme: das sogenannte „Teilschweigen“, oder:
der Anwalt für Strafrecht mahnt: kein „Cherry-Picking“ für den Angeklagten!
.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2023 um 21:36 Uhr (Zitieren)
Das ist dann das Fazit:
Fällt die Entscheidung – aus welchen Gründen auch immer – dahingehend, dass der Mandant zum Tatvorwurf schweigen soll, so sollte er dies grundsätzlich umfassend tun. Der Anwalt für Strafrecht wird ihm raten, dass er dann schlicht erklären solle, er mache von seinem Recht zu Schweigen Gebrauch und werde sich nicht zur Sache einlassen.

Und "Cherry-Picking" ist unser "Rosinenpflücken".
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2023 um 21:36 Uhr (Zitieren)
Das ist dann das Fazit:
Fällt die Entscheidung – aus welchen Gründen auch immer – dahingehend, dass der Mandant zum Tatvorwurf schweigen soll, so sollte er dies grundsätzlich umfassend tun. Der Anwalt für Strafrecht wird ihm raten, dass er dann schlicht erklären solle, er mache von seinem Recht zu Schweigen Gebrauch und werde sich nicht zur Sache einlassen.

Und "Cherry-Picking" ist unser "Rosinenpflücken".
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 20.11.2023 um 21:38 Uhr (Zitieren)
"Das Recht zu Schweigen" ist ein etwas peinlicher Rechtschreibfehler. Ob die eine Editierfunktion haben?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 21.11.2023 um 14:45 Uhr (Zitieren)
Der Deutschsprachige pickt im Sprachvergleich offensichtlich als einziger Rosinen (aus einem Kuchen oder dergleichen, der im Bild das Ganze eines Sachverhalts, Datensatzes, Angebots usw., aus dem gewählt wird, repräsentiert), er pflückt sie nicht, die Trauben werden gewöhnlich erst nach der Ernte getrocknet, und dies mindestens seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (Die Prätensionen und Selbstüberhebungen Einzelner grenzen an das Unglaubliche. Wie Kinder aus dem Kuchen nur die Rosinen picken, haschen sie nur nach den sogenannten Prachtrollen [Deutsche Musik-Zeitung, Nr.9 1874, S. 3])

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 21.11.2023 um 14:53 Uhr (Zitieren)
If the fool would persist in his folly, he would become wise


William Blake: Proverbs of Hell in: Poems (Everyman's Library Pocket Poets Series), S. 184)
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udo schrieb am 21.11.2023 um 15:00 Uhr (Zitieren)
If the fool would persist in his folly, he would become wise

Wie soll man das verstehen?
Wie: minus mal minus = plus?
Wo ist die Pointe?
Wo soll das zutreffen?
Defacto bleibt er ein Narr, oder?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 21.11.2023 um 15:25 Uhr (Zitieren)
Man kann es einerseits als Ausdruck der Vorstellung lesen, dass eine bis zur bitteren Neige in all ihren Konsequenzen beharrlich verfochtene Narretei einen unvermeidlichen Lernprozess darstellt, aus dem der Narr am Ende geläutert, also weise hervorgeht.


Oder aber, wie James Joyce etwa, der Blakes proverb öfter zitierte, als Wandlung der Einschätzung der Umgebung, die am Ende anerkennt, dass der gegen alle Widerstände hartnäckig an seiner vermeintlichen Torheit, im Falle des Dubliners an seiner Vorstellung eines neuen literarischen Stils, Festhaltende gar kein Spinner oder armer Irrer ist.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Udo schrieb am 21.11.2023 um 16:37 Uhr (Zitieren)
Man kann es einerseits als Ausdruck der Vorstellung lesen, dass eine bis zur bitteren Neige in all ihren Konsequenzen beharrlich verfochtene Narretei einen unvermeidlichen Lernprozess darstellt, aus dem der Narr am Ende geläutert, also weise hervorgeht.

In wieviel Fällen von 100?
Welche Art von Narr kommt infrage oder Blake vor Augen?
Ich gehe von wirklichen Narren aus, wobei die Frage nach der Definition bleibt.
Irgendwie ist jeder ein Narr, oder? Wer hat keine Illusionen oder Utopien im Kopf?

Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 21.11.2023 um 17:30 Uhr (Zitieren)
Aus Schaden wird auch nicht jeder klug. Will sagen, Geltungsansprüche von Sprichwörtern sind nicht so total, dass sie durch Gegenbeispiele als widerlegt gelten und einfach aus der Welt geschafft werden.

Blakes fingiertes proverb bleibt entsprechend vage, aber es liegt wohl auf der Hand, dass es hier schwerlich um kleine Narrheiten, liebgewonnene Illusionen usf. geht, auf denen zu beharren keine umfassenden physischen oder sozialen Kosten mit sich bringt. Ist nebenbei unsere Epoche nicht besonders eifrig darin, die Narrheit von ihren Konsequenzen trennen zu wollen?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 22.11.2023 um 23:52 Uhr (Zitieren)
Neuerscheinung:
Alexander Max Bauer, Gregor Damschen, Mark Siebel (Hrsg.)

Paradoxien
Grenzdenken und Denkgrenzen von A(llwissen) bis Z(eit)

Paderborn 2024 [sic!]
250 Seiten
79,00 Euro

Die einzelnen Beiträge diskutieren die
1. Paradoxien der Wahrheit (Das Lügnerparadox)
2. Paradoxien des Unendlichen (Cantor und die Folgen)
3. Paradoxien der Stützung (Das Rabenparadox)
4. Paradoxien der Vagheit (Das Soritesparadox)
5. Paradoxien der Quantenmechanik (Das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox)
6. Paradoxien der Zeit (Das Zwillingsparadox)
7. Paradoxien der Bildlichkeit (Unmögliche Konstruktionen und optische Täuschungen)
8. Paradoxien des Auditiven? (Ambiguitäten und Diskrepanzen beim Hören und in der Musik)
9. Philosophische Paradoxien und ihre Therapie (Wittgenstein und die "therapeutische" auflösung philosophischer Probleme)
10. Paradoxie und Parakonsistenz
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Aurora schrieb am 23.11.2023 um 09:52 Uhr (Zitieren)
Der Preis ist ein Hammer.
79 Euro für 250 Seiten.

Wie lässt er sich rechtfertigen?

https://de.wikipedia.org/wiki/Mentis-Verlag
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.11.2023 um 14:40 Uhr (Zitieren)
Ich kann nur hinzufügen, daß das Buch auf eine Ringvorlesung an der Universität Oldenburg zurückgeht und diese Universität das Buch finanziell unterstützt hat. D.h. der Verlag hat sich einen Druckkostenzuschuß zahlen lassen, wie er bei Sach- und Fachbüchern allmählich zur Regel wird.
Dennoch ein solcher Preis!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.11.2023 um 14:42 Uhr (Zitieren)
Es handelt sich übrigens um einen kartonierten Band und ist insofern durchaus vergleichbar mit meinem Buch zum Thema Paradoxien, dessen Preis von 39 Euro ich schon abschreckend fand.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.11.2023 um 14:44 Uhr (Zitieren)
Sach- und Fachbücher sind die Verlierer in der Konkurrenz mit dem Internet. Wenn jemand etwas über Paradoxien wissen will, was tut er dann? Kauft er ein Buch zum Thema?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 23.11.2023 um 16:01 Uhr (Zitieren)
Ach, das böse Internet. Ich dachte bisher, ein wesentlIcher Grund wäre, dass ein Verlag wie (mittlerweile) De Gruyter Brill als Oligopolist im Sektor geisteswissenschaftlicher Publikationen operiert und durch Steuergeld (und Vermögenskonstruktionen von elitären Privatuniversitäten) finanzierte Wissensproduktion mit auf dieselbe Weise finanzierten Hauptabnehmern kurzschließt, dabei auch Teile von Open Access kontrolliert, wobei von den Autoren article processing charges eingehoben werden, die wiederum … Man lernt nie aus.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.11.2023 um 16:06 Uhr (Zitieren)
Das mag so sein.
Aber auch das gilt:
Wenn jemand etwas über Paradoxien wissen will, was tut er dann? Kauft er ein Buch zum Thema?

Beide Verhaltensweisen schließen einander nicht aus.
Wer hier kauft noch Sachbücher, statt sich im Netz zu informieren?
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 23.11.2023 um 17:32 Uhr (Zitieren)
Ich erinnere mich an einen Artikel in der FAZ zur letzten Frankfurter Buchmesse über den Stand von de Gruyter: Kein einziges aktuelles Buch wurde dort vorgestellt!
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 23.11.2023 um 20:55 Uhr (Zitieren)
Ich kaufe sehr wohl Sach- und Fachbücher, aber tatsächlich eher selten welche, deren Seitenpreis 30 Cent übersteigt.

Ich bezweifle indes, dass, vorausgesetzt an dem Geschäftsmodell ändert sich nicht grundsätzlich etwas, in einem Fall wie diesem bedeutend vermehrte Käufe durch außerhalb oder am Rande des tertiären Buldungssektors stehende Interessenten irgendetwas an der Preisgestaltung änderte.

Es gibt unter besagten ökonomischen Voraussetzungen keinen Anreiz, um sie zu werben, preisliche Rücksicht auf sie würde die Preisgestaltungsmacht bei den Hauptabnehmern eher unterminieren. Letztere haben außerdem große Budgets und sind in ihren Kaufentscheidungen verhältnismäßig unfrei und beständig.

Um sich einmal die Verhältnisse anhand eines wirklich großen Players klarzumachen: Elsevier’s profit margin (37.8%) can be compared with that of Google (21.2%) or Apple (24.56%). (Zahlen von 2022). Das gefährdet doch niemand ohne Not, indem er sich nach anderer Kundschaft umsieht.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 23.11.2023 um 21:04 Uhr (Zitieren)
*Ich bezweifle indes, dass, vorausgesetzt an dem Geschäftsmodell ändert sich nicht grundsätzlich etwas, in einem Fall wie diesem bedeutend vermehrte Käufe durch außerhalb oder am Rande des tertiären Bildungssektors stehende Interessenten irgendetwas an der Preisgestaltung änderten.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
filix schrieb am 04.12.2023 um 21:04 Uhr (Zitieren)
To H———

Thy friendship oft has made my heart to ache,
Do be my enemy - for friendship's sake.


An H———

Deine Freundschaft stürzte oft mein Herz in Pein,
Um ihretwillen fleh' ich dich an, mein Feind zu sein.



(William Blake, zitiert nach Leo Damrosch: Eternity's Sunrise - The Imaginitive World of William Blake, S. 132)

Biographischer Hintergrund ist das angespannte Verhältnis zu seinem Gönner Hayley, an den die bissigen Verse gerichtet sind. Dieser hat ihn, an einem Tiefpunkt angekommen, aufgefangen und mit der Aussicht auf neue Arbeitsmöglichkeiten und Anerkennung zu einem Umzug von London nach Felpham überredet. Er entpuppt sich allerdings zunehmend als aufdringlicher und zu kontrollierendem Verhalten neigender Charakter, der sich seine Wohltaten in beständig zum Ausdruck gebrachter Dankbarkeit abstottern lässt.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 05.12.2023 um 12:38 Uhr (Zitieren)
Das ist gut. Im Englischen kommt es besser rüber.
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Johannes schrieb am 05.12.2023 um 17:29 Uhr (Zitieren)
Ein interessanter Denker:

Einer von Blakes stärksten Einwänden gegen die christliche Lehrmeinung war, dass sie für die Unterdrückung natürlichen Begehrens und gegen lebendige Sinnesfreude Position bezog. Blake glaubte, dass die Freude der Menschen ein Lobpreis Gottes sei, und dass die „lebensverneinenden“ Religionen der Welt und damit auch die rechtgläubigen Christen in Wirklichkeit Satan anbeteten. Er hielt Satan für eine Verkörperung des Irrtums und eines „Todeszustands“.

Blake stellte sich theologischer Sophisterei entgegen, die Schmerzen verteidigt, Böses zulässt und Ungerechtigkeiten entschuldigt. Er verabscheute Selbstverleugnung, die er gedanklich in Verbindung mit religiös motivierter und insbesondere mit sexueller Unterdrückung brachte


Mit seinen Vorstellungen wandte sich Blake nicht nur gegen die orthodoxe Ordnung der Aufklärung, sondern ebenso gegen die Konzeption des fernen, übermächtigen Gottes der anglikanischen Church of England und des Deismus
Re: Paradoxien, nicht nur aus der Antike #2
Γραικύλος schrieb am 07.12.2023 um 23:44 Uhr (Zitieren)
Nach über vier Jahren, über 10000 Aufrufen und vielen Beispielen schließe ich der Übersichtlichkeit halber diesen Thread und eröffne #3.
 
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